E-Book, Deutsch, 140 Seiten
Gallico Die Liebe der kleinen Mouche
Neuausgabe 2014
ISBN: 978-3-8251-6007-4
Verlag: Urachhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 140 Seiten
ISBN: 978-3-8251-6007-4
Verlag: Urachhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mouche, ein junges Mädchen aus der Bretagne, sieht ihr Leben als gescheitert an - mit erst 22 Jahren. Und so läuft sie durch das nächtliche Paris, das ihre Träume von einer Schauspielkarriere nicht zur Wahrheit werden lassen wollte, und hat nur noch ein Ziel: die Seine. Glücklicherweise führt ihr Weg an einem Jahrmarkt vorbei, wo ein paar Handpuppen sie aus ihrer Bude heraus ansprechen - und noch am selben Abend gehört sie der Truppe an. Die Liebe, die sie von den Handpuppen erfährt und ihnen schenkt, gibt ihr wieder neue Kraft zu leben. Warum aber ist der Puppenspieler, der doch alle seine Figuren führt, selbst nicht in der Lage, ihr gegenüber seine Gefühle zu zeigen?
Mit der zauberhaften Geschichte der kleinen Mouche, die sich nichts lieber wünscht, als in Paris ihr Glück zu finden, erlangte Paul Gallico internationale Anerkennung.
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Erster Teil Zweiter Teil Dritter Teil
An einem Tag im Frühling war ein junges Mädchen in Paris drauf und dran, sich in die Seine zu stürzen, ein schmächtiges, unbeholfenes Ding mit breitem Mund und kurzgeschnittenem schwarzem Haar. Ihr Körper war nichts als Haut und Knochen, wo Polster und Rundungen hätten sitzen müssen. Hunger und die Not der Enttäuschungen hatten ihr ansprechendes Gesicht hager werden lassen, und die großen gehetzten Augen blickten trostlos und voller Verzweiflung. Ihr Name war Marelle Guizec, doch alle nannten sie Mouche. Sie war Waise und stammte aus der Bretagne, dem Dorf Plouharg bei St. Brieuc. Wie elend sie auch sein mochte, etwas von den Rätseln dieses geheimnisvollen Landes haftete ihr noch immer an. Das zeigte sich in der Anmut, mit der sie ging, als trage sie noch die schwingenden Bauernröcke, in dem Ernst ihrer Blicke und dem reinen, einfältigen Gemüt, in dem es bei all ihrer Jugend, sie war erst zweiundzwanzig, dunkle Tiefen gab – ein Erbteil ihrer keltischen Abstammung –, die sie nun in den Tod trieben. Sie wollte sterben. Wie manches junge Mädchen aus der Provinz war sie nach Paris gekommen, um ihr Glück beim Theater zu versuchen; doch alles war kläglich fehlgeschlagen. Und wahrhaftig kümmerte sich keine Seele auf der Welt darum, was jetzt aus ihr wurde, nachdem selbst ein so billiges Tingeltangel wie die Moulin Bleu Revue sie als unfähig, die Kundschaft anzuregen oder ihre Lust zu erwecken, entlassen hatte. Sie besaß keinen einzigen Freund. Und die kümmerlichen paar Francs, die sie noch zu bekommen hatte, würden nur wenige Tage reichen, um Essen und Nachtquartier zu bezahlen. Danach musste sie verhungern oder sich verkaufen. Erinnert ihr euch noch an jenen Mai in Paris, als der Frühling so zeitig kam und die riesigen Kerzen der blühenden Kastanienbäume die prächtige Stadt festlich erleuchteten? Die sonnenüberfluteten Tage waren warm, aber die Nächte noch kalt und oft windig. Tagsüber spielte Paris Sommer; die Kinder kamen mit ihren Pflegerinnen zum Rond Point, der Duft parfümierter Frauen hing über den Boulevards, die bunten Läden funkelten im Sonnenschein; und der Himmel stand wie ein Baldachin von jenem besonderen Blau, das es nirgends sonst zu geben scheint, über Frankreich. Doch am Abend trieb die Kälte die Leute von der Straße. Aus diesem Grunde rüstete man sich auf dem Frühjahrsrummel hinter dem Pont Neuilly, zusammenzupacken und enttäuscht weiterzuziehen, denn man hatte erwartet, nach Einbruch der Dunkelheit das beste Geschäft zu machen. Eine grell leuchtende Kette nackter Glühbirnen und blakender Benzinlampen zog sich auf einer Seite der Avenue General de Gaulle vom Rond Point de la Defense bis zu der Seinebrücke hin, die den Westzugang nach Paris bildete. Der Jahrmarktslärm mit dem Geschrei der Ausrufer, der Karussellmusik, dem Glockengeläute und dem Geknalle an den Schießbuden hatte den prosaischeren Geräuschen des Abbaus Platz gemacht, dem Hämmern und Sägen, dem dumpfen Aufprallen herabfallender Bretter und Blechplatten; das Dröhnen der schweren Planken, die auf die Lastwagen geworfen wurden, übertönte auch den letzten Musikautomaten. Nur noch ein paar abgehärtete Nachzügler trotzten dem scharfen Wind und lungerten zwischen den zusammenfallenden Buden und Zelten, den Luftschaukeln und Kettenkarussells herum. Bis zum Morgen würde nichts als verstreute Papierschnitzel und Strohhalme auf der Straße und die zertrampelten Stellen auf der Erde neben der breiten Avenue anzeigen, wo der Jahrmarkt gewesen war. In dem zugigen, mit Segeltuch umgebenen Viereck, das den fröstelnden Mädchen der Moulin Bleu Revue als Garderobe diente, zog sich Mouche, nachdem sie die paar dürftigen Fetzen ihrer geliehenen Kostüme zurückgegeben hatte, an und dachte zum letztenmal darüber nach, wie ihre Hoffnungen gescheitert waren. Die billige Entkleidungsschau packte zusammen, um nach St. Germain weiterzuziehen, doch Mouche war nicht einmal gut genug gewesen, diese Stelle zu halten und mitzufahren. Nach Schluss der letzten Vorstellung dieses Abends hatte der Direktor sie entlassen und gesagt: »Zu dünn, mein Kind, zu dünn. Bei unsern Mädeln kommt’s auf mehr Fleisch und Saft an. Ich habe gehört, wie jemand aus dem Publikum von dir sagte: ›Da kommt wieder das gerupfte Hühnchen.‹ Tut mir Leid, aber bei dir reicht’s nicht. Wenn ein Mädel weder singen noch tanzen kann, muss wenigstens was an ihm dran sein.« Das war richtig. Mouche erregte eher Mitleid als Verlangen. Ihre Geschichte war die übliche von dem theaterbesessenen Mädchen, das der Erfolg bei einer Dilettantenaufführung im Dorf ermutigt hatte. Während des Krieges verlor sie ihre Eltern und lebte bei einer Großtante, die, als Mouche kaum sechzehn war, ebenfalls starb. Damals war sie nach St. Brieuc gegangen und hatte eine Stelle als Reinemachemädchen im Rathaus angenommen und ihren Lohn gespart, bis es für die Reise nach Paris reichte. Und dort musste sie sich nun mit der Tatsache abfinden, dass weder Talent noch äußere Erscheinung ihren Ehrgeiz unterstützen konnten. Gemeine Männer hatten sie betatscht und Agenten und Direktoren sie entblößt; sie hatten die Handelsware ihres Körpers geprüft, schließlich gelacht und sie unversehrt hinausgeworfen, weil Unschuld und Reinheit ihr Gewissen beleidigten und sie nichts damit zu tun haben wollten. Gelegentlich war es ihr gelungen, in den Kabaretts von Pigalle und Montmartre einmal auf Probe zu arbeiten, und das hatte sie vor dem Verhungern bewahrt, aber nie war sie fähig, ein Engagement zu halten; und da sie es immer billiger geben musste, war sie schließlich bei der Entkleidungsrevue auf dem Rummelplatz gelandet und nun selbst für diese jämmerlichste Art der Unterhaltung als ungeeignet entlassen worden. Nicht einmal diesem groben Publikum, das sich dicht an dicht für ein paar Francs lüstern durch das Zelt schob, konnte ihr Körper eine einzige einsame Illusion verschaffen. Das war der Grund, weshalb sie beschloss, ihrem Leben ein Ende zu machen, denn die Entlassung hatte deutlich gezeigt, dass sie selbst dann, wenn sie sich, um nicht zu verhungern, verkaufen wollte, keine Käufer gefunden hätte. Mouche blickte sich noch einmal nach den schwatzenden Mädchen um, die wenigstens dafür gut genug waren, über eine Bretterbühne zu stolzieren und Männer zum Johlen, Lachen oder Pfeifen zu bringen. Dann suchte sie ihre paar Habseligkeiten zusammen und packte sie in den kleinen Strohkoffer, den sie in dem Glauben, mit den andern im Bus zum nächsten Aufbauplatz zu fahren, mitgebracht hatte. Sie würde die Sachen nie wieder brauchen, aber trotzdem brachte sie es nicht über sich, sie aufzugeben. Den Strohkoffer würde man am Geländer des Pont Neuilly finden, wenn am Morgen die Polizei mit langen Stangen käme, um ihren Körper aus der Seine zu fischen. Sie nahm ihr Gepäck auf und ging, ohne sich noch einmal umzusehen, aus dem Zelt. Es schien, als sei in der Voraussicht ihrer Begegnung das Licht in ihren Augen schon erloschen. An der Art, wie sie ihre schmächtigen Schultern hängen ließ, erkannte man in Paris die vom Schicksal geschlagenen, lebensmüden Mädchen … Gerade da tauchte der Direktor auf, und als er das sah, war er einen Augenblick von Mitleid bewegt und versucht, seine Entscheidung rückgängig zu machen. Aber er zögerte. Wohin käme man, wenn man mit jeder kleinen Vogelscheuche aus der Provinz Mitleid hätte? Und doch war etwas Reizvolles an der Kleinen. Das hatte er gespürt. Nicht das, was das Publikum wollte, aber dennoch – wenn man nur erst wüsste, was … Doch bis er sich entschlossen hatte, seiner besseren Natur nachzugeben, und »’allo, Mouche« und »Wart mal! Komm zurück! Vielleicht …« rief, war sie schon verschwunden. Mouche, die, ohne etwas zu sehen, so als sei sie bereits tot, in Richtung Seine ging, dachte einen Augenblick an ihre Kindheit in der Bretagne und sah wieder, wie die blaugrünen Wogen weiß aufschäumend sich an den schwarzen Felsen brachen; sie sah die sonnigen Felder, durch bucklige Steinwälle voneinander getrennt, und die Flammen des Klatschmohns, aus deren Mitte sich die alten Steinkreuze und die noch älteren Druidenmäler hoben. Fischerboote kämpften sich heimwärts, Kinder spielten im Sand, der Briefträger fuhr vorüber, Frauen blieben zu einem Plausch vor dem Bäckerladen stehen, und einen Augenblick lang roch Mouche das frische Brot und die knusprigen Semmeln. Sie war wieder in der Kirche und hörte das Knistern der gestärkten Hauben und das Seufzen der Orgel. Bruchstücke alter Weisen zogen ihr durch den Sinn, und sie sah, wie die abgearbeiteten Hände der Mutter ihr das Kleid für die Erstkommunion zurechtmachten. Erinnerungen tauchten auf: an frühere Freundinnen, an ein graues Kaninchen, das ihr einmal gehört hatte, an eine Schildkröte, an eine gelbe Katze und eine Ente mit nur einem Bein. Sie entsann sich der Augen fantastischer Wesen, die dann und wann, nicht einmal unfreundlich, aus der Tiefe der Hecken...