Gaiman | Niemalsland | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

Gaiman Niemalsland

Roman

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

ISBN: 978-3-7325-3274-2
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Richard Mayhew führt ein unaufgeregtes Leben in London, bis ihm eines Tages ein verletztes Mädchen direkt vor die Füße fällt und ihn um Hilfe bittet. Richard willigt ein und gerät dadurch in ein Abenteuer, das er sich in seinen Träumen nicht hätte vorstellen können. Denn Door ist kein gewöhnliches Mädchen, sondern gehört zum verborgenen Reich von 'Unter-London'. Mit ihr landet Richard in einer Welt, die weit seltsamer und gefährlicher ist, als alles, was er vorher kannte.

Neil Gaiman hat über 20 Bücher geschrieben, darunter Romane, Drehbücher und Comics, und ist mit jedem großen Preis ausgezeichnet worden, der in der englischen und amerikanischen Buch- und Comicszene existiert. Sein Roman Niemalsland ist 1998 das erste Mal in Deutschland veröffentlicht worden und liegt nun erstmals als erweiterte Fassung vor. Gaiman ist geboren und aufgewachsen in England, inzwischen lebt er in Cambridge, Massachusetts.

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1
Sie war jetzt vier Tage gerannt, eine überstürzte Flucht, Hals über Kopf durch endlose Gänge und Tunnel. Sie war hungrig und erschöpft, und müder, als ein Körper ertragen konnte, und jede Tür, an die sie kam, war schwieriger zu öffnen als die vorige. Nach vier Tagen Flucht fand sie ein Versteck, eine winzige steinerne Höhle unterhalb der Welt, wo sie sicher sein würde, jedenfalls betete sie darum, und dann endlich schlief sie. Mr. Croup hatte Ross beim letzten Schwimmenden Markt angeworben, der in der Westminster Abbey stattgefunden hatte. »Betrachten Sie ihn«, erklärte er Mr. Vandemar, »als einen Kanarienvogel.« »Er kann singen?«, fragte Mr. Vandemar. »Das bezweifle ich; das bezweifle ich aufrichtig und absolut.« Mr. Croup fuhr sich mit der Hand durch das strähnige, orangefarbene Haar. »Nein, mein guter Freund, ich meinte das metaphorisch – eher im Sinne der Vögel, die man mit in die Minen nimmt.« Mr. Vandemar nickte, langsam setzte das Verständnis ein: Ja, ein Kanarienvogel. Mr. Ross wies keinerlei Ähnlichkeit mit einem Kanarienvogel auf. Er war riesig – fast so groß wie Mr. Vandemar – und extrem schmutzig, und recht unbehaart, und er sprach sehr wenig, obwohl es ihm wichtig zu sein schien, ihnen beiden zu erklären, dass er gern Dinge tötete und dass er gut darin war. Das amüsierte Mr. Croup und Mr. Vandemar, so wie Dschingis Khan vielleicht die Prahlerei eines jungen Mongolen amüsiert hätte, der gerade sein erstes Dorf geplündert oder seine erste Jurte niedergebrannt hatte. Er war ein Kanarienvogel, und er wusste es nicht. Also ging Mr. Ross voran, in seinem siffigen T-Shirt und seiner dreckverkrusteten Jeans, und Croup und Vandemar folgten ihm in ihren eleganten schwarzen Anzügen. Es gibt vier einfache Möglichkeiten für den Betrachter, Mr. Croup und Mr. Vandemar auseinanderzuhalten: Erstens ist Mr. Vandemar zweieinhalb Köpfe größer als Mr. Croup; zweitens ist die Farbe von Mr. Croups Augen ein verblasstes Kobaltblau, während Mr. Vandemar braune Augen hat; drittens trägt Mr. Vandemar an der rechten Hand Ringe, die er aus den Schädeln von vier Raben gefertigt hat, und Mr. Croup trägt keinen sichtbaren Schmuck; viertens mag Mr. Croup Worte, während Mr. Vandemar immerzu hungrig ist. Und außerdem sehen sie sich überhaupt nicht ähnlich. Ein Rascheln in der Dunkelheit des Tunnels und Mr. Vandemars Messer war in seiner Hand, und dann war es nicht mehr in seiner Hand, sondern erzitterte sanft in gut neun Metern Entfernung. Er ging zu seinem Messer und nahm es am Griff auf. Eine graue Ratte war auf die Klinge gespießt, und ihr Mund ging kraftlos auf und zu, während das Leben aus ihr entwich. Er zerquetschte ihren Schädel zwischen Finger und Daumen. »Das ist eine Ratte, die niemanden mehr verratten wird.« Mr. Croup schmunzelte über seinen eigenen Witz. Mr. Vandemar zeigte keine Reaktion. »Ratte. Verratten. Verstehen Sie?« Mr. Vandemar zog das Tier von der Klinge und biss hinein, nachdenklich, in den Kopf. Mr. Croup schlug sie ihm aus den Händen. »Hören Sie auf damit.« Ein wenig missmutig steckte Mr. Vandemar sein Messer weg. »Kommen Sie«, zischte Mr. Croup aufmunternd. »Die nächste Ratte folgt bestimmt. Jetzt: vorwärts. Dinge erledigen. Leuten wehtun.« Drei Jahre in London hatten Richard nicht verändert, obwohl sie die Art und Weise verändert hatten, wie er die Stadt wahrnahm. Richard hatte sich London ursprünglich als eine graue Stadt vorgestellt, eine schwarze Stadt sogar, den zuvor gesehenen Bildern entsprechend, und war überrascht gewesen, dass sie voller Farben war. Es war eine Stadt aus roten Ziegeln und weißen Steinen, roten Bussen und großen, schwarzen Taxis (die zu Richards anfänglichem Erstaunen oft gold oder grün oder kastanienbraun waren), leuchtend roten Briefkästen und grasgrünen Parks und Friedhöfen. Es war eine Stadt, in der das sehr Alte und das unbeholfen Neue aufeinanderstießen, nicht aggressiv, aber respektlos; eine Stadt der Läden und Büros und Restaurants und Wohnungen, der Parks und Kirchen, der unbeachteten Denkmäler und auffallend unpalasthaften Paläste; eine Stadt aus Hunderten von Bezirken mit komischen Namen – Crouch End, Chalk Farm, Earls Court, Marble Arch – und sonderbar ausgeprägten Identitäten; eine laute, dreckige, fröhliche, unruhige Stadt, die sich von Touristen ernährte, sie genauso sehr brauchte wie verachtete; in der sich die durchschnittliche Fortbewegungsgeschwindigkeit seit dreihundert Jahren nicht verbessert hatte, nachdem fünfhundert Jahre lang in unregelmäßigen Abständen die Straßen verbreitert und unbeholfene Kompromisse getroffen worden waren zwischen den Bedürfnissen des Straßenverkehrs – ob von Pferden gezogen oder unlängst motorisiert – und den Bedürfnissen der Fußgänger; eine Stadt, die von den verschiedensten Menschen sämtlicher Hautfarben nur so wimmelte. Als er hergezogen war, war ihm London wie etwas Riesiges, Seltsames, ganz und gar Unbegreifliches vorgekommen, dem nur der U-Bahn-Plan, diese elegante, vielfarbige topografische Darstellung der unterirdischen Bahnlinien und Haltestellen, einen Anschein von Ordnung verlieh. Nach und nach begriff er, dass der U-Bahn-Plan eine nützliche Erfindung war, die das Leben einfacher machte, jedoch keinerlei Ähnlichkeit mit der Realität der Stadt darüber aufwies. Es war, wie einer politischen Partei anzugehören, hatte er einmal stolz gedacht – doch nachdem er auf einer Party versucht hatte, einem Haufen verwirrter Fremder die Ähnlichkeit zwischen dem U-Bahn-Plan und Politik zu erklären, hatte er beschlossen, politische Kommentare in Zukunft anderen zu überlassen. Ganz langsam, durch einen Prozess der Osmose und des weißen Wissens (was so ähnlich wie weißes Rauschen ist, bloß informativer), fing er an, die Stadt zu verstehen, ein Prozess, der sich beschleunigte, als er begriff, dass die eigentliche City of London nicht größer war als eine Quadratmeile und sich von Aldgate im Osten bis zur Fleet Street und den Gerichtshöfen von Old Bailey im Westen erstreckte – ein winziger Bezirk, der jetzt Londons Finanzinstitute beheimatete und wo alles angefangen hatte. Zweitausend Jahre zuvor war London ein kleines keltisches Dorf am nördlichen Ufer der Themse gewesen, das die Römer entdeckt und wo sie sich angesiedelt hatten. London war langsam gewachsen, bis es gut tausend Jahre später auf die winzige Königsstadt Westminster im Westen traf, und nachdem die London Bridge gebaut worden war, traf London auf die Stadt Southwark auf der anderen Seite des Flusses; und es wuchs weiter, Felder und Wälder und Marschland verschwanden langsam unter der florierenden Stadt, die sich weiter ausbreitete und im Wachsen mit anderen kleinen Orten und Dörfern zusammentraf, wie Whitechapel und Deptford im Osten, Hammersmith und Sheperd’s Bush im Westen, Camden und Islington im Norden, Battersea und Lambeth jenseits der Themse im Süden. Im Wachsen saugte London all diese Städte in sich auf, so wie eine Pfütze Quecksilber sich kleinere Tröpfchen Quecksilber einverleibt, denen sie begegnet, und schließlich blieben nur ihre Namen. London wuchs zu etwas Riesigem und Widersprüchlichem. Es war ein guter Ort und eine feine Stadt, doch jeder gute Ort hat seinen Preis, und alle guten Orte haben einen Preis zu zahlen. Nach einer Weile nahm Richard London als selbstverständlich hin; er fing an, darauf stolz zu sein, sich keine der Sehenswürdigkeiten Londons angesehen zu haben (bis auf den Tower of London, als seine Tante Maude für ein Wochenende in die Stadt kam und Richard sich in der Rolle ihres unfreiwilligen Begleiters wiederfand). Jessica änderte das. Richard erwischte sich dabei, wie er sie an eigentlich ganz vernünftigen Wochenenden an Orte wie die National Gallery und die Tate Gallery begleitete, wo er die Erfahrung machte, dass langes Durchs-Museum-laufen den Füßen wehtat, dass die großen Kunstschätze dieser Welt nach einer Weile allesamt miteinander verschwammen, und dass es beinahe die menschliche Auffassungsgabe überstieg, welch unverschämte Summen die Museumscafés für ein Stück Kuchen und eine Tasse Tee verlangten. »Hier ist dein Tee und dein Eclair«, sagte er. »Einen dieser Tintorettos zu kaufen wäre billiger gewesen.« »Übertreib nicht«, sagte Jessica gut gelaunt. »Außerdem gibt es in der Tate gar keine Tintorettos.« »Ich hätte den Kirschkuchen nehmen sollen«, sagte Richard. »Dann könnten sie sich jetzt noch einen van Gogh leisten.« »Nein«, wies ihn Jessica zurecht, »könnten sie nicht.« Richard hatte Jessica in Frankreich kennengelernt, auf einer Wochenendreise nach Paris zwei Jahre zuvor; er hatte sie tatsächlich im Louvre entdeckt, als er auf der Suche nach der Gruppe von Kollegen war, die den Ausflug organisiert hatten. Er blickte zu einer gewaltigen Skulptur auf und stieß rückwärts gegen Jessica, die gerade einen extrem großen und historisch bedeutenden Diamanten bewunderte. Er versuchte, sich auf Französisch bei ihr zu entschuldigen, was er nicht beherrschte, gab deshalb den Versuch auf und entschuldigte sich auf Englisch, und dann versuchte er, sich auf Französisch dafür zu entschuldigen, dass er sich auf Englisch entschuldigen musste, bis er bemerkte, dass Jessica ungefähr so englisch war, wie es ein einzelner Mensch nur sein konnte, und schon ließ sie sich von ihm als Wiedergutmachung ein teures französisches Sandwich und ein Gläschen überteuerte Apfelschorle kaufen, und, tja, so fing es an. Danach war es ihm nicht mehr gelungen, Jessica davon zu...


Gaiman, Neil
Neil Gaiman hat über 20 Bücher geschrieben, darunter Romane, Drehbücher und Comics, und ist mit jedem großen Preis ausgezeichnet worden, der in der englischen und amerikanischen Buch- und Comicszene existiert. Sein Roman Niemalsland ist 1998 das erste Mal in Deutschland veröffentlicht worden und liegt nun erstmals als erweiterte Fassung vor. Gaiman ist geboren und aufgewachsen in England, inzwischen lebt er in Cambridge, Massachusetts.

Neil Gaiman hat über 20 Bücher geschrieben, darunter Romane, Drehbücher und Comics, und ist mit jedem großen Preis ausgezeichnet worden, der in der englischen und amerikanischen Buch- und Comicszene existiert. Sein Roman Niemalsland ist 1998 das erste Mal in Deutschland veröffentlicht worden und liegt nun erstmals als erweiterte Fassung vor. Gaiman ist geboren und aufgewachsen in England, inzwischen lebt er in Cambridge, Massachusetts.


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