Gätje / Singh | Europadiskurse in der Gegenwartsliteratur des vergangenen Jahrzehnts | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 9, 156 Seiten

Reihe: Passagen

Gätje / Singh Europadiskurse in der Gegenwartsliteratur des vergangenen Jahrzehnts


1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7720-0249-6
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, Band 9, 156 Seiten

Reihe: Passagen

ISBN: 978-3-7720-0249-6
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In der vergangenen Dekade war die Idee der europäischen Integration zunehmender Kritik ausgesetzt. Nationalistische Bestrebungen haben in den meisten Ländern der Europäischen Union an Akzeptanz gewonnen, was sich schließlich im Austritt eines der großen Staaten, dem Vereinigten Königreich (2016/20), manifestierte. Der Band erkundet Möglichkeiten und Bedingungen des Diskurses über Europa in der Literatur der letzten Jahre. Ein Augenmerk liegt dabei auf divergenten Perspektiven: Literarische Texte spiegeln unterschiedliche Europa-Erfahrungen. Es finden sich Verarbeitungen unmittelbarer Erlebnisse von Menschen, die aus Regionen an Grenzen stammen und deren tägliches Leben dadurch von der europäischen Politik bestimmt ist. Auf einer anderen Ebene thematisieren Texte zunehmend Migrationserfahrungen von Menschen, die innerhalb Europas ihre Lebensorte wechseln oder nach Europa flüchten.

Dr. Hermann Gätje ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass an der Universität des Saarlandes. Prof. Dr. Sikander Singh lehrt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes und ist Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass.

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III. Gedanken des ‚Parade-Europäers‘ Stefan Zweig
Dies gilt grundsätzlich auch für die Europa-?Vision Stefan Zweigs, der sich mit Hofmannsthal darin einig ist, dass das griechisch-?römische Erbe die Basis für Europa sei. Nichtsdestotrotz firmiert Zweig, der „schon zu Lebzeiten als großer Europäer“ galt, auch heute noch als Parade-?Europäer, der „die Ideale des Pazifismus, der Humanität und des Europäertums, die für ihn gern gebrauchte tönende Worthülsen“, vertreten habe, wie es Ulrich Weinzierl formuliert. Zweig habe, so Weinzierl weiter, mit seiner Autobiographie „das literarische Gründungsdokument der Idee Europa in deutscher Sprache“ verfasst, bei Die Welt von Gestern handele es sich um „die Memoiren des ersten Europäers“. Zweigs Idee von Europa, die eine vor allem kulturgeschichtliche ist, beginnt sich in den 1920er Jahren zu formieren. Sie mündet in der durchaus als fortschrittsoptimistisch zu bezeichnenden Überzeugung, dass es gelte, die Nationalismen zu überwinden, um dauerhaften Frieden in einem vereinten Europa zu garantieren. Zweigs Idealvorstellung für Europa besteht in dessen Einheit – so war er etwa der Pan-?Europa-?Bewegung Richard Coudenhove-?Kalergis gegenüber deutlich aufgeschlossen. Gleichwohl gilt es, den Autor für seine europäische Haltung nicht zu idealisieren, denn auch Zweig kennt die Begeisterung zu Beginn des Ersten Weltkriegs und eine nationale Gesinnung bei zugleich kritisch-?pazifistischen Äußerungen, wodurch seine Haltung in dieser Zeit als eine zumindest ambivalente zu charakterisieren ist. Zu den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs kommt bei Zweig noch die Zeitgenossenschaft zum Zweiten Weltkrieg hinzu, die ihn von den nationalen Tönen der Jahrhundertwende abrücken lässt und zu einer Hinwendung zu Pazifismus und der Idee Europa als Einheit führen. Dies äußert sich beispielsweise in der 1932 in Florenz gehaltenen Rede Zweigs mit dem Titel Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung. Angesichts der Krise Europas fokussiert sich Zweig, darin Hofmannsthal nicht unähnlich, auf europäischen Geist und Kultur: „Ich will in dieser Stunde versuchen, in einem Blick auf die geistige Entwicklung Europas eine kurze Geschichte jener ewigen Sehnsucht nach Einheit des Gefühls, Wollens, Denkens und Lebens zu geben, die in zweitausend Jahren jenes wunderbare Gemeinschaftsgebilde geschaffen hat, das wir stolz europäische Kultur nennen.“ Den Ursprung des Europäischen macht Zweig in der Antike aus, wertet das Imperium Romanum als Vorbild und betont die ordnungsstiftende Funktion Roms sowie das römische Reich als Ansatz zu einer geistigen Einheit Europas: Die wahre politische und geistige Einheit Europas, die Universalgeschichte beginnt erst mit Rom, mit dem römischen Imperium. Hier geht zum erstenmal von einer Stadt, einer Sprache einem Gesetz der entschlossene Wille aus, alle Völker, alle Nationen der damaligen Welt nach einem einzigen, genial durchsonnenen Schema zu beherrschen und zu verwalten – Herrschaft nicht nur wie bisher einzig durch militärische Macht, sondern auf Grund eines geistigen Prinzips, Herrschaft nicht als bloßer Selbstzweck, sondern als sinnvolle Gliederung der Welt. Mit Rom hat zum erstenmal Europa ein ganz einheitliches Format, und fast möchte man sagen, zum letztenmal, denn nie war die Welt einheitlicher geordnet als in jenen Tagen. Ein einziger geistiger Plan überspann wie ein kunstvolles Netzwerk vom Nebelreich Britanniens bis zu den glühenden Sandwüsten der Parther, von den Säulen des Herkules bis zum euxinischen Meer und den skythischen Steppen die noch ungeformten und geistig dumpfen Nationen Europas. Eine einzige Art der Verwaltung, des Geldwesens, der Kriegskunst, der Rechtspflege, der Sitte, der Wissenschaft beherrscht damals die Welt, eine einzige Sprache, die lateinische, beherrscht alle Sprachen. Über die nach römischer Technik gebauten Straßen marschiert hinter den römischen Legionen die römische Kultur, der ordnende Geist folgt aufbauend der zerstörenden Gewalt. Wo das Schwert die Lichtung geschlagen, sät die Sprache, das Gesetz und die Sitte neuen Samen. Zum erstenmal wird das Chaos Europas zur einheitlichen Ordnung, ein neuer Begriff ist erstanden, die Idee der Zivilisation, der gesitteten, nach moralischem Maß verwalteten Menschheit. Hätte dieses Gebäude noch zweihundert, noch dreihundert Jahre länger gedauert, so wären die Wurzeln der Völker schon damals ineinander verwachsen, die Einheit Europas, die heute noch Traum ist, sie wäre längst schon dauernde Wirklichkeit geworden, und auch alle später entdeckten Kontinente wären untertan der zentralen Idee. Zielführend wirkt dabei vor allem Zweigs Ansatz, Europa nicht allein als Finanz-, Politik- oder Wirtschaftsraum zu bestimmen, ein Umstand, der der heutigen EU mitunter zum Verhängnis wird, sondern die Idee Europa selbst als das verbindende Element zu bestimmen. Wie bei Hofmannsthal, so spielt auch bei Zweig die Kultur die entscheidende Rolle bei der Stiftung einer europäischen Einheit. Konkret legt Zweig hierbei den Fokus auf Sprache. Auch Zweigs Europa-?Gedanken sind noch 1932 vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Angst vor einer amerikanischen oder sowjetischen Übermacht nicht gänzlich frei von Elementen geistig-?ideeller europäischer Überlegenheit und damit von Eurozentrismus: Mit einem Ruck sinkt die europäische Kultur tief unter den Wasserspiegel der orientalischen und chinesischen. Erinnern wir uns an diesen Augenblick europäischer Schmach: die Werke der Literatur verbrennen oder vermodern in Bibliotheken. Von den Arabern müssen sich Italien und Spanien die Ärzte, die Gelehrten borgen, bei den Byzantinern noch einmal mühsam und ungelenk von Anfang an Kunst und Gewerbe erlernen; unser großes Europa, Lehrmeister in der Zivilisation, muß bei seinen eigenen Schülern in die Schule gehen! Über allem steht für Zweig, der Europa nicht rein mittels geographischer Überlegungen definiert, das Einheitsplädoyer: „Aber vergessen wir nicht: selbst in diesem äußersten Augenblick der Anarchie hat Europa nicht völlig den Gedanken der Einheit verloren. Denn die Idee unserer menschlichen Einheit ist unzerstörbar.“ Das Lateinisch, so Zweigs Überlegung zur Einheitsstiftung via Sprache, wäre das geeignete Mittel zur Realisierung derselben: „Das Latein, die Einheitssprache, die Muttersprache aller europäischen Kulturen, ist uns auch in dieser apokalyptischen Stunde erhalten geblieben.“ Die im 20. Jahrhundert vielfach thematisierte Formierung der europäischen Identität über das Geistige kommt auch bei Zweig zum Tragen: Diese erste Form geistigen Europäertums – rühmen wir sie neidvoll, denn sie bedeutet nach einer langen Epoche der Kriege, also der Brutalität und Entfremdung, endlich wieder einen der Höhepunkte europäischer Humanität. Obwohl räumlich durch Tausende Meilen, durch Wochen und Monate getrennt, leben die Dichter, die Denker, die Künstler Europas damals inniger verbunden als heute in der Zeit der Flugzeuge, Eisenbahnen und Automobile. Zur Stiftung eben jener Einheit, gelte es, die Nation zu überwinden, damit „etwas wie eine gemeinsame europäische Psyche im Werden ist und über der nationalen Literatur und dem nationalen Denken eine Weltliteratur, ein europäisches Denken, ein Menschheitsdenken beginnt.“ Gleichwohl versteht Zweig die Herstellung der europäischen Einheit als Zukunftsprojekt, wenn er schreibt: „[D]ie Vernunft wird siegen und baldigst die Oberhand behalten, morgen, übermorgen werden wir ein vereintes Europa sehen, in dem es keinen Krieg mehr gibt, keine Binnenpolitik und keinen zerstörenden Völkerhaß“. 1942, posthum, erscheint Zweigs Autobiographie Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Bei Zweigs Memoiren handelt es sich um einen literarisch geformten Text, nicht um eine faktuale Schrift, der Autor konstruiert darin „für sich selbst das Ethos des brückenbauenden Europäers“. So ist die Schrift Die Welt von Gestern auch die Selbststilisierung Zweigs als Europäer und Pazifist, der er von Anfang an gewesen sei. Auch dieser Text hebt mit dem Topos von der Krise Europas an: „Jeder von uns, auch der Kleinste und Geringste, ist in seiner innersten Existenz aufgewühlt worden von den fast pausenlosen vulkanischen Erschütterungen unserer europäischen Erde“. Seiner Haltung der Ablehnung von Nationalismen aller Art und der Betonung des Kulturbegriffs bleibt Zweig weiterhin treu: „[I]ch habe die großen Massenideologien unter meinen Augen wachsen und sich ausbreiten sehen, den Faschismus in Italien, den Nationalsozialismus in Deutschland, den Bolschewismus in Rußland und vor allem jene Erzpest, den Nationalismus, der die Blüte unserer europäischen Kultur vergiftet hat.“ Dies gilt auch für das Plädoyer Vielfalt und Einheit gleichermaßen. Bei aller Wertschätzung für „ein europäisches Gemeinschaftsgefühl, ein europäisches Nationalbewußtsein“, denen Zweig einen hohen Stellenwert zuweist, artikuliert sich in Die Welt von Gestern zugleich eine gewisse Distanzierung von einer eurozentrischen Haltung, zu deren Revision Zweig infolge vielfältiger Reisen gekommen ist, unter...



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