E-Book, Deutsch, Band 8, 308 Seiten
Reihe: Passagen
Gätje Denkstile und Paradigmen im literarischen Wandel
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-381-10363-8
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 8, 308 Seiten
Reihe: Passagen
ISBN: 978-3-381-10363-8
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Studie diskutiert die Übertragbarkeit der aus der Wissenschaftsgeschichte stammenden Theoriemodelle des Denkstils (Ludwik Fleck) und des Paradigmas (Thomas S. Kuhn) auf den literarischen Wandel. Anhand exemplarischer Untersuchungen, die Gegenstände der Neueren deutschen Literatur vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart behandeln, werden Linien literarischer Entwicklungsprozesse aufgezeigt, die Strukturen des Zusammenwirkens von kollektiven Denk- und Schreibmustern einerseits sowie Innovation und Individualität andererseits erkennen lassen. Gattungs- und Epochenbegriffe, Autorinnen und Autoren, Texte wie deren Genese und Rezeption werden in den einzelnen Kapiteln im Hinblick auf Wandel und Konstanz im literarischen Feld betrachtet, um idealtypisch signifikante Elemente in der Literaturgeschichte zu konzeptualisieren.
Dr. Hermann Gätje arbeitet an der Universität des Saarlandes. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass und lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft.
Autoren/Hrsg.
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I.1 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache
1935 veröffentlichte der Immunologe Ludwik Fleck seine Schrift Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Das Werk hat seitdem eine wechselvolle Rezeption nach sich gezogen, die zum Teil bedingt ist durch Flecks Biographie. Fleck wurde 1896 im galizischen Lemberg (damals Österreich-?Ungarn, heute Ukraine) geboren und entstammte einer jüdisch-?polnischen Familie. Er studierte Medizin und spezialisierte sich auf Serologie und Bakteriologie. Nachdem Lemberg 1941 in die Hände der Deutschen geriet, musste Fleck im jüdischen Getto der Stadt leben, wo er seine Forschungen fortsetzte und an einem Impfstoff gegen Typhus arbeitete. Die SS wurde auf ihn aufmerksam, verhaftete und deportierte ihn und seine engere Familie. Er musste in den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald an der Herstellung eines Typhusimpfstoffs arbeiten, konnte jedoch die Arbeit geschickt sabotieren. Nach der Befreiung Buchenwalds kehrte er zunächst nach Polen zurück und lehrte als Mediziner an mehreren Universitäten, 1956 wanderte er, gesundheitlich bereits stark angeschlagen, nach Israel aus, wo er 1961 verstarb. Flecks Theorie basiert auf den Erfahrungen seiner medizinischen Arbeit und stellt die theoretische Reflexion seiner eigenen Forschungen dar. In Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache fasst er seine Beobachtungen und Schlüsse zusammen und entwickelt ein komplexes Modell seiner Lehre von Denkstil und Denkkollektiv. Neben dieser Monographie von 1935 hat Fleck bereits vorher einige seiner Thesen in zahlreichen kleineren Schriften dargelegt, verteidigt, konkretisiert und auf andere Felder übertragen sowie auf kritische Reaktionen geantwortet. Die Herausgebenden der Neuausgaben seiner Werke heben hervor, dass Flecks innovative Entwürfe zu Lebzeiten des Autors keine große Rezeption erfahren haben. Dies sei zu einem signifikanten Teil auf äußere Umstände zurückzuführen: Flecks Wirkungsstätte Lemberg lag fernab von den Zentren des Wissenschaftsbetriebs, die politischen Verhältnisse lähmten den wissenschaftlichen Diskurs und Fleck wurde zum Opfer des NS-?Terrors. Seit den 1980er Jahren bis heute erlebt die Rezeption Flecks eine zunehmende Renaissance im Wissenschaftsbetrieb. Dies ist eine unmittelbare Folge der großen Wirkung der Schriften Thomas Kuhns, der Fleck explizit im Vorwort seines Buches Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen als maßgebliche Inspiration anführt. Die relativ geringe Wirkung Flecks ist jedoch nicht allein durch äußere und zeitimmanente Widrigkeiten begründet. Die Thesen sind schwer zugänglich, vor allem das Hauptwerk stellt Leserinnen und Leser durch seine Terminologie vor Probleme. Dies ist meiner Meinung nach dadurch bedingt, dass Fleck in der Gesamtdarstellung in Die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, die seine Beobachtungen in eine zusammenhängende Struktur fassen will, bisweilen Unübersichtlichkeit erzeugt. In der auf das Gesamtkonzept ausgerichteten Perspektive kommt häufig die Fokussierung und präzise Erläuterung eines einzelnen Gesichtspunkts zu kurz. Viele Aspekte lassen sich anhand einiger kleinerer Texte Flecks schlüssiger erläutern, da manches Moment, in diesen für sich isoliert, konkreter und verständlicher zum Ausdruck kommt. Die folgende Darstellung von Flecks Theorie wird dies im Kontext darlegen und in Einzelaspekten einige seiner Aufsätze und Vorträge heranziehen. Seine Untersuchungen sind zwar auf die Naturwissenschaften bezogen, doch inkludiert sein Wissenschaftsbegriff in der Abkehr vom reinen Empirismus mitredend Geisteswissenschaften. Doch da beide Wissenschaftstypen andere Denkstile pflegen, entsteht das Paradox, dass sich Flecks Theorie in manchen inneren Widersprüchen auf einer anderen Begriffsebene zugleich bestätigt. Flecks schon im Titel der Monographie mitschwingender Grundgedanke besagt, überspitzt ausgedrückt, dass eine naturwissenschaftliche Tatsache keine Objektivität besitzt, sondern eine einer kollektiven Denkart entspringende intersubjektive Konstruktion darstellt. Er berührt damit grundsätzliche Fragen der Philosophie im Hinblick auf die Existenz von Wirklichkeit und die Möglichkeit ihrer Konstitution durch sinnliche Wahrnehmung. In seinem bereits 1929 veröffentlichten Aufsatz Zur Krise der Wirklichkeit formuliert er seine Zweifel am empiristisch begründeten Wirklichkeitsbegriff. Mit dieser Grundannahme stellte sich Fleck gegen die seinerzeit einflussreichen Auffassungen des vor allem durch den Wiener Kreis repräsentierten logischen Empirismus. Flecks Thesen sind vor allem in ihrer praktischen Dimension innovativ, weil sie die im Wissenschaftsbetrieb allgemein akzeptierte systematische Trennung zwischen empirischen Naturwissenschaften und geisteswissenschaftlicher Metaphysik kritisch hinterfragen und auflösen, indem sie prononcieren, dass ersteren eine phänomenologische Komponente inhärent ist. Es ist offensichtlich, dass Flecks Prämissen grundsätzliche polarisierende Standpunkte des philosophischen Diskurses berühren wie die Wirklichkeitsfrage oder den Nominalismusstreit. Er vertritt ontologische Positionen, die anderen Denkrichtungen diametral gegenüberstehen, was auf einer Metaebene seinen Ausführungen jedoch Plausibilität verleiht. Unabhängig davon, ob man seine Grundprämissen teilt, hat sein Ansatz unter mehreren Aspekten einen hohen epistemischen Wert, wenn man ihn operativ als Modell oder Analogie begreift und heuristisch anwendet. Fleck als Naturwissenschaftler nähert sich dem Gegenstand aus der Perspektive eines Empirikers und Praktikers, der seine eigenen Methoden hinterfragt. Dies formuliert er bereits 1927 in einem Vortrag Über einige spezifische Merkmale des ärztlichen Denkens: Ich bitte Sie, sich nur bewußt zu machen, wie gesondert, wie anders der Naturwissenschaftler im Vergleich mit dem Geisteswissenschaftler denkt, selbst wenn der Gegenstand im Grundsatz derselbe ist: wie anders, in einem anderen Stil, ohne Möglichkeit, sie unmittelbar zu verbinden, sieht z. B. die Psychologie aus, wenn man sie entweder als Natur- oder als philosophische Wissenschaft betrachtet. Für Fleck sind die empirische Wahrnehmung und die Herausbildung von Wissen immer mit den jeweiligen sozialen und kulturellen Bedingungen des Umfelds, in dem dieser Erkenntnisprozess stattfindet, verbunden und dadurch mitbestimmt. Er legt dar, dass „unsere Kenntnisse viel mehr aus dem Erlernten als aus dem Erkannten bestehen“. Kritik erfuhr er dafür vor allem von Vertretern des Neopositivismus, die ihm vorhielten, dass er die Existenz einer Wirklichkeit anzweifelt. Doch ist Flecks Theorie niemals derart intendiert, dass sie durch Intersubjektivität bestätigte Fakten anzweifelt, vielmehr relativiert er den Begriff der Tatsache im Hinblick auf subjektive Implikationen, die sich auf unterschiedlichen Ebenen manifestieren können. So lässt sich aus seiner Theorie unabhängig von der Akzeptanz gewisser Annahmen ein heuristisches Modell bilden, dass zwischen Empirismus und Konstruktivismus moderiert und die objektiven und subjektiven Aspekte einer Tatsache typologisch erfasst und Analogien bilden kann. Auf der Basis seiner Auffassungen zur Konstitution von Wirklichkeit entwirft er in der Monographie ein wissenschaftstheoretisches und -historisches System. Schlüsselbegriffe und Ausgangspunkte seines Theoriemodells sind zwei Kategorien: Denkstil und Denkkollektiv. Flecks Grundprämisse ist, dass Denken nie als rein individuell zu begreifen ist, jegliches Denken des Menschen ist von seiner sozialen Umgebung geprägt. Ein Denkstil wäre konkret, vereinfacht gesagt, ein in gewissen Eigenschaften gemeinsames, kollektives Denken. Dessen potentielle Inhalte bilden ein sehr inhomogenes Feld, das z. B. Wertvorstellungen, soziale Vorgaben, politische Ansichten, Weltanschauungen, ästhetische Muster enthalten und kombinieren kann. Bezieht man diese Termini auf die Literatur, ist schon die Vorstellung, was Literatur überhaupt ist, Teil eines Denkstils. Wenn beispielsweise eine Autorin einen Roman schreibt, schwingt eine kollektive Vorstellung von dem, was ein Roman ist, mit. Fleck bezieht seine Ausführungen auf einen naturwissenschaftlichen Gegenstand, die Geschichte und Erforschung der Syphilis. Er definiert seine Begrifflichkeiten nicht a priori, sondern entwickelt sie jeweils aus dem von ihm gewählten Beispiel. Die Definition der beiden Kategorien stellt zugleich eines der Hauptprobleme in seiner Theorie dar, weil schon der Ausgangsbegriff Denkstil verschiedene Assoziationen erweckt und auf unterschiedlichen Ebenen begriffen werden kann: Sind die eingeführten Kategorien als Wesenheiten oder Entitäten zu verstehen? Flecks Vorgehensweise ist dadurch gekennzeichnet, dass er diese Frage zunächst ungeklärt lässt und seine Ausführungen einen Erkenntnisprozess zur Formulierung des Begriffs abbilden. Er entwickelt in seinem Buch erst relativ spät eine systematische Definition, doch führt er den Terminus Denkstil grob umrissen am Anfang ein. Dies entspricht seiner Argumentationslinie, dass er seine Thesen an Beispielen entwickelt und die Definitionen seine Schlüsse sind. Dadurch entsteht eine gewisse Begriffsunklarheit, die jedoch bei differenzierter und relativierender Betrachtung aufgelöst werden kann. Fleck definiert Denkstil als „gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen“. Diese Beschreibung gibt dem Begriff eine passive Dimension, indem sie das Denken auf den Aspekt des Wahrnehmens richtet. Erst...