E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Gäfgen-Track Gott glauben
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-641-29292-8
Verlag: Gütersloher Verlagshaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Theologie und Spiritualität
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-641-29292-8
Verlag: Gütersloher Verlagshaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was bedeutet es, Christin zu sein und zugleich in der Kirche ein Amt auszuüben? Wie ist die Spannung, als Oberkirchenrätin »den Glauben« zu verkünden, und als Christin um diesen Glauben immer neu ringen zu müssen, auszuhalten? Und wo entsteht aus dieser Spannung produktiv Neues, Heutiges? Kerstin Gäfgen-Track erzählt hier, welche Inhalte des christlichen Glaubens ihr wichtig sind, warum sie dies sind und wie diese Inhalte ihrem Christinsein und ihrem Menschsein Richtung, Klarheit und Hoffnung geben – gerade auch im Zweifel und im Konflikt. Ein authentischer, kluger Bericht aus der Wirklichkeit leitenden Handelns in der Kirche in einer säkularen Welt.
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Als mich die Musik und die Unterhaltung der Jugendlichen auf der Wiese am Dom nicht einschlafen ließen, überlegte ich, was ich den Jugendlichen überhaupt sagen wollte, wenn ich zu ihnen auf die Wiese ginge. Vielleicht würde ich jemanden bitten mitzukommen. Ein bisschen mulmig wäre mir schon, ob sich die Jugendlichen überhaupt auf eine ihnen fremde Frau einlassen würden. Würden sie mir die Chance geben, ihnen zuzuhören, sie kennen und verstehen zu lernen zwischen Techno und Rap, Wasser und Wein, Liebe und Leiden an der Liebe? Auch wenn ich einige Übung darin habe, mit fremden Menschen ins Gespräch zu kommen und dabei durchaus über existenzielle Fragen zu sprechen, gehen mir solche Gespräche nicht leicht über die Lippen. Ob ich am Ende von mir, meinem eigenen Leben und damit auch meinem Glauben erzählt hätte, habe ich mich in dieser Nacht mit den Stimmen und der Musik der feiernden Jugendlichen gefragt. Vielleicht müsste ich dafür mehr als nur einen Abend mit den Jugendlichen verbringen. So schnell kommen Gespräche, die mehr sind als small talk, nicht zustande. Am Ende war ich froh, müde von einem langen Tag ins Bett gegangen zu sein, und doch ärgerlich mit mir selbst, dass ich nicht spontan die Begegnung mit den Jugendlichen gesucht habe. Dass es dafür um kurz vor Mitternacht zu spät gewesen wäre, war nicht mehr als eine Ausrede. Durch die Diskussion über die »Relevanz von Kirche«, die seit der Corona-Pandemie mit einer neuen Intensität geführt wird, denke ich in für mich neuen, eher noch ungewohnten Bahnen darüber nach, wie gerade jenseits der Kirchenmauern – extra muros ecclesiae – im nicht geschützten Raum von Kirche explizit vom Glauben gesprochen werden kann. Wie kann er im Taxi oder auf der Havelwiese bezeugt und gelebt werden? Dabei muss ich mit diesem Buch Farbe bekennen und ehrlich erzählen, warum ich glaube und was das für mein Leben und den Gedanken an das eigene Sterben heißt. Ebenso wichtig ist es, von anderen Menschen zu hören, warum sie vielleicht anders als ich glauben oder gerade nicht glauben. Das gelingt im Gespräch mit Menschen, die keine religiösen Überzeugungen vertreten oder sich religiös entfremdet haben, nur, wenn ich meine eigenen Erfahrungen mit dem Glauben in die Sprache und das Denken der säkularen Welt »übersetze« (Jürgen Habermas).6 Die säkulare Welt, das können die feiernden Jugendlichen auf der Wiese, der Taxifahrer ebenso wie Menschen aus Politik, Bildung und Gesellschaft sein, mit denen ich beruflich viel zu tun habe. Mit diesen unterschiedlichen Menschen möchte ich einen intensiven und ehrlichen Dialog über die Fragen des Lebens versuchen. Mitten im Leben in der Begegnung mit Menschen nach Gott suchen – zusammen mit anderen Christ*innen, mit konfessionslosen Menschen, erklärten Atheisten und mit denen, die von anderen Religionen und Weltanschauungen überzeugt sind. Für mich ist der Glaube »existenzrelevant« (Wolfgang Huber)7. Deshalb gibt es keinen Bereich meines Lebens, in dem mein Glaube keine Rolle spielt. Dabei sehe ich ein ständiges theologisches, wissenschaftlich fundiertes Arbeiten, das die existenzielle Dimension präsent hält und transparent macht, als unverzichtbar an für den Beruf der Pfarrerin bzw. des Pfarrers. Von dem Glauben sprechen, sich selbst theologisch und wissenschaftlich damit auseinandersetzen, das glückt nur, wenn die eigenen existenziellen Erfahrungen im Glauben transparent werden und das Wagnis eingegangen wird, sie als Erfahrungen mit und durch Gott zu deuten. Es gibt für mich kein größeres Wagnis als das, denn ich fürchte, mich an Gott mit meiner Interpretation zu »vergreifen«. Und auch, dass ich Menschen nicht erreiche mit dem, was es vielleicht heißen könnte, an Gott zu glauben. Immer wieder werde ich gebeten, für andere zu beten, was mir nahegeht, gerade wenn mir die Person erklärt, sie könne es selbst nicht. Anderen Menschen ist es wichtig, dass ich Gottesdienste halte, auch wenn sie selbst nur selten diese oder andere Gottesdienste besuchen. Dann fällt mir wieder der Taxifahrer aus Brandenburg ein, der vermutlich noch nie einen Gottesdienst besucht hat. Die Frage eines Glaubens, der die Praxis des Glaubens auch für andere ausübt und danach lebt, ist virulent in Gesprächen und Mails mit einer Frau, mit der ich hin und wieder beruflich zu tun habe. Diese Frau hat für sich schon lange entschieden, dass an einen Gott zu glauben nicht ihre Sache sei und auch keine Not sie beten lehren werde. Dennoch sucht sie das Gespräch mit mir. Existenzielle Themen und die Frage danach, ob es einen Gott gebe, beschäftigen sie sehr. Es sind kontroverse Gespräche, und ich merke, wie wichtig es für sie ist, dass ich im Unterschied zu ihr glaube und ihr davon erzähle, ungeschminkt und ehrlich. Sie verwahrt sich gegen jeden Überzeugungsversuch schon im Ansatz, aber unsere Gespräche und Mailwechsel hören bislang nicht auf. Pfarrerin sein bedeutet für mich auch, sehr unterschiedlichen Menschen einen Platz im eigenen Leben und Glauben zu geben. Vom Glauben erzählen: mein Beruf Mittlerweile bin ich schon lange in der Kirchenleitung meiner Landeskirche tätig und arbeite an unterschiedlichen Aufgaben mit sehr verschiedenen Menschen zusammen, was mich ausfüllt. Trotzdem fehlen mir »meine« Gemeinde, das Feiern sonntäglicher Gottesdienste mit ihr, die Konfirmand*innen ebenso wie die Kirchweihfeste, der Eine-Welt-Eintopf und das Krippenspiel. In meine frühere Gemeinde fahre ich nur sehr selten, aber im zweiten »Corona-Sommer« war ich für kurze Zeit dort. Menschen sind mir unerwartet auch nach 20 Jahren mit einer großen Offenheit und Ehrlichkeit begegnet, was ich als Privileg und vor allem als Geschenk erlebt habe. Sie haben mir von ihren Existenzsorgen durch Corona, ihrer kranken Enkeltochter, ihrem risikoreichen beruflichen Neustart mit 60 Jahren, ihrem Glück, im Kirchenchor zu singen, oder ihrer Freude an der eigenen Malerei erzählt. Das hat mich sehr bewegt. Aber auch ohne Gemeindepfarramt bin ich mit vielen Menschen über existenzielle Fragen im Dialog, ebenso wie über politische, ethische oder soziale Fragen, übe Seelsorge, halte Andachten, Gottesdienste und noch mehr Referate. Doch bleibt für mich die Arbeit als Gemeindepfarrerin eine ganz besondere, weil ich ein Stück ihres Alltags und Feiertags mit Menschen teilen darf. Einer Arbeitszeitregelung für Pfarrer*innen stehe ich skeptisch gegenüber, so sehr ich den Wunsch verstehen kann, nicht immer im Dienst zu sein. Dem Pfarrberuf wohnt eine bleibende Spannung inne, die auch durch Arbeitszeitregelungen nicht aufgehoben werden kann, weil sich die Situationen, in denen Pfarrer*innen als solche angesprochen werden, nicht in »acht Stunden Arbeitstage« einpassen lassen. Wie öffentlich mein Amt und mit ihm meine Person sind, hätte ich mir nie träumen lassen. Während ich als Vikarin öfter mit zitternden Knien vor dem Altar stand, stehe ich heute mit einem Kloß im Hals vor manchem Pult. Für den christlichen Glauben und dafür, wie ich persönlich diesen Glauben zu begreifen versuche, stehe ich öffentlich ein, zeige ihn, gerade indem ich mich selbst zeige. Um das tun zu können, muss ich meinen Glauben intensiv reflektieren, eine praxis pietatis beständig einüben und mein Reden und Handeln davon bestimmt sein lassen. Aber ich bin keine »Vermittlerin« zwischen Gott und Mensch oder gar eine Vermittlerin von Heil, sondern ich versuche, in aller damit verbundenen Ambivalenz Gott zu bezeugen und mit meiner Existenz für den Glauben an diesen Gott einzustehen. »Denn wir predigen nicht uns selbst, sondern Jesus Christus.« (2. Korinther 4, 5a) Noch wichtiger als alles Reden und Predigen ist es, der Liebe und der Menschlichkeit Raum zu geben. So vertraue ich darauf, dass Gott zwischen den anderen Menschen und mir präsent sein kann, sich ereignet, weil er es so will – unverfügbar für Menschen. Die Präsenz Gottes gerade in der Liebe zwischen Menschen zu entdecken und zu deuten, das kann sehr schwer sein, manchmal unmöglich. Wenn es aber gelingt, ist es wunderbar. Das, was mich in meinem Innersten angeht und umtreibt,8 davon will ich anderen Menschen so erzählen, dass ein Verstehen des »Geheimnisses des Glaubens« (1. Timotheus 3,9) für sie möglich wird und andere ihre eigenen Erfahrungen als Erfahrungen im Glauben interpretieren können. Dabei geht es um existenzielle Fragen, vor allem nach Liebe, Sinn, Wahrheit und Hoffnung im Leben und Sterben; um Gelingen und Scheitern ebenso wie um Schuld und Versöhnung. Darauf gibt es keine einfachen, immer »richtigen« Antworten; Menschen brauchen vielmehr Antworten, die für sie in ihrer Lebenssituation individuell tragfähig sind und ihnen neue Erfahrungen ermöglichen. Dabei kann ich mich auf die Antworten, aber auch Fragen meines Gegenübers einlassen und meine Fragen und die Antworten, die mich überzeugt haben, einbringen. Wenn es gelingt, kommen wir beide zu neuen Einsichten, werden uns unserer eigenen Überzeugungen neu gewiss, und neue Erfahrungen werden möglich. Den eigenen Glauben zeigen macht verletzlich, gerade weil der Glaube »mich im Innersten angeht« und meine Identität zutiefst prägt. Hier angefragt zu werden, auf Kritik und Unverständnis zu stoßen, schmerzt in der Tiefe der eigenen Seele. Es geht nicht ohne die Offenheit, von der intimen Beziehung zwischen Gott und mir zu erzählen, die sich aber in ihrer Tiefe letztlich einem erzählenden Zugriff entzieht und deren Intimität ich im Letzten auch öffentlich wahren will. So verhandele ich ständig mit mir selbst um Distanz und Nähe. Die Distanz ist mir oft lieber als die Nähe, weil sie nicht so verletzbar macht. Manchmal bin ich mit mir gram über...