Buch, Deutsch, 224 Seiten, Format (B × H): 230 mm x 230 mm, Gewicht: 1000 g
Leben und Werk
Buch, Deutsch, 224 Seiten, Format (B × H): 230 mm x 230 mm, Gewicht: 1000 g
ISBN: 978-3-200-06663-2
Verlag: Fliegende Blätter
Alfred Tschulnigg (1919–1999) war ein vielseitiger Mensch. Als Mitbegründer und späterer Kustos des Pinzgauer Heimatmuseums Schloss Ritzen in Saalfelden beteiligte er sich maßgeblich am Aufbau der Sammlungen und an der Entstehung des Hauses in der heutigen Form. Er gehörte zu einer Gruppe engagierter Saalfeldener, die ab den 1950er Jahren die regionale Volkskunst in all ihren Ausprägungen aufspürten und für die Nachwelt bewahrten. Als Malermeister führte er einen florierenden Betrieb, als Fassmaler und Vergolder war er prädestiniert für Kirchenrestaurierungen, die er in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesdenkmalamt ausführte.
Für Tschulnigg war der Begriff „Heimat“ mit jahrelanger Sehnsucht aufgeladen, als er erst spät, im Jahr 1947, aus sowjetischer Gefangenschaft heimkehrte. Die daraus resultierende Liebe zu allem, was ihm diese Heimat bedeutete, prägte fortan seine Haltung. Auf seinen Wanderungen hielt er die Natur und die Berge in Aquarellen fest, bei deren Betrachtung deutlich wird, wie sehr die landschaftlichen und baulichen Eingriffe den Siedlungsraum Saalfelden seit damals verändert haben.
Die wirtschaftliche Notwendigkeit, nach dem Abzug der amerikanischen Besatzungstruppen 1955 den Tourismus anzukurbeln, ging Hand in Hand mit dem Streben nach Verschönerung. Neu errichtete und bestehende Gebäude sollten ein repräsentatives, individuelles oder auch werbewirksames Aussehen bekommen. Alfred Tschulnigg wurde Spezialist für Sgraffiti und Wandmalereien, entwickelte einen eigenen Stil und gab durch seine Fassadengestaltungen Hunderten von öffentlichen und privaten Gebäuden ein Gesicht. Jahrzehntelang prägte er mit seinen Wandbildern, Fensterumrahmungen und Hausbeschriftungen das Erscheinungsbild vieler Pinzgauer Ortschaften. Sein überdurchschnittlicher Sinn für Farben und Proportionen war über Salzburg hinaus auch in Bayern und bis Frankfurt gefragt.
Viele Zeugnisse der Kunst im öffentlichen Raum, die Tschulnigg in mehr als vierzig Jahren geschaffen hat, sind trotz ihrer Bedeutung als regionales Kulturerbe in den letzten Jahren Sanierungen und Abrissen zum Opfer gefallen, einige sind aktuell akut gefährdet.
Christian Fuchs hat Alfred Tschulniggs Nachlass vorausblickend erworben. Das aus weit über 1300 Einzelblättern bestehende Konvolut wurde nun aufgearbeitet, um Tschulnigg zu seinem 100. Geburtstag mit einer Ausstellung und Publikation würdigen zu können. Diese Aufgabe, die mir zufiel, bereicherte mich in vielerlei Hinsicht. Vor allem öffnete sie mir die Augen, denn bald ging ich mit neugierigem Blick auf der Suche nach Tschulniggs Fassadengestaltungen durch Saalfelden (und später auch durch andere Pinzgauer Orte). Die damit verbundene Entdeckerfreude wünsche ich allen, die sich auf die Spuren von Alfred Tschulnigg begeben!
Ingrid Radauer-Helm
Zielgruppe
regionale Bevölkerung, Volkskulturinteressierte, Restaurateure, Fassadengestalter
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Pinzgauer Ambitionen
Früher einmal entstanden im bäuerlichen Alltag Werkstücke, die wir heute als künstlerisch klassifizieren, gleichsam nebenbei. Gewichtige Aufträge wie Kirchenbilder oder Porträts stellte man auswärtigen Werkstätten oder Wanderkünstlern anheim, die nach erledigter Arbeit wieder abzogen. Dass Künstler in einem kleineren Gemeinwesen sesshaft werden konnten, dazu bedurfte es einer Auftragslage und Verdienstmöglichkeiten, denen naturgemäß enge Schranken gesetzt waren. Es ging sich höchstens aus, wenn ein Brotberuf - meistens als Lehrer - oder die Koppelung an einen Handwerksbetrieb wie ein Farbengeschäft die existentielle Basis herstellte. Letzteres ermöglichte beispielsweise im benachbarten Bischofshofen Ferdinand Kubitschek (1912 – 1992), sich nach dem Akademiestudium in seinem Heimatort weiterhin ausgiebig der Malerei zu widmen. Das Bedürfnis nach Sesshaftigkeit überwog bei ihm den Ehrgeiz, am Galerieleben teilzunehmen. In und um Kaprun schafft der Schulmann und Künstler Wolf Wiesinger nach wie vor sehr ansprechende Fassadenbilder.
In der Regel zog es die einheimischen Künstler in die Ferne, in die Städte, weil dort die Nachfrage ungleich größer war. An Zustände wie in Tirol, wo im frühen 20. Jahrhundert fast jedes größere Tal eine namhafte Kunstgröße hervorbrachte und auch ernähren konnte, war in den Salzburger Gauen nicht zu denken. Viel öfter waren umgekehrt städtische Künstler hier unabhängig und nur temporär tätig, wie Josef Stoitzner in Bramberg oder Ludwig Ehrenberger in Saalfelden.
Auch Alfred Tschulnigg konnte auf eine Malerfirma zurückgreifen und tat aus eigenen Stücken sehr viel dazu, um seine künstlerische Ader auszuleben. Außerdem fand er vor Ort ein Betätigungsfeld vor, auf dem er sich auch ohne
akademische Sporen sattelfest fühlte. Der Bauboom der Nachkriegszeit und der ansteigende Wohlstand hatten zur Folge, dass zahlreiche Hausfassaden einer künstlerischen Behandlung harrten. Der zweckdienliche moderne Baustil ließ ein Gefühl von Mangel entstehen, den man auf diese Weise zu kaschieren trachtete. Als probate Technik bot sich aus Kosten- und Haltbarkeitsgründen der Mörtelschnitt, der sich aus dem historischen Sgraffito ableitete, an. Mit seiner anonymen Schlichtheit und linearen Strenge passte er auch zum reduktionistischen Stil der Zeit, der auf unnötige Schnörksel verzichtete. Als Malermeister und Restaurator war Tschulnigg für diese am Übergang vom Handwerk zur Kunst gelegene Disziplin prädestiniert.
In Salzburg hatte in den 1920er- und 1930er-Jahren ein Pionier dieser Technik, Karl Reisenbichler, mehrere Altstadtfassaden mit bunten Sgraffiti versehen, die damals sehr kontroversiell aufgenommen wurden. Anton Faistauer, ein Gegner dieser monumentalen Arbeiten, schlug stattdessen vor, Plätze wie den Alten Markt mit färbigen Wandbildern zu schmücken. Reisenbichler bekam dann Gelegenheit, seine Kunst auch in Innsbruck, Wien und im Rheinland zu erproben. Einer seiner Mitarbeiter, Erich Windbichler, importierte sie nach Thüringen. Die große Zeit des Sgraffitos kam aber erst mit dem Wiederaufbau nach dem Krieg. Im Gegensatz zu den großflächigen und opulenten Vorkriegsarbeiten waren die Werke dieses Zeit betont verknappt gehalten. Im sozialen Wohnbau fanden sie ihr häufigstes Anwendungsfeld und signalisierten dort bescheidenen Wohlstand und friedliches Miteinander. Derartiger Sgraffitoschmuck war in ganz Mitteleuropa, aber auch im Ostblock bis Alma Ata verbreitet.
In unseren ländlichen Regionen wurden Sgraffiti an Geschäfts- und Privathäusern, vornehmlich auch an Hotelbauten angebracht, wo sie einen Rest von ortsgebundener Identifikation ermöglichten, indem sie die Rolle der früheren Hausnamen und -zeichen übernahmen. Für die Motivik wurden oft historische Bezüge aufgegriffen, vor allem wenn an verschwundene Vorgängerbauten erinnert werden sollte. Die Aufträge konnten meist an regionale Spezialisten vergeben werden - schon das ist eine bemerkenswerte Tatsache. Im Pinzgau standen neben Tschulnigg beispielsweise Volker Lauth oder der versierte, in Wagrain lebende Wiener Erwin Exner zur Auswahl. In der Stadt Salzburg war Friedrich Inhauser der meistbeschäftigte Sgraffito-Künstler.
Schon bald nach ihrer Entstehungszeit hatte man für diese „Kunst am Bau“ nur mehr geringschätzige Blicke übrig. Man sah in ihr eine oberflächliche, austauschbare Behübschung und bemängelte die naive, bilderbuchhafte Darstellungsweise. Andererseits macht aber gerade die einfache formale Sprache, die positive, freundliche Signale setzt, den Reiz dieser Arbeiten aus. Sie wirkten direkt in den Alltag hinein und ließen visuelle Blickfänge entstehen, die durch ihre bloße Evidenz jeder Art von ästhetischer Anleitung überlegen sind.
Bereits 1995 setzte eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema „Kunst am Bau“ ein, das die Kunsthistorikerin Irene Nierhaus am Beispiel Wiens demonstrierte. Auch von einer durchaus kritischen Warte aus plädierte sie für einen positiveren Zugang zu dieser für ihre Zeit äußerst typischen Gattung. Und erst vor kurzem legte das Kulturamt in Salzburg ein Handbuch über die Kunst im Stadtraum vor, das auch bei uns zu einem bewussteren
Umgang mit diesem unbeachteten kulturellen Erbe führen sollte. Ein hoher Prozentsatz ist nämlich bereits verschwunden oder weiterhin von Zerstörung z. B. durch isolationsbedingte Maßnahmen bedroht.
Vor diesem Hintergrund gewinnt eine Initiative an Wert, die aus freien Stücken und ohne behördliche Schützenhilfe der Saalfeldener Handwerksbetrieb von Christian Fuchs ergriffen hat. Mit der Ausstellung von Gegenwartskunst und dem Erwerb von historischen Gerätschaften aus dem Umfeld seines Berufes demonstriert er in seinem geräumigen Haus schon seit einiger Zeit, was er unter einem „lebendigen Museum“ versteht. Kunst, Handwerk und historisches Interesse können hier frei von jeglichem Fachdünkel miteinander kommunizieren
Der Erwerb des Nachlasses von Alfred Tschulnigg bedeutet einen weiteren Schritt in diese Richtung. Hier geht es um eine konservatorische und sammlerische Maßnahme, zu der sich die öffentlichen Einrichtungen vor allem im ländlichen Raum oft nicht imstande sehen.
Im speziellen Fall ist es jetzt möglich, einen detaillierten Einblick in den Entstehungsprozess solcher Wandgestaltungen zu geben, die damit an Wertschätzung zweifellos gewinnen. Denn da wird die ungemein sorgfältige Arbeitsweise und formale Prägnanz, die Tschulnigg seinen weit über hundert ausgeführten Projekten angedeihen ließ, vollauf ersichtlich. Aber auch zahlreiche andere gestalterische Aufgaben löste dieser unscheinbare Mann mit hohem Können und Verantwortungsgefühl. Mit Tschulnigg verbindet Fuchs auch diese seine erste verlegerische Aktivität, für die er sich den so geflügelten wie verpflichtenden Namen der Münchner „Fliegenden Blätter“ gesichert hat.
Ein heimatkundlicher Interessenbereich erhält hier jedenfalls von unerwarteter Seite Anstoß und Ermunterung, wie sie angesichts vorherrschender Zeittrends nicht auf der kulturpolitischen Tagesordnung stehen. Als Gegengewicht zu globaler Uniformisierung und kommerziell gesteuertem
Dirigismus ist es ein beherztes und unkonventionelles Signal regionaler Selbstbehauptung.
Nikolaus Schaffer