E-Book, Deutsch, 288 Seiten, E-Book
ISBN: 978-3-86935-398-2
Verlag: Verlag Ludwig
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Ludwig P. Fromm, geb. 1950 in Thüringen, Architekturstudium in Weimar, berufliche Stationen in Ost-Berlin, drei Jahre politischer Häftling in Pilsen, Erfurt und Cottbus, Freikauf und Übersiedlung nach West-Berlin, Arbeitsaufenthalte im europäischen Ausland, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Berlin, Gründer einer Bürogemeinschaft für div. Bau- und städtebauliche Projekte, Dr.-Ing. der TU Berlin, Professor im Fachbereich Kunst und Gestaltung der Fachhochschule Kiel, Rektor der FH Kiel, Gründungsrektor der Muthesius Kunsthochschule in Kiel, dort Professor im Bereich Raumstrategien, seit 2015 emeritiert. Künstlerische, wissenschaftliche, journalistische, schriftstellerische und seit 2000 szenografische Arbeiten, div. Ausstellungsprojekte im In- und Ausland. Lebt und arbeitet in Bissee bei Kiel.
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Kleiner Grenzverkehr
Tod der Mutter
Sie hatten die schweren Bohlen und Werkzeuge mit dem Wagen transportiert. Er war groß und stabil genug. Eigentlich war dieses Gefährt aus vier großen Speichenrädern, zwei Achsen und einem robusten Rahmen konstruiert, der Sargwagen des Friedhofsunternehmens. Diese Doppelnutzung machte seine Reinigung vor jeder Beerdigung dringend notwendig. Mit einem schwarzen Tuch, das nur Teile der Räder sichtbar ließ, wandelte sich nach erfolgter Säuberung ein profanes Funktionsmittel augenblicklich in das Requisit eines Trauerrituals. Eine der ehrenamtlich tätigen Frauen aus der Gemeinde hatte das Tuch zu einer Art Husse vernäht, die sich der Wagenform perfekt anpasste.
Nicht zu dicht am auszuhebenden Grab luden sie zuerst Spaten, Schippen, eine Steinaxt und dann die Bohlen ab. Jetzt begann die Routine. An bereits bestimmtem Ort wurden die Grabmaße zuerst mit Spatenstichen am Boden markiert. Dann hob das Team mit eingespielter Professionalität eine Grube aus. Ein Teil der Bohlen diente ihnen als Grabverbau, der Rest wurde als Laufbohlen verlegt und sollte während der Trauerfeier die gefahrlose Erreichbarkeit der Grabstätte garantieren.
Der letzte prüfende Blick, bevor die Männer abrückten, galt der Qualität der technischen Realisierung ihrer Arbeit. Was sie zurückließen, war eine Grube zur Aufnahme eines Toten.
Noch vor Tagen hatten die Pflegerinnen einen zeitnahen Tod ihrer Mutter ausgeschlossen. Sie wirkte stabil. Hatte mit dem Dasein noch lange nicht abgeschlossen. Wollte leben.
Nur selten konnte sie das Sterben als eine Tatsache der eigenen Vergänglichkeit akzeptieren. Für sie war der Tod eine neue Form des Lebens, nämlich des Weiterlebens im Glauben an eine andere Welt. Dort war ihr ein Platz vorbehalten: im Himmelreich, wo Schutzengel sich sammeln und sie ihre Lieben wiedertreffen würde. Auch Rita und ihre Schwestern könnte sie dort wiedersehen, von denen sie sich aber hier und heute noch nicht verabschieden wollte.
Rita saß im ICE. Ihre Platzkarte wies ihr einen Fensterplatz zu. Als sich der Zustand der Mutter schnell und zunehmend verschlechtert hatte, war sie benachrichtigt worden und bereitete sofort die Abreise vor. Aber der Tod war schneller gewesen. Wie oft war Rita dieser Satz heute schon durch den Kopf gegangen? Nicht grundlos hatte sie die Worte in die Haltlosigkeit einer fliehenden Landschaft gesprochen. Sie fühlte keine Schuld – was sie bewegte, war Trauer und ein wenig Eifersucht. Ihre Schwestern würden es sie spüren lassen. Das miterlebte Sterben, der Schmerz und die Solidarität der Beobachter, all dies dürfte für die Schwestern ganz sicher eine Erinnerung von Wert und Bedeutung sein. Rita war ausgeschlossen aus dem Kreis der Dabeigewesenen, der nur das Miterleben belohnt. Sie nahm sich fest vor, dieses Thema mit ihren Schwestern nicht zu besprechen.
Auf ihren Knien lag ein Buch. Andere waren in ihrem Rucksack. Eigentlich wollte sie sich ganz auf Sterben und Tod einlassen. Sie glaubte, dies ihrer Mutter schuldig zu sein. Ein Mensch war gestorben, alt und nicht unerwartet. Doch das sollte den Schmerz nicht relativieren. Rita liebte ihre Mutter. Lange hatte sie mit sich gerungen, ehe sie dann doch Bücher einsteckte: Recherchen für die Vorbereitung eines Seminars über das Ende des Alten Roms.
Als sie sich dem Band wieder widmen wollte, erinnerte sie die Art, wie sie das Buch hielt, an ein Gedicht von Johannes R. Becher. Leise sprach sie die ersten Worte.
Er hat das Buch verwundert aufgeschlagen,
in weißer Stille blätternd, bis es spricht,
und hat es zitternd vor sich hergetragen.
Er sitzt im Zug und liest. Er rückt ins Licht.
. Sie hatte diesen Titel wohl etwas zu laut gesprochen. Ihr Nachbar wendete sich ihr zu. Erstaunter, fragender Blick. Er vergewisserte sich der Situation. Wohl nicht gemeint, wandte er sich wieder stumm seinem iPad zu.
Jetzt unhörbar für Nachbar und Umgebung, rezitierte sie weiter, wollte sie wissen, ob der Text für sie noch erinnerbar war:
Die Verse drängen ihn, sie mitzusagen,
und überziehen glanzvoll das Gesicht.
Bald schwingen sie, ihn wiegend, durch den Wagen.
So fährt er mit dem Zug durch ein Gedicht.
Gebannt ist noch der Blick, umspannt vom Rand.
Dann schaut er auf vom Buch, schaut in die Weite.
Und während er das Buch entgleiten läßt,
legt er dazwischen seine eine Hand,
als hielt er so die gelesene Seite
mit seiner Hand, auch mit der Hand, ganz fest.
Nach so vielen Jahren! Sie hatte es nicht vergessen. Gut, bei der einen oder anderen Stelle war sie nicht ganz sicher. Glaubte aber doch, Bechers Original getroffen zu haben.
Mit 14 oder 15 Jahren hatte sie diese Zeilen auswendig gelernt und das Gedicht vor einer Auswahlkommission im damaligen Kreiskulturhaus erfolgreich vorgetragen. Mehr oder weniger kompetent, entschieden Lehrer, Vertreter der Volksbildung und Funktionäre der FDJ-Kreisleitung (Fachgebiet Schule und Junge Pioniere) über Inhalt und Vortrag. Ob Gedichte des jungen Becher für die Bezirksolympiade angemessen seien, konnte erst nach kompliziert geführten ideologischen Erörterungen entschieden werden. Den Funktionären war das Adjektiv »expressionistisch« unheimlich erschienen. Einer der Lehrer hatte darauf hingewiesen, dass der Dichter in seinem Schaffen eine expressionistische Phase hatte. Was nicht bewertet wurde und so die Laien irritierte. Am Schluss war man sich aber doch noch einig geworden. In Folge hatte man Rita zum Bezirksleistungsvergleich delegiert. Auch dort kam ihr Vortrag an. Sie hatte eine Urkunde bekommen, auf der zu lesen war, sie hätte den Inhalt des Werks erfasst und in der richtigen Grundstimmung weitergegeben.
Jetzt, hinter dem Sicherheitsglas eines ICE-Fensters die Vergangenheit hinterfragend, wollte sie wissen, wie diese »Grundstimmung« wohl gewesen sei und wie eine Jury dies bestimmen konnte. Das Buch, welches sie gerade in Händen hielt, enthielt keine Gedichte. Es war ein schwer zu lesender wissenschaftlicher Text, der ihre uneingeschränkte Konzentration forderte. Aber gerade die war nicht verfügbar. Nicht auf der Reise zu einer toten Mutter. Und doch, wie im Gedicht, war das Gelesene präsent. Nicht wirklich explizit. Mehr als ein Gefühl, das das Gelesene mit einer Schwingung verband, die Resonanzen in Bewusstseinsschichten trug, die ihr im Moment nicht zugänglich waren.
Die Gedanken kehrten zu ihrer Mutter zurück. Die war alt geworden, hatte viel erlebt: noch im Kaiserreich geboren, die Weimarer Republik, den Hitler, den Krieg, die Kommunisten und zuletzt das wiedervereinigte Deutschland. Ritas Vater hatte das nicht mehr erlebt. Zu lange war er schon tot. Anders als zu ihm hatte sie den Kontakt zu ihrer Mutter nie verloren. Sie war Rita immer Mutter geblieben.
Rita war vom Bahnhof direkt zum Friedhof gegangen. Dort arbeiteten Männer an einem ausgehobenen Grab.
»Findet hier das nächste Begräbnis statt?« Die Männer nickten, sprachen nicht, verständigten sich durch Blicke und Gesten. , dachte Rita, . Über diesen Gedanken verwundert, vielleicht sogar etwas irritiert (), gab sie dem Wunsch zu lachen nicht nach.
Die ersten Trauergäste sammelten sich in der Friedhofskapelle. Von Blumen gerahmt, zog ein Foto ihrer Mutter den Blick an. Sie kannte dieses Bild. Es war nicht neu. Vor zwölf Jahren war es in Amsterdam entstanden. Sie hatte es selbst aufgenommen, als ihre Mutter sich im Keukenhof (diesem niederländischen Tulpenparadies) der Gefahr aussetzte, Maßstab und Orientierung zwischen floralen Landschaften zu verlieren. So exaltiert hatte Rita ihre Mutter noch nie erlebt.
Sie wunderte sich, das Bild hier zu finden, und es freute sie. Ja, es traf ihre Mutter gut. , dachte Rita, stieß sich aber an der Formulierung »ihr Wesen« und ersetzte es durch »ihre Art«, was leichter klang. Die Stimmung, die das Bild vermittelte, spannte sich für alle, die aufmerksam waren, zwischen Augen und Mund ihrer Mutter auf. Hervorgerufen durch eine Irritation, hinter der sich ein Widerspruch auftat. Harmonisch leicht vibrierende Linien liebevoll und gütig blickender Augen kreuzten sich mit dem harten Doppelstrich einer Mundpartie, die eine Strenge und Bedingungslosigkeit suggerierte, die so gar nicht zum Versprechen der Augen passen wollte.
Rita drang tiefer in das Bild ein. Es sprach zu ihr – was sie zu hören glaubte, war ihre Mutter. Genauer: Rita sprach für ihre Mutter. Noch genauer: Sie sprach für sich. Entwarf sich ihre Mutter neu. Fand Erklärungen für das Widersprechende. Die Irritation wurde in Gewissheiten eingebettet, dem Widerspruch wurden die Pole genommen. Verklärt Trauer?
Ein- bis zweimal im Jahr hatte sie ihre Mutter ganz für sich gehabt. Als Rentnerin konnte die alte Dame mit beantragten Papieren ganz legal in die so genannte BRD ausreisen. Was den Behörden der DDR nicht bekannt werden sollte, war die Existenz eines Reisepasses der Bundesrepublik Deutschland, ausgeschrieben auf den Namen ihrer Mutter. Im Nachklang längst revidierter Alleinvertretungsansprüche nahm die Bundesregierung das Recht in Anspruch, für Gesamtdeutschland zu sprechen. Als Nebeneffekt ging man bis 1990 davon aus, dass ein DDR-Bürger automatisch...