Frölich / Döpfner / Banaschewski | ADHS in Schule und Unterricht | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 184 Seiten

Frölich / Döpfner / Banaschewski ADHS in Schule und Unterricht

Pädagogisch-didaktische Ansätze im Rahmen des multimodalen Behandlungskonzepts

E-Book, Deutsch, 184 Seiten

ISBN: 978-3-17-038348-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Viele Studien haben mit genetischen, neurobiologischen und -psychologischen Befunden zum besseren Verständnis von ADHS beigetragen. Doch es fehlt nach wie vor an theoriegeleiteten, praxistauglichen Interventionen, die es Lehrpersonen ermöglichen, aus einer vertieften Kenntnis der neurobiologischen Ursachen heraus effektive pädagogische und didaktische Maßnahmen im schulischen Bereich abzuleiten. Dabei geht es auch um motivationale und gedächtnisbezogene Aspekte. Das Buch verbindet aktuelle Forschungsergebnisse mit pädagogisch-didaktischen Konsequenzen und handlungsanleitenden Schritten.
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2          Ursachen und Entwicklung der ADHS
Die verursachenden Grundlagen der ADHS werden in einem Zusammenspiel komplexer psychosozialer, biologischer und psychosozialer Faktoren vermutet, im Sinne eines biopsychosozialen Störungsmodells. Grundsätzlich ist von einer erhöhten biologischen Vulnerabilität, d. h. Anfälligkeit, eine ADHS zu entwickeln, auszugehen, in welche sowohl genetische als auch neurobiologische Faktoren (z. B. weitere von einer ADHS betroffene Familienmitglieder, Frühgeburtlichkeit, Noxen während der Schwangerschaft) einfließen. Die ADHS-Symptomatik manifestiert sich häufiger in klinisch signifikanter Form, wenn eine starke Disposition dazu vorliegt. In diesen Fällen sind die Kinder bereits sehr früh in der Entwicklung auffällig, z. B. in Form ausgeprägter Schlafstörungen im Säuglingsalter sowie starker motorischer Unruhe und Impulsivität bereits im Kleinkindalter. In den meisten Fällen spielt für die Symptomausprägung aber auch eine unzureichende äußere, pädagogische Steuerung eine wichtige Rolle als auch im schulischen Verlauf der Grad der Anforderungen an das Kind im Hinblick auf eine angemessene Regulationsfähigkeit der Aufmerksamkeit sowie der Impulskontrolle. Je höher die diesbezüglichen Anforderungen sind, desto eher wird die ADHS-Symptomatik erfahrungsgemäß beeinträchtigend zum Vorschein kommen. Umgekehrt ergeben sich hieraus natürlich auch durchaus Ansätze für kompensatorische Einflüsse. Im Einzelnen können folgende pathogenetisch, d. h. ursächlich wirksame Faktoren beschrieben werden. 2.1       Genetische Aspekte
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen weisen eine stark erhöhte genetische Belastung auf. Hierzu einige Häufigkeitsangaben: Das Risiko, an einer ADHS zu erkranken, ist 8-fach erhöht bei Verwandten ersten Grades von Kindern, die von einer ADHS betroffen sind (Mick & Faraone, 2008; Waldman & Gizer, 2006). Zwischen 10 und 35 % der Geschwister und der Eltern von Kindern mit einer ADHS sind selbst von dem Störungsbild betroffen (Faraone et al., 1995). Kinder von Erwachsenen mit einer ADHS haben ein Risiko von 40 bis 60 %, selbst betroffen zu sein (Kessler et al., 2006). Hervorzuheben ist zudem, dass Begleitstörungen, namentlich Störungen des Sozialverhaltens, Substanzmissbrauch und depressive Störungen, verstärkt bei Familienangehörigen auftreten, deren Kinder von einer ADHS in Verbindung mit einer Störung des Sozialverhaltens betroffen sind (Waschbusch, 2002). Es wird vermutet, dass sogenannte hyperkinetische Störungen des Sozialverhaltens, bei denen eine ADHS in Kombination mit einer Störung des Sozialverhaltens auftritt, einen unabhängigen Subtyp der ADHS darstellen. Sowohl Adoptionsstudien als auch Zwillingsstudien weisen eine hohe Heritabilität (Erblichkeit) auf von 0.76. Dieser Grad der Erblichkeit entspricht ungefähr dem, wie er vergleichsweise für die Körpergröße veranschlagt wird (0.8 bis 0.91) und ist sogar höher als der für die Intelligenz (0.55 bis 0.70) (Faraone et al., 2005). Dies bedeutet, dass ADHS zu denjenigen psychischen Störungen gehört, welche mit am stärksten durch genetische Faktoren beeinflusst werden. Die verbleibenden 20 bis 25 % der phänotypischen Varianz2 erklären sich durch sozialisationsbedingte und sozioökonomische Faktoren als auch individuelle Faktoren, wie Frühgeburtlichkeit oder pränatale Schädigungen durch Alkohol- oder Substanzmissbrauch (Waldman & Gizer, 2006). Molekulargenetische Analysen von Kandidatengen3-Studien weisen auf eine Beteiligung von Genen hin, die Rezeptoren und Transporter des katecholaminergen und serotonergen Transmittersystems kodieren (Faraone et al., 2005; Gizer, Ficks & Waldman, 2009). Genomweite Assoziationsstudien fanden eine Vielzahl weiterer potenzieller Risikovarianten und lassen vermuten, dass etwa 40 % der genetisch bedingten Varianz durch häufige Varianten (Frequenz > 5 %), die jeweils für sich nur eine geringe Risikoerhöhung bedingen, erklärbar ist (Neale et al., 2010; Thapar, Cooper, Eyre & Langley, 2013). Auch seltene (Frequenz < 1 %) Risikoallele und Kopienzahlvarianten (copy number variants), d. h. das Vorliegen bestimmter Gene in erhöhter oder verringerter Kopienzahl, erhöhen das Risiko. Sie besitzen zwar individuell oder innerhalb einer Familie oft stärkere Effekte, erklären jedoch für die Gesamtpopulation nur wenig Varianz (Banaschewski et al., 2017). Auch sind einige genetische Syndrome (z. B. fragiles X-Syndrom, Mikrodeletionssyndrom 22q11, tuberose Sklerose, Williams-Beuren-Syndrom) bekannt, welche mit einer ADHS-Symptomatik assoziiert sind (Faraone et al., 2015; Thapar & Cooper, 2016. Zusammenfassend weisen die vorliegenden Befunde auf einen polygenetischen Vererbungsmodus4 hin, bei dem verschiedene Gene einen signifikanten, aber jeweils individuell geringen Anteil beim Zustandekommen des genetischen Risikos für eine ADHS haben. Bei der ADHS liegt mithin ein komplexer Erbgang vor und das Störungsbild ist höchstwahrscheinlich durch das Zusammenwirken multipler Genvarianten einerseits miteinander, zum anderen aber auch mit Umweltrisiken bedingt (Döpfner, Frölich & Lehmkuhl, 2013). Insofern sind genetische Faktoren zunächst wichtige Bedingungsfaktoren für die entstehenden neuroanatomischen und neuropsychologischen Defizite, welche der AHDS zugrunde liegen. Umweltinteraktionen beeinflussen aber höchstwahrscheinlich, wie stark das klinische Bild ausgeprägt ist ( Kap. 2.3 und  Kap. 2.4). Abbildung 2.1 veranschaulicht die Interaktion zwischen genetischen Anlagen, Umwelteinflüssen und ihren Auswirkungen auf die klinisch beobachtbare Symptomatik der ADHS ( Abb. 2.1). Abb. 2.1: Ausprägungsgrad einer ADHS in Abhängigkeit genetischer und umweltbezogener Risikofaktoren (modifiziert nach Williams et al., 2012) 1) Neurobiologische Krankheitskorrelate, die stabil über die Zeit sind und genetisch beeinflusst sind. Dabei wird davon ausgegangen, dass phänomenologisch identische oder ähnliche Störungen unterschiedliche genetische Ursachen haben können. 2) Das äußere Erscheinungsbild eines Organismus (sowohl genetisch bedingt als auch durch Umweltfaktoren und psychologische Einflüsse) Abbildung 2.2 zeigt Störungen der betroffenen neuronalen Netze bei der ADHS ( Abb. 2.2): Abb. 2.2: Störungen neuronaler Netze bei der ADHS (Döpfner, 2005) Schlussfolgerungen für die pädagogische Praxis
Pädagogisch relevant sind die beschriebenen Aspekte dahingehend, dass kein genetischer Determinismus zugrunde gelegt werden darf. Eher soll angesichts der Befunde verdeutlicht werden, dass die betroffenen Kinder mit einer unterschiedlich stark ausgeprägten, angeborenen Disposition ausgestattet sind, die von ihnen, je jünger sie sind, nur zu einem begrenzten Ausmaß aus eigener Anstrengung kompensiert werden kann. Stattdessen ist es unter der Grundannahme einer angeborenen, vererbten Anlage umso wichtiger, dass pädagogische Hilfestellungen zur Verringerung der Ausprägung der Kernsymptome und ihrer Folgeprobleme angeboten werden. Hinzu kommt, dass in der Zusammenarbeit von den Lehrpersonen und Therapeutinnen bzw. Therapeuten mit den Eltern der betroffenen Schüler in erhöhtem Ausmaß damit gerechnet werden muss, dass auch die Eltern von dem Störungsbild betroffen waren oder sind, was im konkreten Fall die Umsetzbarkeit von anempfohlenen pädagogischen und therapeutischen Ratschlägen oder Interventionen durch diese erheblich einschränken kann. Des Weiteren ist in vielen Fällen von einer insgesamt erhöhten Rate psychischer Störungen in den Familien der betroffenen Schüler auszugehen mit der Folge einer allgemein erhöhten psychosozialen Belastung und verringerten Belastbarkeit der Angehörigen. Bei der Planung therapeutischer wie pädagogischer Maßnahmen kommt dieser Betrachtungsweise eine eminent wichtige Bedeutung zu, denn beim Vorliegen zusätzlicher psychischer Störungen in der Familie, insbesondere, wenn die Eltern oder andere Geschwister ebenfalls von einer ADHS betroffen sind, sind im Regelfall viel umfangreichere, aufeinander abgestimmte Maßnahmen notwendig, sei es durch Entlastung der Eltern in der Erziehung der Kinder, sei es, dass diese dazu ermutigt werden, für sich selbst therapeutische Hilfe und Rat...


Priv.-Doz. Dr. Dr. Jan Frölich, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie und Kinderheilkunde, ist in freier sozialpsychiatrischer Praxis in Stuttgart niedergelassen. Professor Dr. Manfred Döpfner, Dipl.-Psych., ist leitender Psychologe der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Köln. Professor Dr. med. Tobias Banaschewski ist Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim.


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