E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Fritz Wortlos
2. Auflage 2022
ISBN: 978-3-347-60754-5
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit Schweigen überlebt
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-347-60754-5
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Burnout, Depression, Midlifecrise, Suizidale Gedankenphase - so lautete die Diagnose nach 42 Jahren normalen Durchschnitts-Lebens. Eigene Firma, Familie, Haus, aktives Vereins-Leben und dann folgt der Zusammenbruch. Mit viel Mut fasst der Autor seine Wortlosigkeit in Worte. Als Leser hat man das Gefühl in ein geheimes Tagebuch zu blicken. Streng katholisch in einer Großfamilie aufgewachsen, voller Scham und sehr zurückhaltend. Schon als Kind ständig das Gefühl falsch oder anders zu sein. Ab der frühen Jugend mit viel Alkohol, Essstörungen, dauerhafte Dramen, Unfälle und ständiges Chaos ziehen sich wie ein roter Faden durch dieses Leben. Seltsame Todesfälle und Selbstmord im direkten Umfeld reihen sich in das dramatische Bild und wecken beim Lesen Emotionen. Den drastischen Abschluss der chaotischen Geschichte macht die Erinnerung an Missbrauch in der Kindheit, die nach über vierzig Jahren wieder zurückkommt.
Autoren/Hrsg.
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Einleitung Einige Wochen vor meinem 42. Geburtstag nimmt mein Leben eine drastische Wendung, ohne dass ich überhaupt die geringste Ahnung habe, was eigentlich mit mir passieren wird. Zum Ende des Monats verabrede ich mich zum Abendessen mit einer Geschäftspartnerin, die ich seit etwa zehn Jahren kenne und zu der ich ein freundschaftliches Verhältnis habe. Sie ist selbstständig, viel beschäftigt und meiner Wahrnehmung nach glücklich verheiratet. Es ist das zweite Mal in all den Jahren, dass wir eine solche Verabredung über einen längeren Zeitraum geplant hatten, um unsere Geschäftsbeziehung und Freundschaft zu vertiefen. Doch an diesem Abend ist alles anders. Der reservierte Tisch steht inmitten eines gemütlichen Weinlokals, einer alten Fachwerkscheune mit einem behaglichen Kachelofen und eingerichtet mit rustikalen Holzmöbeln, alten landwirtschaftlichen Geräten und Werkzeugen. Es ist bis auf den letzten Platz belegt. Wir unterhalten uns sehr angeregt über Gott und die Welt. Mir fällt überhaupt kein Unterschied zu anderen Terminen mit ihr auf. Doch dann steht plötzlich, wie aus dem Nichts die Kellnerin am Tisch und fragt ganz vorsichtig: „Entschuldigen Sie bitte, dürfte ich bei Ihnen abkassieren? Ich würde gerne Feierabend machen.“ Erst jetzt wird mir bewusst, dass das ganze Restaurant offensichtlich schon seit längerer Zeit leer und dunkel ist und dass das einzige Licht nur an unserem Tisch noch brennt. Als wir am Auto ankommen, umarmen wir uns zum Abschied, gefühlt etwas länger und herzlicher und mit festerem Druck als sonst. Ich steige in mein Auto und mit jedem Meter, den ich von diesem Ort wegfahre, verstärkt sich in mir ein Gefühl, das ich so noch niemals in meinem Leben vorher hatte. Es fühlt sich an, als würde etwas in mir fehlen. Ich kann dieses Gefühl nur mit einer tiefen Einsamkeit und Traurigkeit beschreiben, da ich keinen Vergleich zu diesem Zeitpunkt habe. Wie aus dem Nichts fange ich während der Fahrt an zu weinen wie ein kleines Kind. Vor der Haustür angekommen, sitze ich völlig aufgelöst im Auto und habe das Bedürfnis, so weit wegzufahren, wie es dieses Auto zu leisten vermag. Seit Jahren verspüre ich jeden Abend auf dem Heimweg das Gefühl: Hier bin ich nicht zu Hause. In dieser ausgeprägten Intensität habe ich dieses Gefühl allerdings noch nie zuvor wahrgenommen. Ich ringe mich dazu durch, die Haustür aufzuschließen, und finde mich in einer surrealen Situation wieder. Diese Situation, die mir zwanzig Jahre lang vertraut und völlig normal erschien, fühlt sich jetzt plötzlich unwirklich und weit entfernt an: Es ist spät in der Nacht und im Wohnzimmer läuft der Fernseher. Bärbel liegt mit Kopfhörern bewaffnet, schlafend und schnarchend auf der Couch. Ich lasse sie einfach liegen, wie ich es oft tue, und gehe ins Bett. Am nächsten Morgen fühlt sich mein Leben auf eine merkwürdige Art seltsam fremd an. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist oder was sich verändert haben könnte. Der Umgang mit den Menschen um mich herum, besonders mit Bärbel, ist distanziert und sachlich. Plötzlich nehme ich Gegebenheiten vollkommen anders wahr, die bis dahin für mich „normaler Alltag“ waren. Ich habe ihr jahrelang jeden Morgen einen kleinen Zettel geschrieben, selbst wenn nur „Guten Morgen Süße!“ darauf stand. Jetzt stehe ich vor dem Blatt Papier und lege es wieder weg. Nichts will aus dem Stift kommen. Mir fällt nichts ein, was ich schreiben könnte. Und von einem „Wollen“ kann hier schon gar keine Rede sein. Stattdessen stehe ich mit meiner Geschäftspartnerin Thilda seit unserem Abendessen regelmäßig per WhatsApp in Kontakt. Ich schreibe ihr von meinem Gefühl in jener Nacht und frage sie, ob es ihr auch so geht und was ich nun damit anfangen soll. Ich erhalte keine Antwort und bin umso mehr überfragt. In der zweiten Januarwoche fahre ich mit Bärbel und den Kindern für fünf Tage nach Holland in ein Familienresort. Es fühlt sich für mich an wie im Knast. Und die Tatsache, dass Bärbel hier kein Sofa hat, auf dem sie vor dem Fernseher einschlafen kann, sondern stattdessen jeden Abend neben mir im Bett liegt, macht mich schier wahnsinnig. Irgendwie fühlt es sich falsch an, und mein Kopf versucht ununterbrochen, eine Lösung für die dauernde Frage zu finden: „Was ist hier eigentlich los???“ Das Gefühl, in meinem eigenen Haus „nicht dazuzugehören“, wird in mir zunehmend stärker. Allerdings kann ich es immer noch nicht einordnen. Die Wochen vergehen. Der Kontakt mit Thilda wird nun häufiger als in den Jahren zuvor. 2011 ließ ich mich bei ihr zum Körpertherapeuten ausbilden, und neuerdings unterstütze ich sie bei Seminaren, helfe beim Auf- und Abbau und verstehe mich hervorragend mit ihrem Mann. Die beiden sind ein großartiges Team und ergänzen sich in vielerlei Hinsicht unglaublich gut. Bärbel wird eifersüchtig. Das war immer schon so, aber aus meiner persönlichen Wahrnehmung heraus war es völlig unbegründet. Mitte März wirft sie mir in einem Gespräch eine Affäre mit Thilda vor. Ich bin stinksauer und merke stattdessen, dass sie permanent mit ihrem Handy beschäftigt ist. Das erste Mal in über zwanzig Jahren frage ich sie: „Was soll der Scheiß? Ich habe eher das Gefühl, Du hast selbst ein Ding am Laufen und willst von Dir ablenken …!“ Es ist ein Sonntag und an diesem Abend sitzen wir gemeinsam vor dem Fernseher. Wie so oft schläft sie und ihr Handy gibt einen lauten Signalton von sich. Als ich den Ton ausschalte, erscheint darunter eine offene WhatsApp-Nachricht mit einem Text, der eine Affäre erkennen lässt. Und in diesem Moment entscheide ich in Sekundenschnelle: „Es ist Zeit zu gehen.“ Nach einer Nacht Bedenkzeit steht mein Entschluss fest. Es ist eine der größten Entscheidungen in meinem gesamten Leben, denn ich lasse meine geliebten drei Kinder Hanna, Jan und Lena bei ihr zurück. Nach außen sind wir eine Bilderbuchfamilie: eine eigene Firma, ein kleines Haus gebaut, die Finanzierung bei der Bank, in die Dorfgemeinschaft integriert, aktiv im Vereinsleben … Klingt nach normalem Durchschnitt. Aber irgendetwas ist in mir anders. Das spüre ich seit vielen Jahren. Wenn ich ganz ehrlich bin, schon immer. Es ist nicht greifbar, nicht begreifbar, nicht bewusst. In einem Gespräch über mein früheres Leben mit meiner inzwischen neuen und wundervollen Partnerin Thilda sage ich einen Satz, der alles verändert. Ich erzähle ihr: „Ich hatte überhaupt keine Gemeinsamkeiten mit Bärbel, aber wir hatten immer guten Sex.“ Thilda schaut mich entgeistert an und fragt: „Fällt Dir denn gar nicht auf, dass Du zwei Dinge in einen Satz packst, die eigentlich nicht zusammenpassen? Die so gegensätzlich sind, dass sie in keiner Weise miteinander in Einklang stehen? Irgendetwas stimmt in Deinem Leben nicht." Gemeinsam begeben wir uns auf die Suche und ich tauche immer tiefer in Fakten ein, die plötzlich in einem völlig neuen Licht stehen. Bis ich eines Tages auf einer Website mit der Überschrift lande: Folgen von sexuellem Missbrauch in der Kindheit Es ist eine lange Liste von kleinen und großen Dingen, die im Leben auftauchen können, wenn man als Kind sexuellen Missbrauch erleben musste. Ich beginne, mich durch etwa hundert Stichpunkte durchzuarbeiten. Mit jeder Zeile werden meine Augen größer. Ich habe eine Gänsehaut am ganzen Körper, in meinem Kopf dreht sich ein Gedankenkarussell, das nicht mehr zu stoppen ist. Bis auf wenige Ausnahmen passt wirklich alles zusammen. Ich habe das Gefühl, dass diese Liste mein eigenes Leben beschreibt. In meinem Inneren ist alles leer und taub wie Stein, und gleichzeitig breitet sich eine unvorstellbare Erleichterung in mir aus. Endlich nach mehr als vierzig Jahren eine Erklärung für das zu finden, was ich mein ganzes Leben lang schon tief in meinem Innern gespürt habe. Ich beginne, reihenweise Bücher zu lesen und das Internet zu durchsuchen, führe unzählige Telefonate und frage meiner Verwandtschaft Löcher in den Bauch. Wieder zeichnet sich ein gefühlter Graben ab. Einerseits finde ich in allen Schriften endlich eine Bestätigung dafür, dass ich mit diesem Gefühl nicht allein auf dieser Welt bin. Demgegenüber steht die überwiegende Mehrheit meines direkten Umfelds mit der folgenden Kernaussage: So etwas gibt es bei uns nicht! Nicht in unserer Familie. Wir haben uns doch alle lieb. So etwas machen wir nicht. Das gibt es nur im Fernsehen! Darum habe ich beschlossen, ein paar Erlebnisse und Fakten aus meinem Leben zu Papier zu bringen, die zeigen, wie viele einzelne kleine Dinge zu einem so großen Ganzen führen. Solltest Du, liebe Leserin und lieber Leser, Dich in einigen Passagen dieses Buches wiedererkennen, dann sei gewiss, es gibt einen Weg aus dem Drama und in die Freiheit. Ja, das eine oder andere Tal muss...