Fried Am Anfang war der Seitensprung
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-14576-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-641-14576-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Frau will mehr vom Leben! Annabelle hat einen netten Mann, zwei Kinder, ein Reihenhaus und einen Halbtagsjob. Doch von einem Tag auf den anderen bricht ihre heile Welt zusammen.
Autoren/Hrsg.
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EINS Das Verhängnis näherte sich unaufhaltsam. Es würde über mich hereinbrechen wie jedes Jahr, und ich würde es nicht aufhalten können. Oder doch? Ich nahm einen Schluck Kaffee, schmierte mir noch ein Brötchen und warf einen Blick auf die Zeitung, hinter der sich Friedrich, mein Mann, verschanzt hatte. Draußen war alles grau in grau. Ein typisch deutscher Winter. In einer Woche war Weihnachten. »Was machen wir diesmal?«, fragte ich die Zeitung. »Was meinst du?«, vernahm ich Friedrichs Stimme hinter der Wand aus Papier. »Du weißt genau, was ich meine.« »Ach so, das. Keine Ahnung.« »Wie wär’s mit Karibik?«, schlug ich vor. »Zu teuer. Außerdem …« »… die Kinder wollen einen Weihnachtsbaum und Geschenke und Schnee und nicht im Sonnenschein unter einer Palme sitzen, ich weiß«, beendete ich seinen Satz. Ich kannte diese Unterhaltung. Wir führten sie jedes Jahr. »Ich könnte Lamm kochen«, fuhr ich fort. »Sie erträgt den Geruch nicht.« »Ich auch nicht.« »Einer von uns könnte eine infektiöse Lungenentzündung bekommen!« »Lungenentzündung ist nicht ansteckend. Wenn du nicht willst, dass sie kommt, dann sag es ihr.« »Ich traue mich nicht«, jammerte ich. »Sie ist meine Mutter.« Endlich ließ Friedrich die Zeitung sinken. »Mein Gott, Anna, jedes Jahr das gleiche Theater! Es wird schon nicht so schlimm werden. Bisher hast du jedes Weihnachtsfest überstanden.« Klar, mit einer Nervenkrise. Friedrich fand es gar nicht so übel, wenn Queen Mum zu Besuch kam. Das hing vermutlich damit zusammen, dass wir dann immer besonders leidenschaftlichen Sex hatten. Es machte mir Spaß, meine Mutter in Verlegenheit zu bringen, indem ich besonders laut stöhnte und schrie, sodass sie es im Zimmer gegenüber hören musste. Friedrich hielt mir die Seite mit Immobilienanzeigen unter die Nase. »Wir sollten endlich aufs Land ziehen.« Wir wohnten in einer Vorort-Reihenhaussiedlung, die die Nachteile des Stadtlebens mit den Nachteilen des Landlebens verband, ohne einen einzigen ihrer Vorteile aufzuweisen. Es gab eine Menge Autolärm und Abgase, weil jede Familie glaubte, mindestens zwei Autos besitzen zu müssen, und gleichzeitig gab es weit und breit keine anständige Kneipe, kein Kino und außer einem Supermarkt keinen einzigen Laden. Zugegeben, wir hatten, wovon viele Leute träumen: einen Garten. Nur hatte ich leider nicht den geringsten Sinn für Gartenpflege, und so wucherten ein paar Stauden und Büsche, die noch von unseren Vormietern stammten, ungehindert vor sich hin. Hie und da wurde der Rasen gemäht, und im Sommer stellte ich ein paar Töpfe mit Rosen und Begonien auf die Terrasse. Ich hätte am liebsten mitten in der Stadt gewohnt, aber Friedrich hatte sich bisher all meinen Überredungsversuchen standhaft widersetzt. »Denk an die Kinder!«, ermahnte er mich jetzt wieder. »Die Kinder?« Ich lachte auf. »Glaubst du, Lucy will mit Bauernjungs in der Dorfdisco knutschen?« »Knutschen?« Mein Mann sah mich entgeistert an. »Lucy ist fünfzehn!« »Wann hattest du deinen ersten Zungenkuss?« »Mit elf.« »Na bitte. Und Jonas hat mir gestern mitgeteilt, dass er beabsichtigt, demnächst einen Computerkurs zu machen. Das könnte er auf dem Land bestimmt auch nicht.« »Computerkurs? Der kann doch noch nicht mal lesen.« »Erstens kann er es fast schon, und zweitens bedient er deinen PC wie ein Alter. Kürzlich hat er einen ganzen Nachmittag lang Tetris gespielt.« »Ich konnte mit fünf übrigens auch schon lesen, das hat er von mir«, sagte Friedrich stolz. Ich stand auf, um neue Butter zu holen. Im Vorbeigehen küsste ich ihn auf seinen schütter werdenden Haarschopf. »Du warst ja sowieso ein Wunderkind!« Unser Sohn war zum Glück einigermaßen normal. Vorausgesetzt, es ist normal, dass ein Fünfjähriger mit einem Vogelbestimmungsbuch und dem Fernglas durch den Garten rennt. Lucy jedenfalls war die normalste Fünfzehnjährige, die man sich vorstellen kann. Aufsässig, frech und miserabel in der Schule. Ich fragte mich, ob ich in diesem Alter auch so unausstehlich gewesen war. In ein paar Tagen würde ich Gelegenheit haben, mich bei meiner Mutter danach zu erkundigen. »Wo sind sie überhaupt?« Friedrich sah sich erstaunt um, als hätte er jetzt erst bemerkt, welch himmlische Ruhe diesen Sonntagmorgen auszeichnete. Lucy hatte bei ihrer Freundin übernachtet, und Jonas war schon seit acht bei Goofy, seinem Freund aus der Nachbarschaft. »Sturmfreie Bude?« Friedrichs Augen begannen zu glänzen. Ich betrachtete Friedrichs Hände, die noch immer leicht gebräunt waren, obwohl der Sommer schon eine Ewigkeit vorbei war. Er fuhr sich durch sein vom Schlafen verstrubbeltes Haar, das reichlich graue Einsprengsel hatte. Es stand ihm gut, fand ich. Mit vierzig musste man nicht mehr aussehen wie ein Junge. Ich dachte an seinen Körper, der kräftig und wohlproportioniert war. Ich hatte ihn immer als sehr anziehend empfunden, vielleicht waren wir deshalb noch verheiratet. Jetzt beugte ich mich runter, schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn aufs Ohrläppchen. Mit einer schnellen Bewegung setzte ich mich rittlings auf ihn. Mein Bademantel öffnete sich. Die Zeitung segelte in mehreren Einzelteilen zu Boden und kam raschelnd auf. Ich nahm Friedrichs Gesicht in beide Hände und drückte meinen Mund auf seine Lippen. Mit einem wohligen Seufzer zog er mich an sich. Wenige Augenblicke später taten wir, was wir seit dem Tag unserer ersten Begegnung am liebsten taten und was schon damals für Ärger gesorgt hatte. »Wer ist der Kerl?« Mein Vater funkelt meine Mutter wütend an, als wäre sie schuld daran, dass seine Tochter mit einundzwanzig schwanger geworden ist. »Er studiert Biochemie«, sage ich. »Seit wann kennst du ihn?« »Sechs Wochen.« Meine Mutter stöhnt auf. »Was machen die Eltern?« »Weiß nicht. Interessiert mich auch nicht.« Trotzig schiebe ich die Unterlippe vor. »Aber mich!« Mein Vater lässt seine flache Hand krachend auf den Tisch fallen und zuckt heftig mit den Augenlidern, was ein Zeichen dafür ist, dass er sehr wütend ist. »Wie stellt ihr euch das vor? Wer soll euch finanzieren?« »Vielleicht kann ich nach der Geburt die Banklehre zu Ende machen«, schlage ich schüchtern vor. Ich denke natürlich keine Sekunde daran, die Lehre zu beenden. Dass ein Baby mich davor bewahren würde, zwischen Bilanzen und Kreditanträgen zu verschimmeln, war schon Grund genug, es zu bekommen. »Und wovon wollt ihr bis dahin leben? Das dauert doch noch Jahre, bis der Junge was verdient!« »Bis dahin müsst ihr mich eben unterstützen.« Hab dich bloß nicht so, denke ich wütend. Schließlich bist du ein erfolgreicher Architekt, verdienst eine Menge Geld, und ich bin deine einzige Tochter. »Wie konnte das bloß passieren?«, fragt meine Mutter mit ersterbender Stimme. »Mein Gott, Mummy, wie so was halt passiert! Wir haben zusammen geschlafen und nicht verhütet.« Sie macht eine abwehrende Handbewegung. »Hör auf! Keine Einzelheiten, bitte! Schlimm genug, dass heute jeder mit dem Erstbesten ins Bett springt!« »Friedrich war nicht der Erstbeste!«, lächle ich. »Ich will gar nicht wissen, wie viele Männer es in deinem Leben schon gegeben hat!«, kreischt meine Mutter. Gespräche über Sex sind ihr zuwider. Vermutlich ist ihr Sex zuwider. »Musst du das Kind denn kriegen?«, fährt sie, etwas ruhiger, fort. »Ich liebe Friedrich, wir werden heiraten, und alles ist in Ordnung. Ihr solltet euch freuen!« »Und deine Karriere?« »Welche Karriere?« »Ja, glaubst du denn, wir haben umsonst die ganze Schulzeit mit dir durchlitten und jahrelang den teuren Nachhilfeunterricht bezahlt?« Ihr Blick ist ein einziger Vorwurf. Das ist also das Problem. So viel haben sie investiert, und jetzt bringt das undankbare Balg keinen Ertrag. Kein Studium, mit dem man vor Bekannten protzen kann, keine Urkunde zum Übers-Bett-Hängen, kein Doktortitel zum Angeben. »Ich kann ja später noch studieren«, sage ich erschöpft und hoffe, dass sie endlich Ruhe gibt. Aber sie jammert weiter. »Alles hätte dir offengestanden, die Universität, eine Karriere in der Wirtschaft, Erfolg und Anerkennung …« »… alles, was dir versagt geblieben ist! Ich weiß, dass du mir deine Karriere geopfert hast, du hast es mir oft genug vorgehalten.« »Und – du – bist – im – Begriff – den – gleichen – Fehler – zu – machen«, deklamiert Mummy mit theatralischem Vibrato in der Stimme. »Sag – später – nicht – ich – hätte – dich – nicht –...