Fricke / Dorner / Gießmann-Bindewald | Werkbuch Diakonisches Lernen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 207 Seiten

Fricke / Dorner / Gießmann-Bindewald Werkbuch Diakonisches Lernen

E-Book, Deutsch, 207 Seiten

ISBN: 978-3-647-99692-9
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Das Werkbuch vereint Theorie- und Praxisteil, es liefert sowohl die didaktische und methodische Basis für diakonisches Lernen im Unterricht wie auch Beispiele für die konkrete Umsetzung in der Praxis. Dabei werden gelungene Projekte prototypisch vorgestellt und zugleich Muster, Hinweise zu rechtlichen Formalitäten und Tipps für die Organisation gegeben. EIn Geleitwort von Heinrich Bedford-Strohm eröffnet den Band, Elisabeth Bucks Hinführung zum Diakonischen Lernen aus Sicht des Bewegten Religionsunterrichts rundet ihn ab.Die wichtigsten Inhalte im Überblick:Darstellung des Dreischritts 'Einstimmung - Aktion ­- Reflexion'Inhaltliche und methodische Vorschläge und Hilfestellungen für die UnterrichtgestaltungLernen in und außerhalb des KlassenzimmersHinweise zur 'Rollenverteilung' (Lehrer, Schüler, Anleiter-Partner)Material (Crossmediale Kopier- und Arbeitsvorlagen, auch zum Download)Organisationsleitfaden für verschiedene Schulformen, Projekte, SeminareCheckliste aus der Sicht der sozialen EinrichtungMaterial und Links zur Berufs- und Studienorientierung

Dr. Michael Fricke ist Professor für Evangelische Theologie / Religionspädagogik an der Universität Regensburg.
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4. Didaktik des Diakonischen Lernens 4.1 Soziale Bildung: Klippen und Wege Diakonisches Lernen ist soziale Bildung in christlicher Perspektive.84 Aber wie »funktioniert« soziale Bildung? Wie lassen sich Werte und Haltungen an Kinder und Jugendliche »weitergeben«? Beginnen wir mit der Praxis: 4. Klasse Religion. Die Kinder hören von der Religionslehrerin die Geschichte Wo die Liebe ist, da ist Gott von Leo Tolstoi.85 Sie handelt von Martin, einem armen Schuster. Martin wohnt in einem Keller, der ihm zugleich als Laden und Werkstatt dient. Er arbeitet von früh bis spät, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Erst am Abend gönnt er sich ein wenig Muße und liest dabei in der Bibel. Besonders gern vertieft er sich in die Geschichten von Jesus. Eines Abends ist er schon am Einschlafen, als er eine Stimme hört, die zu ihm sagt: »Martin! Sieh morgen auf die Straße. Ich werde kommen.« Am nächsten Tag lädt Martin Hungrige und Frierende, die an seinem kleinen Laden vorbeikommen, zu sich ein. Er versorgt sie mit Nahrung und Kleidung. Verfolgte nimmt er in Schutz und ermöglicht Versöhnung unter Streitenden. Allen zeigt er sein Mitgefühl und handelt barmherzig an ihnen. Abends vernimmt er wieder jene Stimme vom Tag zuvor, die ihm nun deutlich macht, dass ihm in diesen Menschen Christus selbst begegnet ist. Die Geschichte endet mit dem für das Konzept christlicher Barmherzigkeit fundamentalen Bibelzitat nach Mt 25,40: »Das, was du dem Geringsten meiner Schwestern und Brüder getan hast, das hast du mir getan.« Die Religionslehrerin wendet sich nun an die Schüler und sagt: »Weil wir in jedem Menschen ein Ebenbild Gottes sehen können, sind wir dazu aufgerufen, dem anderen zu helfen.« Die Klasse schweigt. Doch eine Schülerin meldet sich und sagt: »Aha, wohl auch bei Adolf Hitler?« Die Lehrerin ist sichtlich aus dem Konzept gebracht, nickt nur kurz und gibt den Kindern einen Arbeitsauftrag.86 Was ist hier geschehen? Eine Spannung ist zu spüren. Die Lehrerin erzählt eine Geschichte vom Helfen. Sie richtet dann den Appell zum Helfen an die Kinder. Die Schüler und Schülerinnen reagieren mit Schweigen und einer provokanten Gegenfrage. Reflektieren wir die Stunde vor dem Hintergrund dreier religionspädagogischer Modelle vom sozialen und ethischen Lernen. Das erste Modell ist die »Wertvermittlung«87 oder auch »Wertübertragung«88 Dabei werden Schüler in einen Kanon von überlieferten Werten eingewiesen und sollen sich ihn aneignen. Es handelt sich somit um »Tugenderziehung«89, durch die der Wille des Schülers geprägt werden soll. Dies kann kognitiv, affektiv und voluntativ akzentuiert werden. Beim kognitiven Schwerpunkt geht es um die Verarbeitung von Informationen. Die Lernenden sollen Werte kennenlernen, sie reproduzieren und klassifizieren können.90 Die affektive Akzentuierung hat das Ziel, Werte einzuprägen und zu internalisieren. Inhaltlich wird an Vorbildern, Tugenden und Idealen gearbeitet, so wie das im Unterrichtsbeispiel mit der Tolstoi-Geschichte der Fall war. Das Lernen an Modellen kann an für das Christentum und im weiteren Sinn für die Ethik prägenden historischen oder zeitgenössischen Persönlichkeiten oder an beindruckenden Menschen aus dem Nahbereich erfolgen, den »local heroes«.91 Bei der voluntativen Ausrichtung schließlich wird versucht, die Willensausrichtung von Kindern und Jugendlichen zu beeinflussen. In jedem Fall legen in diesem Modell die Gesellschaft oder die Familie und im schulischen Bereich der Lehrplan und die Lehrkraft fest, was das Gute ist. Der Lernprozess ist stark von der Lehrkraft gesteuert. Das Menschenbild ist positiv: Man geht davon aus, dass jeder lernen kann, Gutes zu tun, wenn er nur die Regeln und die Werte kennt, nach denen er sich richten muss. Die Problematik dieses Weges liegt auf der Hand. Man nimmt an, dass es allgemeine Werte gibt, die von jedem verinnerlicht werden sollen. Das Individuum und sein spezieller Lernweg werden kaum beachtet. Widerständen gegen den Wertekanon und das passive Rezipieren wird hier keine produktive Funktion zugewiesen. Der zweite Weg ist das Modell der »Wertklärung« (values clarification)92 oder der »Werterhellung«93. Es grenzt sich vom ersten darin ab, dass es vom Einzelnen als lernendem Subjekt ausgeht. »Konkrete moralische Werte und Inhalte sollen nicht vermittelt werden, sondern die Schüler und Schülerinnen sollen ihre eigenen – bewussten oder unbewussten – Wertsetzungen in ihrem bisherigen Leben reflektieren und diese ggf. stärken oder korrigieren. Es geht um Selbstexploration und nicht um Übernahme eines moralischen Kulturgutes.«94 Deshalb sind hier auf der methodischen Ebene Fragen wichtigere Mittel als Instruktionen: »Mit welchen Werten bin ich aufgewachsen? Welche Personen haben mich in meinem ethischen Verhalten geprägt? Welche Werte sind mir heute wichtig? Lebe ich danach?« In diesem Modell soll sich also jeder über seine eigenen Werte klar werden und entsprechend dieser Werte entscheiden und handeln. So kann ein Schüler etwa auch Inkonsistenzen bei sich entdecken und daran lernen. Im Hintergrund steht – ebenfalls – ein positives Menschenbild: »Jeder Mensch wird für fähig gehalten, vernünftige Selbststeuerungsprozesse an sich vorzunehmen und aufgrund einer lebensförderlichen Werte-Einstellung auch lebensförderlich handeln zu können. Außerdem wird jedem zugetraut, ohne gesellschaftlichen und kulturellen Referenzrahmen sich selbst einen Werte-Rahmen für das eigene Leben bilden zu können.«95 Dieses Modell entspricht der modernen Auffassung vom Menschen und seinem Lernen.96 Allerdings: Auch wenn die Betonung der Individualisierung des Lernens ein wesentlicher Erkenntnisfortschritt ist, wohnt diesem Modell die Gefahr inne, dass der Einzelne in einem Wertesubjektivismus und -relativismus versinkt. Soll man sich ganz aus der Tradition »ausklinken«, soll jeder selbst entscheiden, welches Verhalten ethisch geboten ist? Ein dritter Weg ist das »Wertfühlungsmodell«. Es »möchte das Gefühlsleben, besonders Sympathie, Empathie und Rollenreziprozität fördern, um zu einem Urteilen und Handeln ›mit dem Herzen‹ zu bewegen. Durch Sensibilisierung für Selbstwert-, Nächstenwert-, Naturwert- und Menschheitswertgefühle sollen soziale und moralische Einstellungen und Verhaltensweisen gefördert werden.«97 Die Bedeutung des Mitgefühls als Basis ethischer Bildung und ethischen Handelns hat Elisabeth Naurath überzeugend dargelegt. Mitgefühl wird zunächst noch nicht als eine Handlung verstanden, sondern vielmehr als eine Form der Wahrnehmung. Ich nehme den anderen wahr. Ich lasse eine andere Perspektive zu. Ich sehe nicht mehr nur meine Welt, sondern die Welt mit den Augen des anderen. Man könnte auch sagen: Ich lasse den anderen in mein Blickfeld hinein. Ich lasse mich berühren, von dem, was der andere ist, was er erlebt und womöglich erleidet. Die Grundidee beim Mitgefühl ist, dass es sich um eine emotionale Beziehung und Anteilnahme zweier Subjekte handelte.98 Freilich: Mitgefühl kann man nicht von außen »machen«. Das gilt auch für den Kontext Schule und Religionsunterricht. Aber man kann Lerngelegenheiten zur Verfügung stellen, bei denen sich eine Perspektivveränderung ereignet. Durch die Veränderung der Perspektive kann es sein, dass sich auch ein anderes Verhalten einstellt. Nach der Durchsicht dieser drei Wege ergibt sich als Fazit, zunächst für die oben beschriebene Stunde: Es ist gut begründet, eine Geschichte vom Helfen zu erzählen. An ihr kann man sich reiben, man kann sich in ihre (fiktive) Welt hineinversetzen und etwas erleben. Jeder kann individuell für sich Schlüsse ziehen, sich womöglich auch einmal vorstellen, wie das ist und wie es sich anfühlt, wenn man allen Menschen, die einem begegnen, hilft, und wie es sich anfühlt, wenn man in einem Menschen »Christus sieht«. Die Verknüpfung der Geschichte mit einem Appell löst offensichtlich Widerstand aus. Sie hat den Charakter einer Indoktrination. Sie engt die Schüler ein, gibt Urteile vor, lässt wenig eigenen Spielraum übrig. Wenn man sich an die Wand gedrückt fühlt, weicht man aus oder »drückt« zurück, was in der Stunde auch passierte. Damit hat man als Lehrkraft die Kinder und sich selbst in eine Sackgasse geführt. Im Hinblick auf die drei religionspädagogischen Modelle lässt sich festhalten: Wertvermittlung, Wertklärung, Wertfühlung sind wichtig und haben ihre Berechtigung. Vermittlung von Werten ist insofern unverzichtbar, als konkrete inhaltliche Vorgaben, ggf. auch in Form eines überlieferten Wertekanons, für einen Lernprozess notwendig sind. Die Kenntnis der Inhalte ist Voraussetzung für eine Auseinandersetzung und möglicherweise auch Ablehnung. Wer sich intensiv mit Inhalten auseinandersetzt, wird unterscheiden können und nicht in einem resignativen Relativismus (»alles ist gleich«) steckenbleiben. Die Klärung ist unverzichtbar, weil sie den einzelnen Schüler und die einzelne Schülerin aktiviert, über sich selbst und die eigenen Werte, die erworben wurden oder als erstrebenswert angesehen werden, im Austausch mit anderen nachzudenken. Die Fühlung von Werten ist unverzichtbar, weil soziales Lernen auf Wahrnehmung und Einfühlung beruht. Die drei Wege sind also nicht als konkurrierende Modelle, sondern als Komponenten eines Weges zu verstehen, die zur Wertentwicklung führt. Abb. 4: Die zwei Beine des Diakonischen Lernens Fassen wir im Hinblick auf Diakonisches Lernen zusammen. Schüler...


Schreiber-Quanz, Elisabeth
Elisabeth Schreiber ist examinierte Gymnasiallehrerin. Sie arbeitet als Redakteurin für Religionspädagogik in Göttingen.

Dorner, Martin
Pfarrer Martin Dorner unterrichtet Evangelische Religionslehre am Maria-Ward-Gymnasium in Günzburg. Als Projektleiter hat er die bayernweite Initiative Diakonisches Lernen in Zusammenarbeit mit Lehrkräften, Schülern, Verantwortlichen aus Diakonie und Kirche sowie mit Vertretern religionspädagogischer Institutionen aufgebaut.

Fricke, Michael
Dr. Michael Fricke ist Professor für Evangelische Theologie / Religionspädagogik an der Universität Regensburg.


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