Freitag / Bundi / Flick Witzig | Milizarbeit in der Schweiz | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band Band 8 8, 280 Seiten

Reihe: Politik und Gesellschaft in der Schweiz

Freitag / Bundi / Flick Witzig Milizarbeit in der Schweiz

Zahlen und Fakten zum politischen Leben in der Gemeinde

E-Book, Deutsch, Band Band 8 8, 280 Seiten

Reihe: Politik und Gesellschaft in der Schweiz

ISBN: 978-3-03810-448-3
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Milizprinzip ist ein unverzichtbares Wesensmerkmal der Schweizer Beteiligungsdemokratie. Dieses Buch vermittelt Wissenswertes zum Milizamt der Zukunft und gibt eine praktische Handreichung für Politikerinnen, Politiker und Gemeinden.
Das Milizprinzip gilt als ein Grundpfeiler der Schweizer Demokratie. Allerdings wird seit geraumer Zeit landauf landab die schleichende Abkehr der Bürgerinnen und Bürger von den öffentlichen Ämtern und Aufgaben beklagt. Immer mehr Gemeinden bekunden offensichtlich Mühe, Laien dafür zu gewinnen, ihre beruflichen Erfahrungen und Kompetenzen ins Staatswesen einzubringen. Es droht die Erosion des politischen Kapitals der Schweiz.
Dieses Buch liefert wichtige Informationen und Hintergründe zu den Rahmenbedingungen der Milizarbeit aus Sicht der Beteiligten in den lokalen Exekutiven, Legislativen und Kommissionen. Neben Analysen zu den Profilen Miliztätiger werden deren Beweggründe und Überzeugungen erforscht. Zudem präsentiert die Studie Einsichten in die Wirkung von Professionalisierungsbemühungen der Milizarbeit und diskutiert das Milizamt der Zukunft. Grundlage der Untersuchung ist eine Befragung von rund 1800 Miliztätigen in 75 Gemeinden der Schweiz.
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Zielgruppe


Für Politikerinnen und Politiker in Gemeinden sowie Studierende der Politikwissenschaft

Weitere Infos & Material


Kellers Erben – eine kurze Geschichte über das lokale Milizsystem
von Markus Freitag
I
Stellen wir uns einmal vor, es gäbe den Milizpolitiker Benno. Sein Dorf liegt auf einer Anhöhe und zählt rund 2000 Seelen. Vergangenes Jahr wurden etwa 350 Arbeitsplätze registriert. Im Ort gibt es noch einen Volg, zwei Beizen, eine Coiffeuse und einen Bäcker. Die letzte Metzgerei wurde vor fünf Jahren geschlossen. Besonders stolz sind die Einwohnerinnen und Einwohner auf das frisch renovierte Schulhaus, in dem noch immer genügend grosse Primarschulklassen unterrichtet werden. 22 Vereine kümmern sich um den gesellschaftlichen Austausch in der Gemeinde, von den Platzgern über den Landfrauenverein und die Schützengesellschaft bis hin zur Umweltgruppe und zum Fussballverein. Vor 20 Jahren waren es noch über 30. Nachwuchsprobleme und fehlendes Engagement führten aber beispielsweise bei der Männerriege oder beim Jodelklub zur Vereinsauflösung. Nichtsdestotrotz prägen die Vereine mit ihren Festen und Aktivitäten nach wie vor das soziale Miteinander im Dorf. Bereits seit einiger Zeit leiden auch die lokalen Parteien unter Personalmangel. Niemand mehr möchte politische Knochenarbeit an der Basis leisten. Neben den gerupften Parteien bestimmen der fünfköpfige Gemeinderat, die Gemeindeversammlung und die sieben Kommissionen (Bau, Finanzen, Jugend, Sport und Kultur, Rechnungsprüfung, Schule, Soziales) das politische Leben in der Gemeinde. Verkehrstechnisch ist Bennos Heimat mit Bahn, Bus und der nahe gelegenen Autobahn sehr gut erschlossen. Diese vorteilhafte Infrastruktur ist Fluch und Segen zugleich. Zwar lässt sich damit eine Landflucht im grossen Stil vermeiden. Allerdings lockt die nahe Stadt mit ihren attraktiven Freizeitangeboten Jung und Alt und fordert das Miteinander im Dorf zunehmend heraus. II
Die Legislaturperiode neigt sich dem Ende entgegen, und in rund einem halben Jahr stehen Gesamterneuerungswahlen für den Gemeinderat an. Vier von fünf verdienten Mitgliedern beenden ihre Milizkarriere und treten nach zwölf gemeinsamen und teilweise intensiven Jahren aus dem lokalen Entscheidungsgremium zurück. Sie wollen Platz für frische Kräfte schaffen und die letzten Jahre auf dem Weg zur Pensionierung stärker dem Beruf und der Familie widmen. Aber die Rekrutierung neuen Personals für die Exekutive verläuft harzig. Dieses Schicksal teilt Bennos Gemeinde mit gut der Hälfte der Schweizer Kommunen. Am einzig verbliebenen Stammtisch der Gemeinde werden Abend für Abend die Namen valabler Nachfolgekandidatinnen und -kandidaten in den Ring geworfen. Führungserfahrung sollten die Personen mitbringen, im Beruf schon etwas erreicht haben, am besten noch unternehmerisch tätig sein. Wirtschaft und Politik sollten Hand in Hand gehen und sich nicht voneinander entfremden, so des Volkes Meinungskanon. Die Parteizugehörigkeit spielt nur eine nachrangige, bisweilen sogar vernachlässigbare Rolle, eine Verwurzelung im Dorf sollte allerdings gegeben sein. Auch Frauenkandidaturen im bislang von Männern dominierten Gremium würden sich viele wünschen. Für die einen sollten die neu zu Wählenden ferner die Fusion mit der Nachbargemeinde vorantreiben, andere bevorzugen Kandidierende, die aus ihrer Ablehnung der Zusammenlegung keinen Hehl machen. Benno ist gegen die anvisierte Gemeindefusion. Was würde denn dann noch von der lokalen Identität übrig bleiben? Und wohin mit all den örtlichen Brauchtümern wie dem Speckbrotessen bei der jährlichen Holzgant am Berchtoldstag? Benno möchte im Gemeinderat als dessen Präsident verbleiben. Seine Wiederwahl im kommenden Herbst ist so gut wie sicher, nicht nur in Ermangelung anderer geeigneter Personen. Auf seine langjährige Miliztätigkeit angesprochen, leugnet er nicht, dass seine Familie zurückstecken musste. Dabei kommt er auf die Rahmenbedingungen seiner Laientätigkeit zu sprechen. Wie der Grossteil seiner Kolleginnen und Kollegen der lokalen Milizpolitik übt er seine Tätigkeit seit je ehrenamtlich aus. Hauptberuflich ist er vollzeitlich als Finanzchef bei einer Versicherungsfirma in der nahe gelegenen Stadt beschäftigt. Sein Arbeitgeber unterstützt ihn immer mit den nötigen Freiräumen, die es für die Ausübung der Milizarbeit braucht. Benno weiss aber von seinen Kollegen, dass nicht alle Unternehmen der Ausübung eines politischen Milizamts derart wohlwollend gegenüberstehen. Für seine Milizarbeit erhält er eine einkommenssteuerpflichtige, aber sozialversicherungsbefreite Entschädigung und ist im personalrechtlichen Sinn kein Angestellter seiner Gemeinde. Alle zwei Wochen trifft Benno seine Gemeinderäte, sein Pensum als Gemeindepräsident beläuft sich auf etwa zwölf Stunden in der Woche. Spasseshalber hat er einmal seinen durchschnittlichen «Stundenlohn» auf der Grundlage aller Bezüge (Jahrespauschale, Sitzungsgelder, Spesen, Honorare usw.) errechnet und kam dabei auf rund 27 Franken. Benno hat gehört, dass seine Amtskolleginnen und Amtskollegen aus der Gemeindeexekutive im Kanton Luzern teilzeitlich von der Gemeinde angestellt sind, mit einem Beschäftigungsgrad zwischen 20 und 50 Prozent. Ein solches Teilamt wird mit einem regulären Arbeitslohn vergütet, ist einkommensteuerpflichtig und untersteht der Sozialversicherungspflicht. Eine anderweitige Tätigkeit im angestammten Beruf ist dort in der Regel nur im verbliebenen Teilzeitpensum möglich. Sachkundige vermuten in dieser Amtsstruktur mithin einen Grund für den im Vergleich zur Restschweiz höheren Frauenanteil in den lokalen Exekutivämtern des Kantons Luzern. Noch einen Schritt weiter gehen manche Gemeinden in der Ostschweiz, wie Benno bei einer Tagung des Schweizerischen Gemeindeverbands vernommen hat. Im Kanton St. Gallen werden beispielsweise rund drei Viertel aller politischen Gemeinden von Präsidentinnen und Präsidenten im Vollamt geführt. Diese Kolleginnen und Kollegen müssen ihre berufliche Tätigkeit für das fix bezahlte Politisieren in der Gemeinde aufgeben. Ungeachtet der Anstellungsart und der Höhe der Vergütung ist für Benno ohnehin sonnenklar: «Jemand zahlt immer für die Milizarbeit. Sei es der Partner, die Familie oder das Auskommen, wenn man wegen eines zeitintensiven Ehrenamts nur Teilzeit arbeitet.» III
Benno ist 61 Jahre alt, verheiratet und Vater zweier erwachsener Töchter. Die beiden interessieren sich zwar durchaus für die lokale Politik, haben ihre Lebensplanung aber erst einmal auf Studium und Beruf ausgerichtet, Auslandsaufenthalte eingeschlossen. Schon sein Vater war Gemeindepräsident des Orts und Benno damit quasi von Haus aus in die Miliz hineingeboren. Er ist im Dorf angesehen und dazu Präsident des lokalen Platzgervereins, der wiederum ein hohes Renommee weit über die lokalen Grenzen hinaus geniesst und die vergangene Wettspielmeisterschaft für sich entscheiden konnte. Benno hat eine langjährige Führungserfahrung vorzuweisen, gilt als entscheidungsfreudig und stressresistent und ist im Dorf sehr gut vernetzt. Noch mehr als die Diskussionen um den möglichen Zusammenschluss mit der Nachbargemeinde machen ihm die ausbleibenden Kandidaturen für die anstehende Gemeinderatswahl zu schaffen. Benno weiss, welchem Profil der typische Gemeinderat entspricht. Zumeist männlich, um die 50, gut gebildet, seit Längerem in der Gemeinde verwurzelt und sozial eher bessergestellt. In der Vergangenheit nahmen noch vergleichsweise viele Bauern Einsitz in das Gremium. Der letzte dieser Spezies, kinderlos, scheidet zum Ende der Legislaturperiode ohne Aussicht auf eine Nachfolge gleicher Berufsgattung aus. Auch schon, weil es gar keinen bewirtschafteten Hof mehr in der Gemeinde gibt. Benno ahnt, dass Aufrufe und Inserate im Gemeindeblatt (neudeutsch: Newsletter) die Malaise des Kandidatenmangels nicht werden beheben können. Die Rekrutierung über die örtlichen Parteien und Vereine wird angesichts deren verblassenden Bedeutung wohl ebenso erfolglos verlaufen. Stattdessen möchte Benno mögliche Kandidatinnen und Kandidaten direkt ansprechen und persönlich überzeugen. Das Amt wie einen Staubsauger an der Tür verkaufen. Canvassing für Milizionäre. Zumindest versucht er es einmal bei dreien, die er vom Leben in der Gemeinde kennt und mit deren Familien er seit Jahren gut bekannt ist. Da wäre zunächst Karin. Sie ist 45 Jahre alt und Mutter zweier Buben (zehn und zwölf). Seit der Geburt ihres ersten Kindes arbeitet sie Teilzeit und steht zudem dem Frauenchor des Orts vor. Ihr Vater war zusammen mit Benno im Gemeinderat aktiv, als dieser noch nicht Gemeindepräsident war. Im örtlichen Gemeinderat selbst waren die Frauen nie stark vertreten. Benno mag sich gerade einmal an zwei Frauen erinnern, die in den letzten Jahrzehnten im Gremium waren. Ein Abbild der lokalen Schweiz. Vor 30 Jahren lag der Frauenanteil in den Schweizer Gemeinderäten noch deutlich unter 10 Prozent. Über 60 Prozent der Kommunen hatten damals überhaupt keine Frau in der Exekutive. In den 1990er-Jahren stieg der Frauenanteil, vor zehn Jahren lag er dann bei gut 23 Prozent. Dennoch berichteten immer noch 15 Prozent der Gemeinden, keine weibliche Vertretung im Gemeinderat zu haben. Frauen seien zu harmoniebedürftig, heisst es hie und da. Der zweite Kandidat ist Marcel. Er ist zwar erst 28 Jahre jung, in den Augen von Benno aber ein politisches Talent. Nach der Berufsmaturität hat er Betriebswirtschaft studiert und arbeitet nun seit knapp zwei Jahren im selben Unternehmen wie Benno. Seit Kindsbeinen spielt Marcel im lokalen FC. Dort trainiert er auch die Junioren, die kurz vor dem Aufstieg in die Coca-Cola Junior League stehen. Der Götti von Marcel, der jetzt als Gemeinderat abtritt, hat seinem Patenkind das Einmaleins der lokalen Politik beigebracht. Sein extrovertiertes...


Markus Freitag (* 1968), Prof. Dr., studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaft und Germanistik. Nach Stationen an der ETH Zürich und den Universitäten Basel, Berlin und Konstanz ist er heute Direktor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern und Professor für Politische Soziologie. Er hat zahlreiche Publikationen zum sozialen und politischen Leben sowie zur politischen Psychologie in der Schweiz und im internationalen Vergleich verfasst.
Pirmin Bundi (*1987), Prof. Dr., ist Assistenzprofessor für Politikevaluation am Institut für öffentliche Verwaltung (IDHEAP) der Universität Lausanne. Seine Forschung befasst sich mit Politikevaluation, vergleichender öffentlicher Politik sowie dem politischen Verhalten von Eliten.
Martina Flick Witzig (*1974), Dr., ist Assistentin an den Lehrstühlen für Schweizer Politik und Politische Soziologie der Universität Bern. Ihre berufliche Laufbahn startete sie mit einer Ausbildung als Rechtspflegerin. Sie war Rechtspflegerin und später am Amtsgericht Pforzheim tätig, studierte dann Politik- und Verwaltungswissenschaft an der Universität Konstanz und promovierte dort.


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