E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Franziskus Von Lastern und den Tugenden
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-451-82693-1
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Balance des Lebens finden
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-451-82693-1
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Papst Franziskus, Jorge Mario Bergoglio, geboren am 17. Dezember 1936, war vom 13. März 2013 bis zu seinem Tod Bischof von Rom. Der argentinische Jesuit war Sohn einer siebenköpfigen Familie italienischer Auswanderer und war von 1973 bis 1979 Provinzial der argentinischen Jesuiten. Von 1998 bis 2013 war er Erzbischof von Buenos Aires, er wurde 2001 zum Kardinal ernannt. Franziskus starb am 21. April 2025.
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Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit
In der Stadt Padua gibt es eine Kapelle, die Unserer Lieben Frau von der Nächstenliebe geweiht ist und zwischen 1303 und 1305 im Auftrag des Bankiers Enrico degli Scrovegni von Giotto di Bondone mit Fresken ausgeschmückt wurde. Das ist die weltberühmte Scrovegni-Kapelle, die als eines der größten Meisterwerke der abendländischen Kunst gilt. Der Bilderzyklus erzählt die Geschichte der Jungfrau Maria und Christi: Die menschliche Heilsgeschichte endet mit dem majestätischen Weltgericht, das über dem Eingangsportal dargestellt ist. Das ist Giottos Versuch, vom Geheimnis der Menschwerdung zu erzählen, das die Geschichte in zwei Hälften teilt: eine vor und eine nach Christus.
Was mich jedoch am meisten fasziniert, ist, dass Giotto versucht hat, in Schwarz und Weiß von dem zu erzählen, was der Kunsthistoriker Roberto Filippetti als »die Konsequenzen der Ankunft Christi im alltäglichen Leben« bezeichnet: »die Anziehungskraft des Guten, die Abscheu vor dem Bösen«. Hierzu bedient sich der Künstler der Personifikationen der sieben Tugenden und der sieben ihnen jeweils entgegengesetzten Laster. Die sieben Tugenden, die auf der warmen Wand porträtiert sind, stehen rechts von Christus: Sie sind die Straßen, die zum Heil führen. Die sieben Laster dagegen befinden sich zu seiner Linken, auf einer feuchten und eisigen Wand: Sie führen ins Verderben. Das Gute – so scheint Giotto andeuten zu wollen – ist faszinierend, und es ist leicht, ihm nachzufolgen, wenn man ihm begegnet. Das Böse dagegen ist abstoßend und sogar schwierig zu zeichnen.
Von den Lastern und den Tugenden zu erzählen, ist eine Kunst: kein Klatsch und Tratsch, sondern eine geistliche Übung. Es setzt Mut voraus: den Mut, über das Menschenbild nachzudenken, das sich im Text der Evangelien abzeichnet. Papst Franziskus, warum lohnt es sich nicht nur aus geistlicher, sondern auch aus menschlicher Sicht, über die Tugend und über das Laster nachzudenken?
Um genau zu verstehen, wohin unser Leben führt. Um genau zu verstehen, in welche Richtung wir gehen müssen, weil sowohl die Laster als auch die Tugenden die Art beeinflussen, wie wir handeln, denken, fühlen … Es gibt tugendhafte Menschen und es gibt lasterhafte Menschen, aber die meisten sind eine Mischung aus Tugenden und Lastern. Manche sind in einer bestimmten Tugend richtig gut, haben dafür aber andere Schwächen. Weil wir alle verletzlich sind. Und diese existenzielle Verletzlichkeit müssen wir ernst nehmen, weil wir sonst den Lastern in die Hände spielen und die Tugend massiv behindern. Es ist wichtig, das zu wissen: als Orientierung für unseren Weg, für unser Leben. Die Tugenden machen dich zum Beispiel stark, sie bringen dich voran, sie helfen dir zu kämpfen, die anderen zu verstehen, gerecht, ausgeglichen zu sein. Die Laster hingegen laugen dich aus. Die Tugend ist wie ein Vitamin: Sie lässt dich wachsen, du kommst voran. Das Laster ist seinem Wesen nach parasitär. Die Laster sind Parasiten, die bei dir leben, sich von dir ernähren und dich schwächen, dich herunterziehen. Jeden Tag immer weiter nach unten. Es gibt einen argentinischen Tango, der meiner Meinung nach gut beschreibt, was die Laster anrichten. Er heißt Barranca abajo, »Den Abgrund hinunter«, und du rutschst und rutschst immer tiefer … So sind die Laster.
Neulich habe ich noch einmal nachgelesen, was der Katechismus der Katholischen Kirche über die Tugend sagt: Sie ist »eine beständige, feste Neigung, das Gute zu tun. Sie ermöglicht dem Menschen, nicht nur gute Taten zu vollbringen, sondern sein Bestes zu leisten« (Nr. 1803). Die Tugenden sind das Salz des Lebens: »Ich bin gekommen, damit sie Leben haben und es in Fülle haben«, sagt Jesus im Johannesevangelium zu seinen Jüngern (10,10). Heute scheint das Wort »Tugend« jedoch geradezu aus der Mode gekommen, beinahe ein Tabu zu sein: Fast könnte man meinen, in den Augen der Welt sei das Geheimnis eines glücklichen Lebens ein Leben ohne Tugend. Als würde man sagen: »Leben ist doch schon genug, warum soll man Leben in Fülle haben?«
Frag die Bauern: »Warum wollt ihr eine Ernte in Fülle haben?« Weil die Fülle Leben ist, Fülle heißt, Leben zu geben. Die Fülle verschließt sich nicht in sich selbst, die Fülle verschenkt sich immer. Darum ist es wichtig: um zu geben. Ein schwaches, in sich selbst verkrümmtes Leben dagegen ist ein Leben, das zu nichts dient. Nächstenliebe ist immer Fülle, genau wie die Liebe. Die Liebe hört niemals auf.
Ihr Bild hat mich beeindruckt: von der Tugend als Vitamin und dem Laster als Parasit. Vielleicht könnten wir sagen, dass das Laster eine Tugend ist, die sich weigert, mit der Gnade Gottes zu gehen, und dass aus dieser Weigerung die Erfahrung des Bösen erwächst. Im Gefängnis – das muss ich ehrlich zugeben – ist das Böse zuweilen faszinierend. Warum kann das Laster faszinierender sein als die Tugend?
Der Mensch ist wie ein Fisch: Wenn er den Köder sieht, lässt er sich locken, näher und näher und näher … Es gibt immer irgendetwas, was dich anzieht, aber die Laster sind faszinierender, weil sie dich scheinbar mit Wohltaten und Vergnügen beschenken, ohne dass du etwas dafür tun musst. Du musst nicht stärker werden, du musst dich nicht Tag für Tag immer wieder aufs Neue anstrengen, um etwas zu bekommen. Das Laster ist eine negative Geschenkhaftigkeit. Es ist wie diese Onkel und Tanten, die die Kinder verziehen, indem sie ihnen ständig Bonbons schenken … Wie gut das schmeckt! Aber dann kommen die Bauchschmerzen. So ist das Laster: Es ist das Vergnügen, das »Gute«, das du sofort und ohne Anstrengung bekommst. Aber es frisst dich innerlich auf.
Ich bringe die Tugend nicht spontan mit der Vorstellung der Vollkommenheit in Verbindung: Meiner Meinung nach ist sie eher so etwas wie eine erfülltere Art zu leben. Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Katechismus der Katholischen Kirche die Tugenden in dem Abschnitt behandelt, der der »Berufung des Menschen« gewidmet ist, also dem Abenteuer, im vollen Wortsinn Mensch zu werden.
Wir kommen unvollständig auf die Welt, und Leben heißt, diese unsere Unvollständigkeit zu verwirklichen. Es ist keine bloße Koinzidenz, dass vier der sieben Tugenden – Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigung – nicht nur im Christentum, sondern in jeder Denkrichtung thematisiert werden, der die Fülle des Menschseins am Herzen liegt: gleichsam eine Einladung, uns dafür zu begeistern, dass der Mensch immer mehr Mensch wird.
Der eine oder andere würde jetzt vielleicht sagen, dass es sich hierbei um heidnische Tugenden handelt, die das Christentum dann später übernommen hat. Es ist nicht richtig, das zu sagen, aber legitim, wenn man bedenkt, dass die griechische und lateinische Philosophie mit diesen Tugenden arbeitet.
Gibt es einen Heiligen, der Ihnen in Ihrem Nachdenken mehr geholfen hat als andere? Oder der mehr als andere über diesen Kampf, diese Gemengelage aus Lastern und Tugenden im menschlichen Herzen gesprochen hat?
Ja, das habe ich vom heiligen Ignatius gelernt. Genauer gesagt von seinem Schüler, dem heiligen Petrus Faber, der diese Fähigkeit hat, zu unterscheiden, die Laster von den Tugenden zu unterscheiden. Die Unterscheidung entsteht so: weil dich zuerst das eine und dann etwas anderes anzieht und du spürst, dass das eine nicht geht und dass das andere schöner, aber auch schwierig ist und du Position beziehen musst. Das ist das Leben des Menschen: mit jedem Schritt Position zu beziehen. Von einem Menschen, der nicht Position beziehen kann, sagt man, dass er ein Pontius Pilatus ist, ein Experte, wenn es darum geht, sich angesichts der Realität des Lebens die Hände zu waschen. Sich nicht zu entscheiden ist schon eine unmenschliche Haltung. Warum? Weil es nicht frei ist! Es ist ein Laster, das dich zur Bequemlichkeit drängt, dazu, dich mit allen gut zu stellen. »Ich wasche meine Hände in Unschuld«: Das ist nicht christlich. Ich habe einmal zu jemandem gesagt: »Was für ein kluger Mann, er macht nie einen Fehler … Ein echter Experte in Sachen Pontius Pilatus!«
Als Leitfaden für unsere Unterhaltung, Papst Franziskus, wähle ich die Gegenüberstellungen Giottos in der Scrovegni-Kapelle, wobei ich zunächst über das Laster nachdenke, um von dort aus zum Entwurf der Tugend zu gelangen. Der Anfang ist so etwas wie ein Statement: Weil das Gefängnis eine Erfahrung ist, die zu meinem Leben gehört, möchte ich mit der Ungerechtigkeit beginnen und von dort aus versuchen, Licht auf die Gerechtigkeit zu werfen. Die Ungerechtigkeit ist tyrannisch, wenn man nach Giottos Darstellung geht: Sie hat ein vorspringendes Kinn und klauenartige...