E-Book, Deutsch, Band 49, 402 Seiten
Reihe: Pulp Master
Franklin / Stingl Krumme Type, krumme Type
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-946582-03-8
Verlag: PULP MASTER
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 49, 402 Seiten
Reihe: Pulp Master
ISBN: 978-3-946582-03-8
Verlag: PULP MASTER
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als die neunzehnjährige Tina Rutherford verschwindet, ist jedem in Chabot, Mississippi klar, wer dafür verantwortlich ist. Denn 25 Jahre zuvor war schon die junge Cindy Walker nach einem Date mit dem Nachbarssohn Larry Ott spurlos verschwunden. Für das Verbrechen konnte Larry aus Mangel an Beweisen nie verurteilt werden, wurde aber fortan gemieden und lebte in ritualisierter Einsamkeit. Erneut unter Verdacht, ist sein Haus vermehrt Ziel betrunkener Rednecks; er wird angeschossen und der junge schwarze Constable Silas Jones mit den lästigen Ermittlungen betraut - eine gemeinsame Vergangenheit und ein dunkles Geheimnis verbinden ihn mit Larry.
Schon Faulkner wusste, dass sich die Vergangenheit nicht beerdigen lässt, und in Franklins Südstaaten-Roman um Freundschaft, Verrat und Alltagsrassismus brechen alte Wunden auf und offenbaren, dass man, getrieben von Furcht und Feigheit, schlimme Fehler begehen kann.
Tom Franklin wurde 1963 in Dickinson, Alabama geboren. Mit Jobs in Lagerhäusern, Fabriken und auf einer Sondermülldeponie finanzierte sich der Sohn eines Automechanikers sein Studium und begann zu schreiben. Er wurde mehrfach ausgezeichnet. Sein erster Roman, Die Gefürchteten, erschien hierzulande 2005. 2011 schaffte er es mit Crooked Letter, Crooked Letter auf die Bestsellerliste der New York Times. Bein uns erschien 2017 bereits sein zweiter Roman Smonk. Heute unterrichtet Franklin an der University of Mississippi und lebt mit seiner Frau, der Poetin Beth Ann Fennelly, und den gemeinsamen Kindern in Oxford, Mississippi.
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1
Die kleine Rutherford wurde seit acht Tagen vermisst, als Larry Ott bei seiner Rückkehr nach Hause feststellte, dass ihn dort ein Monster erwartete. In der Nacht zuvor hatte es über weiten Teilen des Südostens gestürmt: in den Nachrichten Sturzfluten, abgeknickte Bäume und Bilder von zerlegten Wohnwagen. Larry, einundvierzig und ledig, lebte allein im ländlichen Mississippi, im Haus seiner Eltern, das jetzt sein Haus war, obwohl er es nicht über sich brachte, es so zu sehen. Er benahm sich eher wie ein Kurator, hielt die Zimmer sauber, beantwortete die Post und bezahlte Rechnungen, schaltete abends zu den richtigen Zeiten den Fernseher ein, lächelte mit der Lachkonserve, aß zu dem, was die Sender ihm präsentierten, sein McDonald’s oder Kentucky Fried Chicken und saß dann auf seiner vorderen Veranda, während der Tag sich aus den Bäumen über das Feld verströmte und die Nacht herabsank, immer anders, immer gleich. Es war Anfang September. In der Hand einen Becher Kaffee, hatte er an jenem Morgen auf der Veranda gestanden und schon leicht geschwitzt, während er den gleißenden Vorplatz betrachtete, die schlammige Zufahrt, den Stacheldrahtzaun, die aufgeweichte, grüne Wiese dahinter, die auf der anderen Seite, wo der Wald begann, von Disteln, Goldrute, Salbei und Geißblatt überwuchert war. Bis zu seinem nächsten Nachbarn waren es fast zwei Kilometer und zwei weitere bis zum Laden an der Kreuzung, der schon vor Jahren dichtgemacht hatte. Am Rand der Veranda hingen mehrere Farnwedel aus der Traufe, in einem hatte sich das Windspiel seiner Mutter verheddert wie eine achtlos weggeworfene Marionette. Er stellte seinen Kaffee auf dem Geländer ab und löste die schlanken Röhren von den Blättern. Hinterm Haus schob er die beiden Flügel des Scheunentors zur Seite, an deren Unterkante je ein Rasenmäherrad angebracht war. Er nahm die schwarz verbrannte Sardinendose vom Auspuff des Traktors, hängte sie an ihren Nagel an der Wand und stieg auf das Fahrzeug. Auf der Metallschale sitzend, trat er mit einem Fuß die Kupplung und mit dem anderen die Bremse, ruckte den Schalthebel des alten Ford in den Leerlauf und drehte den Zündschlüssel. Der Traktor hatte wie alles andere seinem Vater gehört, ein 8N, Kotflügel und gerundete Haube grau lackiert, Motor und Karosserie jedoch feuerwehrrot. Dieser rote Motor sprang nun an, und Larry ließ ihn ein paarmal aufheulen, sodass sich die Luft um seinen Kopf von Abgasschwaden bläute, deren Geruch er angenehm fand. Er stieß rückwärts hinaus, fuhr das Hebewerk hoch und federte auf dem Sitz, während die großen, mit je siebzig Liter Wasser beschwerten Räder des Traktors über das Land rollten. Der Ford walzte durch Unkraut und Wildblumen und ließ Hummeln aufstieben, Schmetterlinge, nasse Grashüpfer und Libellen, die seine Mutter Teufelsnadel genannt hatte. Der Traktor warf seinen langen Schatten in Richtung des hinteren Zauns, und Larry bog ab und umrundete die Wiese; entlang des Stacheldrahts war der Liguster zurückgeschnitten, die Bäume standen hoch und üppig, das noch im Schatten liegende Südende war taubedeckt und kühl. Von März bis Juli mähte er zweimal im Monat, doch wenn die Herbst-Wildblumen kamen, ließ er sie wachsen. Im September zogen Kolibris durch, umschwirrten den Salbei, den sie offenbar liebten, und verjagten einander von den Blüten. Beim Hühnergehege legte er den Rückwärtsgang ein, stieß zurück und senkte dabei die Anhängerkupplung ab. Er warf einen prüfenden Blick in den Himmel und schüttelte den Kopf. Weiter weg drängten sich Wolken über die Bäume, und Regen lag in der Luft. In der Sattelkammer füllte er Futtermittel und Mais in einen Plastikmilchkrug mit verbreiterter Öffnung; von den braunen Pellets und staubigen gelben Körnern stieg ein leicht erdiger Geruch auf. Er fügte noch ein wenig Grieß hinzu, zerkleinerte Kiesel, die den Hühnern beim Verdauen halfen. Das ursprüngliche Gehege, das sein Vater nach Larrys ferner Erinnerung irgendwann als Muttertagsgeschenk gebaut hatte, war knapp sieben Meter breit gewesen und hatte sich die ganze Länge der linken Scheunenwand entlanggezogen, verbunden mit einem Raum im Innern, der zum Stall umfunktioniert worden war. Das neue Gehege war anders. Larry hatte immer gestört, dass die Hühner ihr Leben auf ein und demselben Fleck zubrachten – Staub bei trockenem, Matsch bei nassem Wetter –, zumal die fast fünf Morgen große Wiese um sein Haus nichts als Unkraut hervorbrachte und Ungeziefer anlockte: Wie schade, dass die Hühner nichts davon hatten. Versuchsweise hatte er ein paar frei laufen lassen, in der Hoffnung, dass sie in der Nähe bleiben und die Scheune als Schlafplatz nutzen würden, aber das erste Huhn steuerte den Wald an, schlüpfte unterm Zaun hindurch und ward nie mehr gesehen, und das nächste wurde umgehend Opfer eines Rotluchses. Er ließ sich die Sache durch den Kopf gehen und dachte sich etwas aus. An einem Sommerwochenende baute er einen mannshohen, verschiebbaren Käfig mit offenem Boden und brachte an dessen hinterem Ende einen Satz Rasenmäherräder an. Er baute das Gehege seines Vaters ab und setzte in seines einen Durchlass, der vor die Außentür des Stalls passte, sodass die Hühner, wenn sie herauskamen, in seinem Käfig landeten. Jeden Morgen verschloss er den Durchlass und zog, sofern das Wetter es zuließ, den Käfig mit dem Traktor auf die Wiese, jedes Mal an eine andere Stelle, sodass die Hühner frisches Futter – Insekten, Pflanzen – bekamen und ihre Exkremente das Gras nicht verdarben, sondern düngten. Den Hühnern jedenfalls gefiel es, und die Dotter ihrer Eier waren inzwischen sehr viel gelber als zuvor und schmeckten doppelt so gut. Er trat mit dem Futter ins Freie. Über den Bäumen ganz im Norden türmten sich Gewitterwolken wie ein sich blähender Berg, und der Wind frischte bereits so stark auf, dass das Windspiel auf der Veranda sang. Ich lass sie lieber drin, dachte Larry, ging wieder hinein, hob den Holzriegel und betrat den Stall mit seinem Geruch nach Exkrementen und warmem Staub. Er schloss die Tür hinter sich, zu seinen Füßen schwebten Flaumfedern herab. Heute saßen vier von den braunen Hennen mit wachsamem Blick in ihren Sperrholzkisten, tief in Kiefernadelstreu. »Guten Morgen, Ladys«, sagte er, drehte den Wasserhahn über dem alten Reifen auf, der längs durchgeschnitten war wie ein halbierter Donut, und schob sich, während Wasser in die Gummirinne einlief, geduckt durch den Durchlass in den Käfig, wie in einem Sog gefolgt von den nicht brütenden Hennen. Vor dem Gehege tuckerte der Traktor im Leerlauf. Larry streute das Futter aus und sah einen Moment lang zu, wie sie es mit roboterhaftem Rucken aufpickten, gackerten, scharrten und zwischen den gefleckten Exkrementen und nassen Federn die Köpfe auf- und ab bewegten. Er kehrte in den Stall zurück, scheuchte die brütenden Hennen aus den Kisten, sammelte die kotbesprenkelten Eier ein und legte sie in einen Korb. »Angenehmen Tag, Ladys«, sagte er im Hinausgehen, drehte den Wasserhahn zu, verriegelte die Tür, hängte den Krug an seinen Nagel. »Wir sehen zu, dass wir morgen rauskommen.«
Wieder im Haus, schnäuzte er sich die Nase, wusch sich die Hände und rasierte sich vor dem Spiegel des vom Flur abgehenden Badezimmers. Er klopfte den Rasierer am Waschbeckenrand aus; die um den Ausguss verteilten Stoppeln waren eher grau als schwarz, und er wusste, wenn er sich nicht mehr rasieren würde, wäre sein Bart so grau wie der, den sich sein Vater vor dreißig, fünfunddreißig Jahren jedes Mal zur Jagdzeit hatte stehen lassen. Als Kind war Larry pummelig gewesen, doch inzwischen war sein Gesicht hager, sein braunes Haar kurz, aber ungleichmäßig, weil er es selbst schnitt, und das, schon bevor seine Mutter ins River Acres gekommen war, ein Altersheim fernab jedes Flusses, wo man, was Pflegepersonal wie Pflegebedürftige anging, fast nur Schwarze sah. Etwas Besseres wäre ihm lieber gewesen, aber mehr konnte er sich nicht leisten. Er spritzte sich warmes Wasser ins Gesicht und wischte mit einem Waschlappen über sein Konterfei in dem beschlagenen Spiegel. Da war er. Ein Mechaniker, aber nur in der Theorie. Er betrieb eine Werkstatt mit zwei Montageplätzen am Highway 11 North, das heruntergekommene weiße Hohlblockgebäude mit grünen Faschen. Er fuhr den roten Ford Pick-up seines Vaters, ein Modell von Anfang der Siebzigerjahre mit einer Laderaumwanne aus Holz, über dreißig Jahre alt, mit nur neunzigtausend Kilometern auf dem Tacho, dem Original-Sechszylindermotor und, von ein paar Windschutzscheiben und Scheinwerfern abgesehen, noch fast allen Teilen, mit denen es aus der Fabrik gekommen war. Der Wagen hatte Trittbretter, und auf der Ladefläche befand sich ein Werkzeugkasten mit Larrys Ratschen, Steck- und Schraubenschlüsseln, falls er zu einer Panne gerufen wurde. Vor der Heckscheibe war ein Gewehrständer angebracht, auf dem sein Regenschirm lag – seit 9/11 durfte man Schusswaffen nicht mehr offen transportieren. Doch wegen seiner Vergangenheit hatte Larry schon davor keine Waffe besitzen dürfen. In seinem Schlafzimmer, in dem sich Taschenbücher stapelten, setzte er die zu seiner Arbeitskluft gehörende Mütze auf, dann schlüpfte er in die grüne Khakihose und in ein dazu passendes Baumwollhemd — zu dieser Jahreszeit kurzärmelig — mit dem Schriftzug LARRY in einem Oval auf der Brusttasche. Er trug schwarze...