E-Book, Deutsch, 181 Seiten
E-Book, Deutsch, 181 Seiten
ISBN: 978-3-17-023489-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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2 Was ist Wissenschaft? Eine kurze Annäherung
Wissenschaft kann definiert werden als eine »in ihren Aussagen überprüfbare und systematische Beschäftigung mit nahezu beliebigen Bereichen der Natur, des menschlichen Denkens und des menschlichen Zusammenlebens und seiner Gestaltungsformen« (Mols 2019, 24). Es können also die unterschiedlichsten Dinge, vom schon genannten Klimawandel bis zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms, von schwarzen Löchern bis zur Entwicklung eines Klebstoffs, von der Entstehung politischer Parteien bis hin zu Krieg und Frieden, Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung sein. Im Unterschied zu Alltagswissen, das auf den eigenen Erfahrungen, den Erzählungen anderer oder überlieferten Geschichten von früher (Traditionen) beruht und oft in seiner Entstehung nicht nachvollzogen werden kann, müssen wissenschaftliche Aussagen intersubjektiv, also unabhängig von der aussagenden Person, nachvollziehbar sein. Um Intersubjektivität zu erreichen, müssen wissenschaftliche Aussagen einer Reihe von Kriterien genügen. Dazu gehören: Präzise Sprache und genau definierte Begriffe. Es muss klar formuliert sein, was man meint, wenn man einen bestimmten Begriff verwendet, also welche Bedeutung der Begriff hat. Denn es macht zum Beispiel einen Unterschied, ob man Demokratie als »ich darf selbst mitentscheiden« oder als »die gewählten Vertreter entscheiden« definiert. Folgt man der ersten Definition, wird man das politische System Deutschlands als verbesserungsfähig ansehen, da es Möglichkeiten des direkten Entscheidens vor allem auf der kommunalen Ebene, weniger auf der Landesebene und mit Ausnahme der Neugliederung des Bundesgebiets (Art. 29 Abs. 2 GG) und einer neuen Verfassung (Art. 146 GG) nicht auf Bundesebene gibt. Folgt man der zweiten Definition, so wird man womöglich zu einer positiveren Bewertung kommen. Grundsätzlich wird man aber aneinander vorbeireden, wenn man sich nicht über die Bedeutung von Demokratie verständigt, sondern davon ausgeht, dass die eigene Definition geteilt wird. Für den Umgang mit Wissenschaft und wissenschaftlichen Studien bedeutet das, sich sehr genau anzuschauen, wie wichtige Begriffe und Konzepte definiert sind, um nachzuvollziehen, was damit gemeint ist. Standardisierte und regelgeleitete Vorgehensweisen bei der Untersuchung der Welt. Wenn ein Thema oder Ereignis wissenschaftlich untersucht wird, muss klar sein, wie man bei der Untersuchung vorgegangen ist, welche einzelnen Schritte bei einem Experiment man gemacht hat, welche Fragen in einer Umfrage gestellt wurden und allgemeiner: welche Methoden man verwendet hat, um zu Erkenntnis über die Welt zu gelangen. So kann man in einer Umfrage zur Demokratiezufriedenheit beispielsweise fragen: »Wie zufrieden sind Sie mit der Demokratie?« Man sollte diese Frage dann in jedem Interview in genau der gleichen Weise stellen und nicht etwa einmal »Sie sind doch sicher zufrieden mit der Demokratie, oder?« und ein anderes Mal »Sind Sie denn zufrieden mit der Demokratie?«. Denn das könnte zu Verzerrungen in den Antworten führen. Bei der ersten Frage wird schon eine Antwort nahegelegt. Zudem fällt es aufgrund der Ja-Sage-Tendenz (Akquieszenz) unabhängig vom Inhalt der Frage leichter, zuzustimmen als zu widersprechen. Darüber hinaus würde bei dieser Frage hinzukommen, dass der Begriff der Demokratie wenig präzise ist. Die Frage erscheint zwar recht eindeutig, aber es ist nicht nachvollziehbar, auf was sich die Antwort bezieht. Das könnte die Idee der Demokratie oder die Demokratie in Deutschland sein. Präziser wäre es also, die Frage aufzuteilen und wie in den meisten Umfragen üblich nach der Zustimmung zur Idee der Demokratie, zur Verankerung im Grundgesetz und zur praktischen Umsetzung in Deutschland zu fragen. Von zentraler Bedeutung ist es jedenfalls, die eigene Vorgehensweise, verwendete Messinstrumente – in diesem Fall einen Fragebogen – und auch die Auswertungsweisen offenzulegen. Erst dann kann sich die geneigte Öffentlichkeit ein Bild von den Ergebnissen einer wissenschaftlichen Studie machen. Verortung von Begriffen, Konzepten und Methoden in wissenschaftlichen Strömungen oder Schulen. Wissenschaft ist kein einheitlicher Block. Gerade in den Sozialwissenschaften gibt es verschiedene wissenschaftliche Schulen und Strömungen, die zum Teil von sehr unterschiedlichen Grundannahmen (Prämissen) über die Beschaffenheit der Welt und des Seins (Ontologie) sowie die Beschaffenheit von Wissen und der Möglichkeit, Erkenntnis zu gewinnen (Epistemologie), ausgehen. Diese Grundannahmen muss man kennen, um wissenschaftliche Studien und deren Befunde einordnen zu können. Erstens geht es dabei um die Bedeutung der wissenschaftlichen Strömung im jeweiligen Fach: Gilt sie als allgemein anerkannt und etabliert oder ist sie randständig und umstritten? Zweitens geht es um die Forschungsperspektive und die verwendeten Begriffe. Denn unterschiedliche Schulen entwickeln auch unterschiedliche Fachsprachen, um denselben Untersuchungsgegenstand zu beschreiben und zu analysieren. So würde beispielsweise eine an der Systemtheorie von Niklas Luhmann (1984) oder Talcott Parsons (1972) orientierte Politikwissenschaftlerin das Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft aus dem Blickwinkel der funktionalen Differenzierung betrachten. Funktionale Differenzierung bedeutet, dass sich in Gesellschaften bestimmte Teilsysteme ausbilden, die Aufgaben für die Gesellschaft als Ganze erfüllen. Wirtschaft ist für die Umwandlung der Natur in Güter und Politik ist für das Fällen verbindlicher Entscheidungen zuständig. Beide funktionieren nach unterschiedlichen Logiken (Effizienz bei der Umwandlung vs. Effektivität bei der Durchsetzung) mit unterschiedlichen Währungen (Geld vs. Macht). Sie würde sich dann für die konkrete Ausgestaltung der Systeme und deren Austausch miteinander interessieren. Ein an Karl Marx (1867) orientierter Politikwissenschaftler würde das Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft dagegen als ein Verhältnis von Basis und Überbau analysieren und in der Politik vor allem die Verfestigung oder Institutionalisierung gesellschaftlicher Eigentumsverhältnisse sehen. Politik ist in diesem Verständnis eine Folgeerscheinung der materiellen Verhältnisse und kann nicht als eigenständige Sphäre analysiert werden. Es sind sowohl Vorannahmen und Vokabular als auch Erkenntnisinteressen der beiden Forscher:innen unterschiedlich. Und dennoch untersuchen sie beide den gleichen Gegenstand – das Verhältnis von Politik und Wirtschaft – und können beide zu gültigen Ergebnissen gelangen. Zusammengenommen bilden diese drei Kriterien die Grundlage für wissenschaftliches Arbeiten, denn »Wissenschaft steht und fällt damit, dass ihre Aussagen mitteilbar, nachvollziehbar und zugleich kritisierbar sind« (Mols 2019, 25). Darüber hinaus ist es auch Aufgabe der Wissenschaft, »ihre Aussagen in einen systematischen Zusammenhang [zu bringen], der Einzeltatsachen zu ordnen hilft, sie in übergreifende Aussagen genereller Natur stellt und möglichst zu Erklärungen, d. h. zu verallgemeinernden Begründungsableitungen, vorstößt« (ebd.). Wissenschaft als menschliche Tätigkeit dient also nicht dazu, nur einen einzelnen Fall zu untersuchen, zu verstehen oder zu erklären. Sondern sie will darüber hinaus möglichst Gesetzmäßigkeiten etablieren, also allgemein oder zumindest für eine Gruppe von Ereignissen oder Fällen geltende Erkenntnisse. Es geht um die systematische und regelgeleitete Herstellung genereller Aussagen über die Wirklichkeit (Alemann/Forndran 1995, 44), die gerade aufgrund dieser empirisch und logisch abgesicherten Generalität zuverlässigere Aussagen über die Wirklichkeit ermöglichen als der »gesunde Menschenverstand« (vgl. Patzelt 2001, 69). Wissenschaft verfolgt also das Ziel, die Realität nach einem System von Regeln nachprüfbar in einem geschlossenen Modell zu rekonstruieren (Kriterium der Wahrheit). Darüber hinaus sollen die Ergebnisse und Befunde von Wissenschaft auch dazu dienen, das Leben der Menschen rationaler und humaner zu machen (Kriterium der Nützlichkeit). Wissenschaft verfolgt also nicht nur einen Selbstzweck, sondern soll den Menschen zugutekommen. Das ist auch ein Hauptgrund, warum man bei der Erzeugung von Erkenntnis besondere Sorgfalt walten lassen und die Ergebnisse von Forschung gründlich prüfen sollte. Je komplexer der Forschungsgegenstand, desto schwieriger ist auch das Herstellen möglichst genereller, empirisch und logisch wahrer Aussagen. Wenn es beispielsweise darum geht, den Wahlerfolg einer neuen Partei zu erklären, dann könnte eine alltägliche Erklärung von Wähler:innen sein, dass »die halt endlich mal sagen, was wirklich los ist« und die Menschen die Partei deshalb wählen. Aus wissenschaftlicher Perspektive...