E-Book, Deutsch, Band 11, 224 Seiten
Reihe: Kommissar Konrad Sejer
Fossum Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-492-98534-5
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 11, 224 Seiten
Reihe: Kommissar Konrad Sejer
ISBN: 978-3-492-98534-5
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Der Schwindel kam in heftigen Stößen, und obwohl er dagegen ankämpfte, verlor er das Gleichgewicht. Er versuchte nach besten Kräften, sich auf den Beinen zu halten, taumelte zum Spiegel an der Wand und starrte in sein eigenes Gesicht. Nein, es geht nicht, ich schaffe es nicht, es ist sicher eine Geschwulst, dachte er, vermutlich im Gehirn, warum sollte ich verschont werden, ich bin ja auch nicht besser als die anderen, kein bisschen besser. Natürlich ist es Krebs. Daran sterben wir doch fast alle, jeder Dritte, dachte er, oder jeder Zweite, wenn wir nur alt genug werden. Und bald bin ich ein alter Mann, ich bin schon auf dem halben Weg zur Hundert. Jetzt werde ich vermutlich sterben. So, wie Elise mit vierzig an Krebs gestorben ist. Langsam, über lange Zeit hinweg, wurden ihr die Kräfte genommen. Bleich, gelblich und abgemagert, mit Leberversagen und allem, was dazugehört, einem Anfall von hysterischer, ungebremster Zellteilung, so lag sie in diesen letzten Stunden in einem weißen und kühlen Bett im Rikshospital. Nein, jetzt nicht daran denken, es muss doch mal reichen mit dem Elend.
Er blieb eine Weile an die Wand gelehnt stehen. Wollte ruhig und gleichmäßig atmen, zur Besinnung gelangen. Na gut, dann ist es jetzt eben so, dachte er, ich kann ja nicht behaupten, ich wäre unvorbereitet, denn das bin ich nicht. Ich habe ja gewusst, dass es so enden wird, ich weiß es schon viel zu lange, im Unterbewusstsein habe ich schon lange mit der Angst gelebt, dass es mich treffen würde. So, wie es Elise getroffen hat, wie ein Blitzschlag. Sie wurde getroffen von einer wütenden und aggressiven Krankheit, einem verbissenen Heer aus Krebszellen auf Wanderung durch ihren Körper, jetzt nehmen wir uns die Lunge vor, jetzt das Skelett, jetzt das Gehirn. Jetzt zersetzen wir diesen Organismus, denn das ist unser Wesen. Aber geh die Sache mit Würde an, dachte er, mach kein Drama draus, das kommt nicht gut an. Andererseits könnte es ja eine Bagatelle sein. Lieber Gott, mach, dass es nur eine Bagatelle ist. Welcher Gott, dachte er dann in seiner Verzweiflung, ich habe ja keinen Gott, und vielleicht muss ich sterben. Danach gibt es nur noch Leere und Dunkelheit, ein Nichts, eine ohrenbetäubende Stille. Das Mobiltelefon piepte in seiner Tasche und er versuchte sich zusammenzureißen, diesem ganzen Chaos zum Trotz, er musste auch mal einen Punkt machen. Er hob das Telefon an sein Ohr, hörte am anderen Ende der Leitung die Stimme von Jacob Skarre, seinem Kollegen, und Skarre wirkte ein wenig hektisch. Wieder wurde er von einem Schwindelanfall überwältigt. Das Telefon fiel ihm aus der Hand, und rasch bückte er sich, um es wieder aufzuheben. Aber aus Versehen versetzte er dem Apparat einen Tritt und das Telefon schoss über den Boden und unter das Sofa. Er fluchte und kniete mühsam nieder, legte sich danach auf den Bauch und robbte weiter. Entdeckte das Telefon ganz hinten bei der Fußbodenleiste. Aber da war auch noch etwas anderes, etwas Winziges und Rotes, wie er jetzt sehen konnte. Zu seiner Überraschung entdeckte er, dass es ein Legostein war. Der musste hier liegen und dem Besen entgangen sein, seit Matteus klein gewesen war, was für eine Schlamperei. Es war ein Vierer. Ein schönes und perfekt geformtes flaggenrotes Klötzchen, der am meisten verwendbare Legostein, der überall hinpasste. Er ballte die Faust darum, spürte die scharfen Kanten an seiner Haut. Und dort, als er auf dem Bauch unter dem Sofa lag, stellten sich die Erinnerungen wieder ein, an seine Kindheit in Roskilde, im Gamle Møllevej. Das weiße Steinhaus mit den blauen Fensterrahmen, die Kletterrosen an den Wänden, der Rasen mit den alten Pflaumenbäumen und die braunen gesprenkelten Zwerghühner, die durch den üppigen, blühenden Garten trippelten. Jeden Morgen durfte er die winzigen Eier in einen Korb legen. Er dachte an seinen Vater, streng und grau, lang und sehnig wie er selbst, und an die Tonfiguren der Mutter, auf der Fensterbank in der Küche. Dann riss er sich zusammen, schnappte sich das Telefon und robbte wieder zurück. Er blieb eine ganze Weile liegen und rang um Atem.
»Bist du noch da? Was ist los? Hast du wieder Gleichgewichtsstörungen?«
Verlegen brummte er etwas Undeutliches. Er fühlte sich peinlich berührt und ängstlich.
»Du hast angerufen«, sagte er schroff. »Also erzähl du mir, was los ist.«
Er setzte sich auf, wischte sich Staub von der Brust, steckte den Legostein in die Hemdentasche. Sein Schwindel war endlich verflogen, bis zum nächsten Mal.
»Wir haben einen Tod durch Ertrinken«, sagte Jacob Skarre. »Im Damtjern oben bei Granfoss, weißt du, der kleine Stausee, erinnerst du dich an den? Zwanzig Minuten von der Møller-Kirche entfernt. Junge, sechzehn Monate. Die Mutter hat ihn beim Anleger gefunden und alles war zu spät. Die Leute vom Krankenwagen haben eine Dreiviertelstunde lang Wiederbelebungsmaßnahmen versucht, aber es hat nichts gebracht. Es ist noch nicht so ganz klar, wie er ins Wasser geraten ist. Er ist noch dazu nackt, und wir wissen nicht, was das bedeutet, ich bin mir da unsicher. Natürlich kann er ganz von selbst ins Wasser gegangen sein. Aber da habe ich ehrlich gesagt meine Zweifel. Wenn du mal vorbeischauen magst, dann können wir das vielleicht klären. Es ist das letzte Haus an der Dambråte, weiß, mit einem roten Schuppen. Der Junge liegt hier im Gras und wartet.«
»Ja«, sagte Sejer. »Bin schon unterwegs. Bin in einer halben Stunde bei dir.«
Und dann, nach einer kurzen Pause:
»Stimmt da irgendwas nicht? Rufst du deshalb an?«
»Ja«, sagte Skarre. »Da ist etwas mit der Mutter. Ich kann das nicht ganz erklären, aber ich finde, wir sollten uns die Sache genauer ansehen. Du weißt schon, was ich meine.«
»Sorg dafür, dass die Leute nicht überall rumtrampeln, behalte sie im Auge. Wo sind die Eltern jetzt?«
»Die sind auf der Wache«, sagte Jacob Skarre. »Holthemann redet mit ihnen. Die Mutter ist hysterisch und der Vater sagt kein Wort.«
Der Hund Frank Robert, ein chinesischer Shar-Pei, den Sejer nur Frank nannte, hob erwartungsvoll den Kopf und blickte ihn eindringlich an. Zwischen den vielen Falten und Runzeln, die typisch für diese Rasse waren, sah er den intensiven Blick, der ihn regelmäßig schwach machte. Augen, die bettelten und flehten, denen er nicht widerstehen konnte, die seine Autorität wie ausgegossenes Wasser verrinnen ließen. Der Hund war sein schwacher Punkt, er hatte sich nie dagegen gewehrt; dieses kleine runzlige Tier zu verwöhnen war seine große Freude. Eine Freude, die zu einem beträchtlichen Übergewicht geführt hatte.
»Na los, Dicker«, sagte er. »Zum Auto.«
Der Hund sprang auf und lief zur Tür, blieb fiepend stehen, konnte gar nicht schnell genug wegkommen. Sejers Wohnung lag im zwölften Stock, aber sie nahmen immer die Treppen. Der Hund sprang in gleichmäßigem, eingeübtem Tempo die Stufen hinunter. Dann erreichten sie den Platz vor dem Block und gingen zum Auto. Der Hund sank auf der Rückbank des Volvo mit einem tiefen Seufzer in sich zusammen, wie es seine Gewohnheit war. Sejer dachte an das Kind, nur sechzehn Monate alt. Doch, es war ganz bestimmt ein Unfall gewesen. Oder vielleicht auch die Mutter, unglücklich, oder in einer Psychose, oder außer sich vor Wut über ein trotziges Kind. Es wäre nicht das erste Mal. Oder der Vater, oder beide zusammen, auch das wäre nicht das erste Mal. Also, ertrunken in einem Stausee, dachte er, na gut, wir werden ja sehen. Er blinkte und fuhr auf die Schnellstraße hinaus. Wieder verspürte er einen leichten Schwindel, aber der verschwand ziemlich rasch wieder, zu seiner großen Erleichterung. Er saß im Auto, er musste einen klaren Kopf bewahren. Und immer, wenn der Schwindel verschwand, war er plötzlich ziemlich optimistisch, was die Zukunft anging. Wenn es ihm beim Fahren passierte, fuhr er zur Seite und hielt augenblicklich an. Aber jetzt war es sehr schnell vorbeigegangen. Als wäre es nur ein falscher Alarm gewesen und wirklich nicht der Rede wert, ja, gebe Gott, dass es nur eine Bagatelle war.
»Jetzt geh endlich mal zum Arzt«, hatte seine Tochter Ingrid schon oft gesagt, vor allem an einem Tag, als sie ihn auf frischer Tat ertappt hatte. Plötzlich war er am Küchentisch zusammengebrochen und hatte das Gleichgewicht verloren. »Aber der kann doch sicher nichts tun«, sagte Sejer, »ich muss mich damit bloß abfinden. Vielleicht sind die Adern in meinem Nacken verkalkt. Das Blut schafft es nicht mehr bis zum Kopf, das kommt bei älteren Menschen offenbar häufig vor. Und ob es dir passt oder nicht, ich bin ein älterer Mann. Von hier bis zum Ende wird alles ganz langsam passieren.«
»Papa«, sagte sie darauf, ein wenig resigniert. »Du bist doch erst fünfundfünfzig, jetzt mach aber mal einen Punkt. Sprich mal mit Erik, wenn du nicht zu deinem Hausarzt gehen willst.«
»Aber Erik ist doch Notfallmediziner«, protestierte Sejer. »Der hat bestimmt keine Ahnung von Schwindelanfällen.«
»Ach, jetzt wirst du wieder so unsachlich, da will ich nicht mehr mit dir reden«, sagt sie, wie immer mit einem kleinen Lachen. Und jedes Mal, wenn er dieses Lachen hörte, wurde ihm warm ums Herz. Aber jetzt also dieses tote Kind. Gefunden in dem kleinen See, der Damtjern genannt wurde. Keine voreiligen Schlüsse ziehen, dachte er, offen und klar und überlegt handeln. Es ist wichtig, dass alles richtig abläuft, dass alles gerecht ist. Denn das war es, was ihn durch seine Tage in seiner Arbeit als Hauptkommissar im Distrikt Søndre trieb, das hatte ihn schon als Jungen im Gamle Møllevej geprägt. Ein starkes, geradezu brennendes Verlangen nach Wahrheit und Gerechtigkeit.
Drei Wagen waren vor ihm gekommen.
Skarre, die Techniker und der...