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E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Ford Frank


1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-25016-1
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-446-25016-1
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Frank Bascombe ist wieder da: Richard Ford schickt seinen mürrischen Melancholiker auf eine Odyssee verstörender Begegnungen. Familientragödien, bösartige Exfrauen, späte Beichten – nichts bleibt Bascombe erspart. Und nie war er aufrichtiger und hellsichtiger als hier. Es sind die Tage nach Hurrikan Sandy in den USA. Der Anruf eines Freundes zwingt Bascombe dazu, sich vor Ort mit der Katastrophe auseinanderzusetzen. Die Kulisse zerstörter Häuser wird zum Hintergrund, vor dem Ford mit der Stimme seines berühmtesten Helden über die Beschädigungen des Lebens räsoniert: über das Alter und Krankheiten, über Erlösung und letzte Dinge. Und wie nebenbei beschreibt er dabei abermals die Lage des Landes.

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ICH BIN DA
Seltsame Düfte schweben heute Morgen, zwei Wochen vor Weihnachten, in der unruhigen Winterluft an der Küste. Das ominöse Meer liegt da wie blumenbekränzt, das weckt Erwartungen bei den Leichtgläubigen. Es ist, was sonst, das Aroma umfänglicher Renovierungen und Sanierungen. Frisch geschnittenes Bauholz, sauberes weißes PVC, der Laugendunst von Sakret-Mörtel, beißende Dichtmasse, süßliche Teerpappe und denaturierter Alkohol. Der mehlige Muff von Tyvek-Vlies mischt sich mit dem leichten Schwefelhauch des Ozeans und dem auflandigen Gestank der Barnegat Bay. Totalkatastrophe hängt in der Luft. Für meine Nase – die mal ganz geübt in diesen Dingen war – riecht nichts so intensiv nach Desaster wie die ersten Rettungsversuche. Zum ersten Mal fällt es mir an der Ampel der Hooper Avenue auf und dann wieder, als ich bei der Hess-Tankstelle meinen Sonata auftanke, kurz vor der Brücke zwischen Toms River und Sea-Clift. Hier in den Benzinschwaden zaust mir eine Winterbrise durchs Haar, während meine Dollars wegklackern, als wär’s ein einarmiger Bandit. Dezemberwolken ziehen sich zusammen. Die Brise bringt die silbernen Windrädchen bei Große Neueröffnung: Bed Bath & Beyond in der Ocean-County-Mall zum Wirbeln (»Mit dieser Bettwäsche stehst du nie wieder auf«). Der Home-Depot-Bau- und Technikmarkt – hoch aufragend wie der Kreml, aber ein rätselhafterweise immer noch freundlicher Kreml – hat auf der anderen Seite des hektargroßen Parkplatzes, der um zehn Uhr morgens ein Zehntel voll ist, seine Türen frühzeitig weit aufgesperrt. Kunden wanken heraus, balancieren Kisten mit neuem WC-Zubehör, neuen Motherboards, neuen Kabelbäumen, eingeschweißten Türangelbausätzen, Wabentüren, sogar eine komplette Eingangstreppe schwankt auf einem riesigen Einkaufswagen. Alles ist unterwegs zu irgendeinem Domizil, das nach dem Hurrikan noch steht, aber mit Schlagseite – sechs Wochen her, aber unvergessen. Der Schock ist noch deutlich zu spüren bei den Leuten hier, alle sind reizbar, verschreckt, ungerecht-behandelt-aber-fest-entschlossen. Das allgemeine Motto lautet »Wir kommen zurück«. Hier draußen unter der Hess-Markise hat jemand für uns Kunden lautstark einen Sportsender eingespeist – Pat & Mike von Magic 107 in Trenton. Früher war ich mal ihr treuer Fan. Jetzt sind sie von gestern. Eine dröhnende Stimme – Mike – verkündet: »Holla, Patrick. Da hat Trainer Benziwicki aber einen Hurrikan von Flüchen losgelassen, eine F-Bombe nach der anderen, ich kann dir sagen. Dreißig Sekunden über Tokio ist nichts dagegen.« »Da hören wir noch mal rein«, sagt Pat aus einem Lautsprecher tief in der Zapfsäule. »Ich fass es nicht. Fass es einfach nicht. Das ist im Fernsehen gelaufen, auf dem Sportkanal!« Noch eine kollerige, erschöpfte Stimme vom Band – Trainer B. – legt los, fuchsteufelswild: »Okay. Jetzt hört mir mal verF-bombt gut zu, ihr verF-bombten Sportreporter. Alles klar, ihr F-Bomber? Wenn ihr es irgendwann schafft, eine Mannschaft von neunjährigen verF-bombten Grundschulmädchen zu trainieren, dann kriegt ihr vielleicht, vielleicht einen Funken verF-bombten Respekt von mir. Aber bis dahin könnt ihr F-Bomber euch kreuzweise ins Knie F-bomben, bis zum Ende aller F-Bomben. Da habt ihr’s, live und in Farbe.« Der junge Hess-Angestellte mit dem weißen Anzug und den leeren Augen, der mir den Tank auffüllt, hört nichts. Er sieht mich an, als wäre ich nicht da. »Das sagt ja wohl genug«, kommentiert Mike. »Mehr als genug«, pflichtet Pat bei. »Lassen Sie Ihre Schlüssel einfach auf dem Schreibtisch, Herr Trainer. Sie haben fertig. Am besten fahren Sie mit dem verF-bombten Bus nach Hause in ihr verF-bombtes Chillicothe in Hinter-Ohio.« »UnF-bomben-fassbar.« »Wir machen eine kurze Pause, du F-Bomber.« »Ich? Du bist hier der F-Bomber. Ha-ha-ha. Ha-ha-ha-ha.« In den letzten Wochen habe ich angefangen, meine persönliche Liste von Wörtern anzulegen, die meines Erachtens nicht mehr gebraucht werden sollten – ob in mündlicher oder irgendeiner anderen Form. Und zwar aus der Überzeugung heraus, dass das Leben ein stetiges Weniger-Werden ist, bis wir bei einer solideren, immer annähernder vollkommenen Essenz angelangt sind, wonach es mit jeglicher mentalen Aktivität vorbei ist und wir uns auf den Weg zu unserem jeweiligen virtuellen Chillicothe machen. Ein reduziertes Reservoir an besseren Wörtern könnte da durchaus helfen, finde ich, als Modell für klareres Denken. Das ist ungefähr so, als würde man nach Prag ziehen und die Sprache nicht lernen, was dazu führt, dass das Englisch, mit dem man sich irgendwann zu verständigen versucht, besonders klar, einfach und gehaltvoll sein muss. Wenn man alt wird, so wie ich, lebt man sowieso weitgehend inmitten der Anhäufungen seines Lebens. Es passiert nicht mehr viel, außer an der medizinischen Front. Da empfehle ich Rückbau. Und wo ließe sich besser damit anfangen als bei den Wörtern, mit denen wir unsere immer selteneren, immer fahrigeren Gedanken ausdrücken. Es wäre für einen tschechischen Muttersprachler doch eine ziemliche Herausforderung, die Worte »Kacke« oder »verdemmelt« in allen ihren semantischen Nuancen auszudeuten, oder die Sätze »Wir sind schwanger« oder »Was springt dabei heraus?«. Oder, wenn wir gerade dabei sind, »Respekt!«, wenn nur »akzeptabel« gemeint ist. Oder »Opfer« oder »Mentee« oder »Altlasten«. Oder »kein Problem«, wenn man eigentlich »gern geschehen« sagen will. Dito bei »sanfte Landung«, »die Family«, »Bonding«, »dehydriert« (wenn man bloß »durstig« ist), Kunst »machen«, »teilen« (statt »mitteilen«), »etwas zurückgeben«, »das versendet sich«, »da bin ich ganz bei Ihnen« und … apropos Magic Einsnullsieben: die »F-Bombe«. Also, für mich funktioniert »Fuck« immer noch ziemlich gut als Substantiv, Verb oder Adjektiv, es hat eindeutige und differenzierte Einfärbungen in seiner überaus reichen Geschichte. Wie sagte der Dichter? Die Sprache imitiert das Gebrüll der Straße. Und wie soll man das Leben heutzutage denn finden, wenn nicht zum Brüllen? Gestern wurde um kurz nach acht mein Erwachen von einem unerwarteten Anruf gestört. Meine Frau Sally ging dran, holte mich aber dann für das Gespräch aus dem Bett. Ich hatte in Licht und Schatten der frühen Sonne wachgelegen und mich in Träumereien verloren, irgendwo, irgendwie geschah gerade etwas Gutes, das mich schon bald erreichen und glücklich machen würde, bloß wusste ich noch nichts davon. Seit ich mich (nach mehreren Jahrzehnten) aus der Immobilienbranche zurückgezogen habe, vermisse ich diese Vorfreude besonders schmerzlich. Sonst allerdings nichts, kein Wunder, wenn man bedenkt, wie sich der Immobilienmarkt entwickelt und was ich alles durchgemacht habe. Hier in Haddam bin ich froh und zufrieden, ich bin achtundsechzig und genieße die Nächste Stufe des Lebens – wohl auch die letzte: Demografisch gehöre ich zur »Leertisch-Fraktion«, endlich frei, um Gutes zu tun, falls mir danach sein sollte, durch und durch Gutes, überall auf der Welt. In diesem Geiste fahre ich einmal pro Woche mit einer Gruppe Veteranen hoch zum Flughafen Newark Liberty, um die Soldaten aus Afghanistan und Irak zu begrüßen, die ermattet und verwirrt für ihre einsatzfreie Zeit nach Hause kommen. Ehrlich gesagt finde ich nicht, dass ich mich damit »engagiere« oder etwas »zurückgebe«, denn es ist ja kaum eine Leistung, sich lächelnd mit ausgestreckter Hand da hinzustellen und laut zu verkünden: »Willkommen zu Hause, Soldat (oder Matrose oder Flieger)! Danke dafür, dass du gedient hast!« Es ist eher Selbstdarstellung als ernstgemeint und soll vor allem demonstrieren, dass wir noch immer zählen – mit anderen Worten, ein garantierter Beweis für das Gegenteil. Jedenfalls habe ich meine persönlichen Fühler ausgestreckt, um etwas zu finden, das ich tun kann, und zwar vereinbar mit der Ende-meiner-Tage-Phase – die sonst unter »Ruhestand« läuft. »Frank? Hier ist Arnie Urquhart.« Eine unwirsche, überlaute männliche Stimme knarzte aus dem Hörer, unterlegt mit dem fernen Reifensirren und Rauschen des Autoverkehrs. Irgendwo im Hintergrund lief Musik – Peter, Paul & Mary sangen »Lemon Tree«, im lang vergangenen Anno 65. »Le-mun tree, ve-ry pritty / and the lemun flower is sweet …« Da stand ich im Schlafanzug am Fenster und beobachtete den städtischen Wasserableser von Elizabethtown, der von der Straße auf unseren Wasserzähler zuschlenderte, und plötzlich entfleuchte mein Geist zu dem deftigen Gesicht der megasinnlichen Mary – mit dem grausamen Mund, dem scharf aufblitzenden blonden Haar und ihrer Altstimme, voller Verheißung auf einen handfesten Koitus, für den du auch kriechen und betteln würdest, obwohl du ganz genau wusstest, du wärst sowieso nicht gut genug. Als sie viel später starb, war sie Lichtjahre entfernt von ihrer alten Ausstrahlung – wallegewandet, nicht wiederzuerkennen. (Welcher von den anderen beiden war noch der Schniedelschwenker? Einer ist nach Maine gezogen.) »… but the fruit of the poor lemun is im-poss-i-bul to eat …« »Stell mal irgendwas leiser, Arnie«, sagte ich durch den Lärmmüll hindurch zu ihm, wo immer er auf dem Planeten war. »Ich versteh dich nicht.« »Na klar. Okay.« Ein schlürfendes Windgeräusch von einer Glasscheibe, die hochgefahren wurde. Die arme Mary wurde so stumm wie der Stein, unter dem sie begraben liegt. Die Verbindung war zuerst besser, dann hing sie ziemlich lange im Nichts. Ich telefoniere nicht mehr sehr oft. »Warum wünschen...


Heibert, Frank
Frank Heibert übersetzt meist aus dem Englischen und Französischen, neben Richard Ford u. a. Don DeLillo, Lorrie Moore, Tobias Wolff, Neil LaBute und Yasmina Reza. 2006 erschien sein erster Roman Kombizangen. Für seine übersetzungen wurde Frank Heibert 2012 mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt Preis ausgezeichnet.

Ford, Richard
Richard Ford wurde 1944 in Jackson, Mississippi, geboren und lebt heute in Maine. 1996 erhielt er für seinen Roman Unabhängigkeitstag den Pulitzer Prize und den PEN/Faulkner Award, 2019 den Library of Congress Prize for American Fiction. Bei Hanser Berlin erschienen zuletzt das Porträt seiner Eltern Zwischen ihnen (2017), der Erzählungsband Irische Passagiere (2020) und sein Roman Valentinstag (2023).



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