Fois | Abschiede | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 504 Seiten

Fois Abschiede

Kriminalroman

E-Book, Deutsch, 504 Seiten

ISBN: 978-3-945133-98-9
Verlag: Polar Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Als Kommissar Striggio an den Fall des kleinen Michele gerät, der auf einem Rastplatz spurlos aus dem Auto der Eltern verschwunden ist, durchlebt er privat eine schwierige Phase. Leo, seine Liebe, will, dass er endlich aufhört, ihre Beziehung zu verheimlichen, vor allem gegenüber seinem Vater. Und der ist gerade mit dem Zug von Bologna auf dem Weg zu ihm, mit einer bestürzenden Nachricht im Gepäck. Das Verschwinden Micheles einem ganz 'speziellen' Jungen erweist sich als Sprengsatz, der schließlich alles zum Explodieren bringt. Liebe und Hass wieder ausbrechen lässt. Bruchstücke der Vergangenheit an die Oberfläche schleudert. Der neue Roman von Marcello Fois ist ein Noir, weißglühend und von höchster Spannung. Ständig splitternd, durchbrochen vom Leben. Eltern, Kinder, Geschwister, Kollegen und Geliebte: Alle haben Teil an einem Ge- heimnis, das wohl behütet ist, seine Lösung verbirgt, bis zu den Schlussakkorden, wenn Fois die Karten auf den Tisch legt und wieder einmal seine großartige universelle erzählerische Begabung unter Beweis stellt.

Marcello Fois, 1960 in Nuoro, Sardinien geboren, ist der vielfach preisgekrönte Verfasser zahlreicher Romane und Erzählungen. Er schrieb auch für Theater, Fernsehen und Kino. Bekannt wurde er vor allem durch seine gefeierte Krimi- reihe um den sardischen Anwalt und Dichter Avvocato Bustianu. Zusammen mit seinen Kollegen Carlo Lucarelli und Loriano Macchiavelli gründete Fois die Gruppo 13, eine Art Literaturkooperative von Autoren aus der Emilia-Romagna, Norditalien. Nach seiner Trilogie, der Familiensaga um die Chironi im tiefsten Sardinien, kehrt Fois endlich wieder zum Genre seiner Anfänge zurück, dem Noir, als dessen herausragender Vertreter er gilt, und wie er in 'Abschiede' erneut großartig darlegt, genreübergreifend eine der bedeutendsten Stimmen der italienischen Gegenwartsliteratur ist. Er lebt seit seinem Studium in Bologna.
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Vor Jahrtausenden trug Gea den Namen Chtonie. Und lebte unter der Erde. Sie war ein Albino und ein schwieriges, unzugängliches Wesen, genau wie man sich Höhlenbewohner vorstellt, die noch nie das Sonnenlicht erblickt haben. Zeus war es, der sie aus den Tiefen hervorzog, in denen sie hauste. Was der Grund war, der den Gott der Götter dazu bewegt hatte, bleibt ein Rätsel. Chtonie war keine Schönheit: Sie war fett und weiß wie eine jener Larven, auf die die australischen Ureinwohner ganz versessen sind. Sie war halb blind und hatte einen fürchterlichen Charakter. Aber Zeus liebte die Herausforderungen. Und diese war mit Abstand die schwierigste. Zuallererst galt es, sie aufzuspüren, denn sie versteckte sich in den unzugänglichsten Klüften oder in den Tiefen der Höhlengänge am Meeresgrund. Wiederholt hatte Zeus versucht, sie hervorzulocken, war mit seiner Blitzhand, unter der sich die Erdkruste wie Gelatine teilte, längskantig in die Tiefe eingedrungen. Dann war er damit wie wild in allen Richtungen herumgefahren, ohne zu begreifen, was oder wen er da jeweils erwischt hatte. Es brauchte rund zweihundert Menschenjahre – was ungefähr zehn Minuten Götterzeit gleichkommt – und so manchen Misserfolg, bis er schließlich am Ziel war. Nach beharrlichem Suchen hielt Zeus bald schon den schlaffen Leib von Chtonie in der Hand. Er jubelte und achtete sorgsam darauf, die Faust nicht zu schließen, damit sie in den Windungen seiner glühenden Finger nicht erstickte. Aus den Eingeweiden der Erde gehoben, schaute Chtonie sich um. Was sie sah, behagte ihr zwar nicht besonders, aber es missfiel ihr auch nicht. In der Hand des Gottes hatte sie ihre Blässe verloren, war dunkler geworden und zog eine finstere Miene. Womöglich hatte sie immer schon finster dreingeblickt, auch zuvor, als sie noch in den Eingeweiden der Erde gelebt hatte. Zeus jedenfalls fand, dass sie in dieser dunklen Version ganz und gar nicht übel sei. Nun gab es viel zu tun. Für den Anfang würde er es halten wie Rex Harrison in My fair Lady, wenn er die noch ungeschliffene Audrey Hepburn den Satz: »Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühn« endlos wiederholen lässt. In diesem lasterhaften Gott der Götter steckte eine gewisse Leidenschaft für die missions impossible: In Schwanengestalt, in Form von goldenem Regen, als Hengst, als weißer Stier und so fort hatte er geliebt. Einmal hatte er, nur um Alkmene zu verführen, wohl oder übel die Gestalt ihres Ehemanns Amphitryon annehmen müssen. Er hatte ein beachtliches Curriculum vorzuweisen, denn er war jemand, dem die Vorstellung, etwas nicht tun zu können, absolut zuwider war. Und genau diesen Charakterzug hat er dann Milliarden Menschenwesen verliehen. Wie auch immer, aus dem Erdenuterus gehoben, verlor Chtonie ihre Blässe. Und sie wurde sehend. Und was sie sah, war ein wirres Gemisch aus fester, flüssiger, gasförmiger Materie. Das Himmelsgewölbe war in ihren Augen nicht vertraueneinflößend genug, um sich unter ihm sicher zu fühlen, zumal die Erde auf diese Weise Winden aller Art ausgesetzt war. In Zeus’ riesiger Hand fühlte sie sich aufgehoben wie Jessica Lange, wenn sie von King Kong gepackt wird. Und sie blickte um sich, mit wachsendem Misstrauen. Gewiss nicht resigniert, denn im Stillen dachte sie, sobald die Gelegenheit käme, würde sie in sichere Gefilde zurückkehren, wo keine Winde bliesen und die Gewölbe aus festem Gestein, nicht aus Luft waren. Zurück an ihrem sicheren Ort, wo das Getier blind und die Gewitter der Oberfläche nichts weiter als kristalline Rinnsale waren, gefiltert von vielen Schichten Erde und Gestein. Aber sie hatte die Hartnäckigkeit desjenigen unterschätzt, der sie ans Tageslicht geholt hatte. Sie hatte nicht mit den zauberhaften Verführungen der oberirdischen Welt – die wahrhaft abgründig waren – gerechnet. Als Erstes war da der Duft, denn man konnte nicht gerade behaupten, dass dort unten, wo sie herkam, wer weiß was für ein Wohlgeruch herrschte. Trotzdem war die Grotte wunderbar sicher, auch wenn sie nach Fauligem roch, nach Vogelmist und Salz. Das fiel Chtonie erst auf, als sie die herrlich angenehmen Düfte schnuppern durfte, die aus der Öffnung des Himmels kamen. Heute würde ihr, wenn der Wind günstig stand, der Gestank des Eco Centers am Lungo Isarco Destro um die Nase wehen. Und Zeus nickte zufrieden, denn diese Kreatur, auf die er einige Minuten seiner Zeit verwendet hatte, was Jahrhunderten der Menschenzeit gleichkam, erwies sich als unglaublich begabt und von rascher Auffassungsgabe. Gleich nach dem Duft kam die Temperatur, die, noch weit davon entfernt, eine Obsession der Menschen zu werden, ein Gefühl der Teilhabe war: Bei Kälte verdickt sich die Haut, bei Hitze wird sie dünn und transpiriert. In der Pranke von Zeus schwitzte Chtonie, und jetzt, der freien Luft ausgesetzt, zitterte sie und bekam eine Gänsehaut. In den Tiefen, aus denen man sie geraubt hatte, gab es weder Warm noch Kalt. Dort herrschte eine einzige, gleichmäßige, vorhersehbare Temperatur. Dann waren da die Tränen, salziges Wasser, das direkt aus den Augen drang. Chtonie wusste nicht einmal, was dieses seltsame Phänomen war, das sie Wasser, das Meereswasser zu sein schien, verlieren ließ. Sie spürte bloß, wie es ihr über die Wangen rann, und wusste nicht, was sie machen sollte. Der Donnergott sprach zu ihr, um sie zu beruhigen, und gab den Dingen einen Namen: Duft, Temperatur, Tränen. Und dann blickte er jenem Geschöpf in die Augen und sagte, dass auch sie wie alle belebten und unbelebten Dinge an der Oberfläche einen Namen brauchte, und dieser Name sei Gea. Darauf bewegte er wie der Riese in dem Film Jack and the Beanstalk seine riesige Hand wie einen Kipplaster, setzte sie behutsam auf der Erde ab und befahl ihr zu gehen. Und so entdeckte Chtonie, dass es außer der Härte des Gesteins, das sie stets unter ihren Füßen gespürt hatte, auch die wundervolle Weichheit der Wiesen gab. Dass außer der Sprödheit ihres unterirdischen Namens auch die Weichheit ihres irdischen Namens existierte. Chtonie, inzwischen endgültig Gea, blickte verloren, aber voller Erregung um sich. Und erstmals wandte sie sich direkt an Zeus und sagte, dass sie wirklich nicht begreife, wie man so unglücklich und zur selben Zeit so glücklich sein könne. Es braucht seine Zeit, aber du wirst es schon noch verstehen, dachte Zeus, der nie laut sprach, sondern dachte. Und nachdenkend, immer wieder dieselben Gedanken wälzend und grübelnd, gab er, ohne den Mund aufzumachen, Antworten, die dennoch alle um ihn herum hörten. Genau wie es Nicola Ludovisi widerfuhr, der zusammen mit der Familie – seiner Ehefrau Gea, dem Sohn Michele – schweigsam am Tisch Nummer sieben in der Antica Trattoria Olimpo in Sanzeno saß. »›Einige Jahrtausende‹, wie viele?«, fragte Gea mehr überrascht als erheitert den Sohn. »Sagen wir, vier oder fünf«, hatte Michele geschwind nachgerechnet. »Wenn man bedenkt, dass die mykenische Zivilisation rund 1600 vor Christi zu verorten ist …« »Bist du sicher, dass du erst elf Jahre alt bist?«, fragte Gea den Sohn. »Kannst du dir so etwas vorstellen?«, fügte sie an Nicola gewandt hinzu. Ihr Tonfall, ihr ganzes Getue war eine Mischung aus Aufrichtigkeit und Verlogenheit, als wäre sie im Gegensatz zu dem, was sie glauben machen wollte, über dieses kleine Genie hochzufrieden. »Ich denke, du solltest deine Kindheit leben, das meine ich«, sagte sie, wieder an den Sohn gerichtet. »Nicola, sag du es ihm auch …« Nicola schien abgelenkt von den hässlichen Druckgraphiken an der Wand hinter Gea. Höchstwahrscheinlich hatten sie etwas mit dem Namen des Lokals zu tun. Denn dort ging es um Zeus und seine Verwandlungen: Auf dem ersten sah man ihn in Gestalt eines tänzelnden Hengstes, der die Göttin Dia umgarnt; auf dem zweiten als prächtigen Schwan, der sich nach Leda verzehrt; auf dem dritten als gekrönten Stier, der Europa auf dem Rücken trägt; auf dem vierten ist er herabtropfender goldener Regen, den Danaë zwischen ihren Schenkeln empfängt; auf dem fünften steht da ein bärtiger Mann, hinter ihm ein Bett, und auf dem liegt eine spärlich gekleidete Frau, und nicht weit entfernt befindet sich eine Büste mit dem vollkommenen Ebenbild des stehenden Mannes … »Nicola?«, ließ Gea nicht locker, »weilst du unter uns?« Nicola machte ein entsprechendes Zeichen. »Das da versteht man wirklich nicht«, sagte er und deutete auf den letzten der fünf Drucke. »Amphitryon«, klärte Michele ihn prompt auf. Wie er es auch in der Klasse getan hätte, sehr zum Ärger seiner Mitschüler, bei denen er verhasst war, weil er immer alles wusste. Bei Schuljahresbeginn, einige Monaten zuvor, war Gea von der Klassenlehrerin einbestellt worden, die etwas von Asperger-Syndrom gefaselt hatte. Und Gea hatte sich, obwohl sie selbst häufiger an so etwas gedacht hatte, gesagt, dass sie jetzt das Gegenteil glauben machen musste. »Ach«, meinte Nicola...


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