Eine deutsche Familiengeschichte an den Gräbern erzählt
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-86408-342-6
Verlag: Vergangenheitsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Wilga Föste, Jahrgang 1969, ist Ökonomin und freiberufliche Autorin. Sie studierte und promovierte im Fach Volkswirtschaftslehre an der Bergischen Universität Wuppertal und war am Forschungsinstitut für Ordnungspolitik in Köln beschäftigt. Heute arbeitet sie als freiberufliche Autorin in Kooperation mit der Kölner Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik. Sie veröffentlichte bereits eine Reihe ökonomischer Fachbücher vor allem zur Sozialen Marktwirtschaft.
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Prolog
Als ich nach der Beerdigung der jüngsten Schwester meiner Mutter zu einem Freund im Scherz sagte, dass ich irgendwann einmal ein Buch schreiben würde mit dem Titel Meine schönsten Beerdigungen, brach er in lautes Gelächter aus – ihm gefiel die Idee, und auch die Erzählung von der Beisetzung, die einige recht bemerkenswerte Aspekte aufwies, fand seine Anerkennung. Natürlich waren meine Worte nicht ernst gemeint. Ich hatte keineswegs die Absicht, ein Buch über meine Familie zu schreiben. Aber ich verfasste einen kurzen Text, eine Art Tagebucheintrag, in dem ich die Ereignisse rund um diese für mich so besondere Beerdigung festhielt, gewissermaßen als Erinnerung, damit ich bestimmte Worte, die gesprochen worden waren, und bestimmte Bilder, die sich mir gezeigt hatten, nicht vergaß. Dabei beschrieb ich auch meine Nervosität, die ich vor der Begegnung mit den Angehörigen meiner Familie verspürt hatte, und meine Erleichterung darüber, dass ich am Ende dieser Reise, die mich tief in die Vergangenheit geführt hatte, wieder in die Gegenwart und in mein eigenes Leben zurückkehren konnte. Und obwohl ich an diesem Tag eine gewisse Anspannung empfunden und wechselnde Gefühlslagen durchlaufen hatte, war der Ton meines Berichts doch eher heiter und mit einigen kurzen Ausflügen in das schöne Reich der Ironie angefüllt. In dieses Reich der Ironie begebe ich mich gerne, vor allem wenn es eng wird im Leben und ich die Dinge nicht zu nahe an mich herankommen lassen möchte, weil sie mich dann vielleicht aus dem Gleichgewicht bringen würden. Auch in misslichen Situationen ist es häufig mein erster Impuls, die ungewollte Komik zu sehen, die sich in vielen Lebenslagen verbirgt. Ich lache viel lieber, als dass ich mich gräme, und ich bringe auch andere gerne zum Lachen. Die eigenen kleinen Missgeschicke betrachte ich häufig unter dem Blickwinkel ihrer Verwertbarkeit als Anekdote, mit der man die Mitmenschen erheitern kann. Für mich ist das sprichwörtliche Glas immer halbvoll, und ich versuche, das Leben und seine Verstrickungen nicht allzu ernst zu nehmen. Vielleicht bin ich auf dem einen Auge ein wenig blind, in jedem Fall aber halte ich mein Inneres am liebsten verborgen, auch vor mir selbst. Dabei bin ich nicht gut darin, Unangenehmes zu verdrängen, ganz im Gegenteil: Ich erinnere mich an viele unschöne Begebenheiten, und die Bilder haben sich fest in mir eingegraben. Blicke, die getauscht, Worte, die gesprochen wurden – vieles davon ist bis heute präsent. Was ich verborgen halte, sind die Gefühle, die durch diese Begebenheiten ausgelöst wurden, sei es Trauer, Wut oder Scham. Scham ist für mich das schlimmste aller Gefühle und stellt sich vor allem dann ein, wenn mir in der Annahme, richtig zu handeln, ein Fehler unterläuft und andere mich korrigieren müssen. Scham ist für mich ein Gefühl, das ich für meine eigenen Fehltritte empfinde und das auf mein Handeln in der Gesellschaft verweist: Ich schäme mich für meine Worte, wenn sie unangemessen sind, und ich schäme mich für mein Verhalten, wenn es gegen das verstößt, was andere im Sinne der guten Sitten von mir erwarten dürfen. Was ich nur selten verspüre, ist eine Scham für meine Mitmenschen, und auch für meine Familie habe ich mich nie geschämt. Ich gestehe anderen in der Regel sehr viel mehr zu als mir selbst, und auch die Widersprüche, die Menschen in ihrem Wesen zeigen, gehören für mich zum Leben dazu. Vor allem aber wahre ich immer eine gewisse Distanz: Ich beobachte eher, als dass ich mich einmische, und ziehe aus dem Beobachteten meine Schlüsse, mit einem sicheren Abstand vom Geschehen selbst, vor allem aber von den starken Gefühlen, die mit diesem Geschehen verbunden sein können. Dabei sehe ich mich und andere nicht vorrangig als Teil einer Gruppe, auch nicht als Teil einer Familie, ich sehe mich und andere zunächst als Menschen, die für sich selbst stehen. Auch suche ich mir lieber selbst meine Kreise, als um jeden Preis an verwandtschaftlichen Banden festzuhalten – dies umso mehr als mein Elternhaus früh in Auflösung geriet und viele Angehörige schon lange tot sind. Ich schicke dies alles voraus, um zu erklären, warum es mir eher leichtfällt, offen mit der Geschichte meiner Familie umzugehen. Manchen ist es sicher lieber, über das Leben der eigenen Angehörigen Stillschweigen zu bewahren und die kleinen und größeren Geheimnisse, die es in so vielen Familien gibt, weiter geheim zu halten. Weil sie sich schämen. Weil sie in dem Bewusstsein groß geworden sind, dass man über bestimmte Dinge besser nicht spricht und dass man das eigene Nest nicht beschmutzen sollte mit dem, was man landläufig als Wahrheit bezeichnet. Weil die Familie nach wie vor Bestand hat und sich ein offenes Wort in Rücksichtnahme auf die anderen verbietet. Und auch wenn ich selbst keine Scham für manche meiner Angehörigen kenne, aus dem einfachen Grunde, weil ich eine große emotionale Distanz zu ihnen habe und weil sie für sich selbst einstehen müssen, so kann ich diese Hemmnisse sehr gut nachvollziehen. Manchmal ist es auch einfach so, dass die Familiengeschichte mit den Menschen, die sie erlebt haben, untergegangen ist und sie den Nachkommen daher verschlossen bleibt. Auch in meiner Familie gibt es Geschichten und Geheimnisse, die im Laufe der Zeit verloren gegangen sind. Manches davon habe ich wiederentdecken können, mit Hilfe privater Unterlagen und Fotografien, aber auch mit Hilfe von Archivalien und Zeitungsberichten. Zwei Dinge waren dabei von besonderem Wert: Als die jüngste Schwester meiner Mutter starb, hinterließ sie einen kleinen braunen Koffer, den sie einige Jahre zuvor an meinen Bruder hatte weitergeben wollen. Er aber hatte das Angebot damals ablehnt, und so bewahrte sie ihn weiter auf, denn er enthielt Dinge, von denen man sich nicht leichten Herzens trennt: Fotografien, Briefe, Postkarten, Gedichte, Zeugnisse, Bürounterlagen, Zeichnungen aus einem Luftschutzbunker, Anstecknadeln und Orden – alles Dinge, die aus dem Nachlass meiner Großmutter stammten und die Auskunft über verschiedene Stationen ihres Lebens gaben. Ein wahrer Fundus, anfangs allerdings schwer zu durchdringen, weil die Personen auf den Fotografien und in den Briefen für mich Fremde waren. Erst mit Hilfe amtlicher Dokumente verschiedener Archive und Standesämter war es mir möglich, diesen Personen Namen zuzuordnen, ihr Leben zu rekonstruieren und das Beziehungsgeflecht der Familie zu entwirren. Um das Leben einer ihrer Brüder näher zu beleuchten, war außerdem die Heimatzeitung jenes Ortes eine große Hilfe, in dem die Familie der Großmutter lange Jahre gelebt hatte, viele ihrer Mitglieder bis zu ihrem Tod. Es war die Velberter Zeitung, die zahlreiche Hinweise lieferte und dabei nicht nur einen tiefen Einblick in eine bestimmte Lebensphase jenes Bruders bot, sondern auch anschaulicher noch als jedes Fachbuch ein Gefühl für die Vergangenheit vermitteln und mich reichhaltig mit Material versorgen konnte, das ich an vielen Stellen verwendet habe. Und obwohl es zunächst nur ein Scherz gewesen war, ließ mich der Gedanke nicht mehr los, ein Buch zu schreiben mit dem Titel Meine schönsten Beerdigungen. Eigentlich wollte ich die Vergangenheit gar nicht aufsuchen, aber plötzlich, ein paar Jahre später, machte ich mich doch auf die Reise. Irgendetwas trieb mich an, und ganz wie es meiner Art entspricht, waren die ersten Textstellen heiter und immer wieder mit einer gewissen Ironie formuliert. Aber diese Heiterkeit trug nicht lange. Sobald ich mich auf die Geschichte einließ, wandelte sich der Ton der Erzählung. Die Anekdote verschwand und machte Platz für einen Ton, der dem Geschehen entsprach. Und auch der Tenor der Erzählung verlagerte sich immer weiter. Immer noch ging es um die wichtigsten Beerdigungen meines Lebens, aber irgendwann ging es um sehr viel mehr. Es ging um die Geschichte meiner Familie, um die Geheimnisse, über die nicht gesprochen worden war, und um die Verbindung unserer Familiengeschichte mit der Geschichte unseres Landes. Und je weiter die Erzählung wie von selbst voranschritt, umso klarer wurde mir, dass der ursprüngliche Titel nicht mehr angemessen war: Nicht von schönen Beerdigungen wird hier die Rede sein, sondern von Beerdigungen, die Aufschluss geben über die Geschichte einer ganz normalen Familie, eingebunden in die Zeitläufte des 20. Jahrhunderts. Noch einige Worte zum Verständnis: Bei der Darstellung historischer Sachverhalte wurde auf verschiedene Quellen zurückgegriffen – auf Fachbücher, Aufsätze, Gesetzestexte, Archivalien und sonstige Dokumentationen. Vor allem aber wurde immer wieder die Berichterstattung der Velberter Zeitung herangezogen, die den Nationalsozialismus seit 1930 mit Enthusiasmus unterstützt und das Dritte Reich begeistert begrüßt hatte.1 So sind viele Informationen zur NSDAP, Hintergründe zur Hitlerjugend und Auszüge aus Reden von Adolf Hitler, Joseph Goebbels, Hans Frank und Hermann Göring in weiten Teilen der Velberter Zeitung entnommen. Einige dieser Textstellen sind, wie auch die verwendeten Gedichtzeilen der Großmutter, als wörtliche Zitate in Kursivschrift wiedergegeben. Auch wurden spezifische Termini der Nationalsozialisten und die von ihnen eingeführten Bezeichnungen von Ämtern, Verbänden und Diensträngen kursiv gesetzt, um sie als nationalsozialistische Begriffe kenntlich zu machen. Davon ausgenommen sind lediglich jene Bezeichnungen, deren nationalsozialistische Herkunft als bekannt vorausgesetzt werden kann. NSDAP, Hitlerjugend, SS und SA, Reichssicherheitshauptamt, Geheime Staatspolizei oder Gestapo und Konzentrationslager sind vermutlich jedem ein Begriff und müssen nicht eigens hervorgehoben...