Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-492-96947-5
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nicola Förg, Bestsellerautorin und Journalistin, hat mittlerweile über zwanzig Kriminalromane verfasst, an zahlreichen Krimi-Anthologien mitgewirkt, einen Island- sowie einen Weihnachtsroman vorgelegt. »Hintertristerweiher«, ihr von der Presse vielfach gelobter Roman, ist 'eine feinsinnige Familiengeschichte, die über Generationen hinweg reicht und einen spannenden Bogen schlägt von den Wirren des Zweiten Weltkriegs bis zu den Wirrungen in der Jetztzeit' (Münchner Merkur). Die gebürtige Oberallgäuerin, die in München Germanistik und Geografie studiert hat, lebt heute mit Familie sowie Ponys, Katzen und anderem Getier auf einem Hof in Prem am Lech - mit Tieren, Wald und Landwirtschaft kennt sie sich aus. Sie bekam für ihre Bücher mehrere Preise für ihr Engagement rund um Tier- und Umweltschutz.
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Mering, Bayerisch-Schwaben Vorsichtig nahm Sonja die Speicherkarte aus dem Aufnahmegerät und steckte sie in ihren Laptop. Dann kochte sie sich einen Tee und setzte sich. Inzwischen war es ihr zur lieb gewonnenen Gewohnheit geworden, sich jeden Abend ihre ganz persönliche Soap anzuschauen – so wie andere ihre Vorabendserien sahen und in die Leben der TV-Helden eintauchten, als wäre es ihr eigenes. Nicht jede Folge war gleichermaßen spannend, doch das konnte man von TV-Serien auch nicht behaupten. Im Gegensatz zum Fernsehen war Sonjas Reality-Soap aber nie vorhersagbar. Die Bilder von heute waren besonders wacklig. Sattes Grün flog vorbei, es wurde dunkel, dann wieder hell. Dann kehrte Ruhe ein. Die Kamerafrau saß wahrscheinlich gerade unter einem Busch. Vieles war aus einer Perspektive dreißig Zentimeter über dem Boden aufgenommen. In Blickrichtung der Kamera war eine Gestalt auszumachen, die im Bikini auf einem Badehandtuch im Gras lag. Sonjas Nachbarin Lorelai Münzinger. Wie konnte man sich in diesem Alter nur Lorelai nennen?, fragte sich Sonja. Lore wäre passender gewesen. Die Erklärung lautete, dass die Nachbarin ein großer Fan der »Gilmore Girls« war. Lorelai Münzinger hatte ursprünglich Ursula geheißen. Den neuen Namen hatte sie allen Ernstes offiziell eintragen lassen. Wenn Post mit dem Namen Ursula Münzinger kam, schickte sie diese als unzustellbar retour. Das alles wusste Sonja von Max' und Idas Mutter. Die Zwillinge besuchten die Hortgruppe, in der Sonja bisweilen aushelfen durfte. Die Mutter von Max und Ida war eine ganz normale Schwäbin und fand Kinder, die Kevin (»kein Name, sondern eine Diagnose«) oder Chayenne hießen (»ist das nicht ein Pfeffer?«), ganz grauenvoll. Sonja auch, aber damit musste sie in ihrem Job natürlich hinterm Berg halten. Außer Max und Ida trug in der Pumuckl-Gruppe nur Franziska einen eher klassischen Namen. Ansonsten gab es drei Amelies, eine Alissa und eine Elisa. Bei den Jungen häuften sich die Namen auf L: Louis, Luca, Leon und Leo. Bei den Hortkindern, die nach der Schule kamen und gegen fünf abgeholt wurden, half Sonja aber wie gesagt nur aus. Eigentlich war sie im Gebrüder-Grimm-Haus eingesetzt, wo es jedoch alles andere als märchenhaft zuging. Die Bezeichnung »Heilpädagogisches Kinderheim« war wohl auch ironisch gemeint. Ihre Chefin war eine Hexe aus dem ehemaligen Osten, mehr Gefängniswärterin denn Pädagogin. Und Heim? Erziehungsanstalt traf es viel eher. Immer wenn Sonja zur Arbeit fuhr, nahmen ihre Magenschmerzen proportional zur Fahrstrecke zu. Aber kündigen? Dann hätten die armen Kinder ja gar niemanden mehr gehabt. Die kleine Elena zum Beispiel, deren montenegrinische Mutter ihr als Baby Wodka in die Flasche gegeben hatte, damit sie endlich einschlief. Es hatte lange gedauert, bis das Jugendamt eingeschritten war. Erst als die Kleine bei scharfen Minusgraden nur mit einem Hemdchen bekleidet barfuß durchs Dorf geirrt war und die Polizei die Kleine aufgegriffen und ins Krankenhaus gebracht hatte – erst da war im Amt jemand aufgewacht. Elena war ins Heim gekommen. Die Mutter lebte inzwischen die meiste Zeit wieder in Montenegro, der russische Kindsvater in Österreich. Elena war ein stilles Mädchen, das Vertrauen zu Sonja gefasst hatte. Sonja war auch die Einzige, mit der sie ganze Sätze sprach. Das Bild flackerte. Wieder war verwackeltes Grün und Grau zu sehen, es folgte ein kurzer Blick in den blauen Himmel. Dann hörte die Bewegung auf. Vermutlich lag die Kamerafrau gut versteckt unter einem anderen Busch. Die Nachbarin drehte ihren dünnen Körper von der Bauchlage auf den Rücken. Dabei sprangen die Brüste wie zwei Plastikbälle nach oben. Da musste einiges an Silikon verbaut worden sein. Sonja schätzte Lorelai Münzinger auf weit über fünfzig. Früher war sie mal mausbraun oder aschblond gewesen, nun trug sie glänzendes Lorelai-Brünett. Dazu gab es neuerdings Schlauchbootlippen, und außerdem hatte man ihr das Gesicht nach hinten getackert. In einer dieser Absaugekliniken hatte sie mindestens zwei Kleidergrößen verloren und konnte mittlerweile in der Kinderabteilung einkaufen. Dafür waren ihre Möpse überdimensional geworden. Wenn man sie von hinten auf ihren hohen Stiefeln daherstöckeln sah, hätte man sie für einen heißen Feger halten können. Was ein paar Bauarbeitern kürzlich auch passiert war. Sie hatten ihr aufs Heftigste hinterhergepfiffen und sich dann, als Frau Lorelai ihnen ihre Vorderfront präsentiert hatte, ganz schnell auf den Mund geschlagen. Nun – wegen Sonja pfiff sowieso keiner, das wusste sie. Dafür hatte sie den Jungs immer Kaffee gemacht, die hatten sich wirklich gefreut. Immerhin. Sonja traf ihre Nachbarin ab und zu beim Einkaufen im nahen Supermarkt. Lorelai hatte immer nur Gemüse, Sojadrinks und Prosecco auf dem Band, während Sonja sich Käse mit fünfzig Prozent Fettanteil aufwärts und Kekse auflud. Und Teebeutel. Alkohol trank sie nämlich nicht. Zu viele der traumatisierten Kinder im Heim hatten Eltern, die Alkoholiker waren. Immer wenn sich Lorelai zu ihr umdrehte und grüßte, hätte Sonja sich am liebsten unter das Band zu den Plastiktüten verkrochen. Wie konnte eine Frau ihr Gesicht so verunstalten? Sonja wusste, dass Lorelai früher, als sie noch Ursula hieß, gemodelt hatte. War man gefährdeter, wenn man aus einer Welt kam, in der nur die Schönheit regierte? Für Sonja war das alles so weit weg wie Timbuktu. Sie hatte als kleines Mädchen nie den Wunsch gehegt, Model oder Schauspielerin zu werden. Stattdessen hatte sie Reitlehrerin werden wollen. Jetzt war sie Erzieherin, immerhin. In die Welt der Schönheit würde sie auch nie Eingang finden – zu viele Kekse, zu viel Kuchenbacken mit den Kindern. Sie war zu dick zum Modeln und hatte dünne Haare. Zu klein war sie außerdem. Warum konnte diese Ursula-Lorelai sich nicht einfach über ihren früheren Modelerfolg freuen und einer geruhsamen Rentenzeit entgegensehen? Einmal hätte Sonja sie beinahe gefragt, warum sie denn unbedingt jung bleiben wolle. Aber das war an einem Tag gewesen, als sie sich offenbar gerade die kleinen Fältchen um die Lippen hatte wegspritzen lassen. Anscheinend hatte sie allergisch reagiert, denn sie hatte lauter kleine rote Pünktchen rund um den Mund gehabt. Kleine fiese Pusteln waren das gewesen. Natürlich hatte Sonja doch nicht nachgefragt und im Supermarkt nur ganz schnell zur Begrüßung genickt. Dann war sie zum Marmeladenregal gegangen und hatte so getan, als studiere sie die Etiketten. Zweimal hatte sie bei Lorelai angeklingelt, als sie mal wieder auf der Suche nach ihrer Katze gewesen war. Sie hatte ihre Nachbarin gebeten, mal im Keller und im Gartenhaus nachzusehen. Lorelai hatte es ihr versprochen, hereingelassen hatte sie Sonja jedoch nicht. Dabei hätte sie viel lieber selbst nachgesehen. Aber voranpreschend war sie noch nie gewesen. Das Bild wackelte, bevor es wieder zum Stillstand kam. Sonja brauchte einige Sekunden, um das einzuordnen, was sie da vor sich sah. Lorelai hatte ihr winziges Bikinihöschen ausgezogen und rasierte sich. Untenrum. Sonja sah weg und dann wieder hin. Wieder weg, wieder hin. Schließlich wandte sie den Blick ab und griff hastig nach ihrer Teetasse. Als sie wieder hinsah, war die Ansicht völlig verschwommen. Lorelais Bikinizone war verschwunden. Dafür gab es ein Getümmel. Federn flogen durchs Bild. Die Kamerafrau hatte einen Vogel gefangen. Seit ihre Katze diese Catcam um den Hals hatte, konnte sie nicht auch noch ein Glöckchen tragen, dabei wäre das durchaus sinnvoll gewesen. Die Katze war eine begnadete Jägerin. Sie schleppte nicht nur Vögel an, sondern auch andere Lebewesen wie Frösche, Eidechsen und Blindschleichen. Kürzlich hatte sie mal eine ganze Lyoner durch die Katzenklappe gezerrt. Vermutlich hatte sie die irgendwo geklaut. Dass die Katze eines Tages zur Killerin mutieren würde, hatte sich so gar nicht angedeutet, als sie im zarten Alter von zwölf Wochen zu Sonja gekommen war. Das erste halbe Jahr hatte sie die Katze im Haus gehalten und das drollige kleine Wesen mit einer Katzenangel und Bällchen bespaßt. Das waren herrliche Zeiten gewesen, und die Katze hatte auch nie Anstalten gemacht, sich für eine Welt außerhalb der Haustür zu interessieren. Doch eines schönen Tages war Sonja nachts von gar schauerlichen Geräuschen geweckt worden. Die Katze wand sich, rubbelte mit ihrem Po über den Boden und wehklagte. Immer wieder fiel sie dramatisch zur Seite. Sie musste ungeheure Schmerzen haben. Die Stunden, bis die Praxis der Tierärztin um acht öffnete, waren kaum auszuhalten. Sonja hatte mit der Katze im Transportkorb schon eine Weile vor der Tür gestanden, als Nicole, die Tierarzthelferin, die mit Sonja eine Weile in der Grundschule gewesen war, endlich den Türsummer betätigte. Nicole und ihre Chefin waren wirklich sehr rücksichtsvoll und gaben sich größte Mühe, sich das Lachen zu verkneifen. Die Katze sei rollig, erklärte die Tierärztin. Und zwar so was von rollig. Die reinste Hormonexplosion. Und sie gehöre bald mal kastriert. Nach drei Tagen wurde aus dem Tier wieder die nette, eher zurückhaltende Katze, und wenig später wurde der OP-Termin anberaumt. Sonja war am Tag des Eingriffs völlig durch den Wind, und als nachmittags der Anruf kam, sie könne die Katze doch erst morgen abholen, stand ihr die schlimmste Nacht ihres Lebens bevor. Sie musste drei Packungen Schokocrossies essen und diese auch bald wieder von sich geben. Bestimmt war die Katze verstorben. Zum Glück war es nicht so. Sonja verstand nicht ganz, was ihr in der Praxis über Komplikationen und verdrehte Eierstöcke erzählt wurde. Die Katze sah zickig aus, sie hätte sicher Besseres zu tun gehabt, als die Nacht bei der Tierärztin zu verbringen....