E-Book, Deutsch, Band 11, 336 Seiten
Reihe: Alpen-Krimis
Ein Alpen-Krimi
E-Book, Deutsch, Band 11, 336 Seiten
Reihe: Alpen-Krimis
ISBN: 978-3-492-99560-3
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nicola Förg, Bestsellerautorin und Journalistin, hat mittlerweile über zwanzig Kriminalromane verfasst, an zahlreichen Krimi-Anthologien mitgewirkt, einen Island- sowie einen Weihnachtsroman vorgelegt. »Hintertristerweiher«, ihr von der Presse vielfach gelobter Roman, ist 'eine feinsinnige Familiengeschichte, die über Generationen hinweg reicht und einen spannenden Bogen schlägt von den Wirren des Zweiten Weltkriegs bis zu den Wirrungen in der Jetztzeit' (Münchner Merkur). Die gebürtige Oberallgäuerin, die in München Germanistik und Geografie studiert hat, lebt heute mit Familie sowie Ponys, Katzen und anderem Getier auf einem Hof in Prem am Lech - mit Tieren, Wald und Landwirtschaft kennt sie sich aus. Sie bekam für ihre Bücher mehrere Preise für ihr Engagement rund um Tier- und Umweltschutz.
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»Und so schön weiß und blau geringelt ist der Maibaum, wie ein niedliches Kindersöckchen!« »Des is kaa Sockn! Des is a Spirale von unten links nach oben rechts. Erst werd de weiße Farb auftrogn und dann des Blau. Fuchzig Kilo Farb leicht amoi.« Bernhard stand kurz vor der Explosion und Irmi ganz knapp vor dem Lachkrampf. Dabei hatte alles ganz harmlos begonnen. Mit einem Himmel weiß und blau über den Biertischen in Urspring. Die Veranstalter hatten ein Zelt aufgestellt, bei dem schönen Wetter saßen aber alle draußen. Die Schlange an der Essensausgabe war lang wie ein Tatzelwurm gewesen, weswegen Irmi aufs Essen verzichtet hatte. Nun saß sie am Tisch, trank ihr kühles Bier und wunderte sich über sich selbst. Sie hatte gemacht, was sie seit Jahrzehnten nicht mehr gemacht hatte – einen Familienausflug. Diesmal allerdings mit der neuen Familie: ihrem Bruder Bernhard und ihrer Schwägerin Zsofia. Deren ungarische Landsmännin Ildiko arbeitete in Steingaden, und weil Zsofia am 1. Mai Geburtstag hatte, wurde das Maibaumaufstellen in Urspring zum Anlass für eine kleine Fete genommen. Zsofia hatte wie immer ein Dirndl an, das all ihre Vorzüge nach oben presste. Wäre es ein bis zwei Größen größer gewesen, hätte es ihr etwas Luft gegönnt, aber Zsofia hatte im Service gearbeitet, und zwar in Dirndln, die maximal Kiemenatmung ermöglicht hatten. Auch Ildiko und deren bayerischer Mann waren in Tracht gekommen. Irmi hingegen hasste Dirndl, zumindest an sich selbst, und Bernhard trug Lederhosen nur bei hochoffiziellen Anlässen. In der heutigen Konstellation fühlte sich Irmi als fünftes Rad am Pärchenwagen, aber sie hatte die Einladung ihrer Schwägerin nicht ablehnen wollen, die seit Irmis Auszug vom Bauernhof ein schlechtes Gewissen hatte. Sie prostete Bernhard zu und ließ ihren Blick über die Löwenzahnwiese schweifen. Ganz schön unsportlich, befand sie, das Traditionsstangerl mit einem Kranwagen aufzustellen. Aber gerade sie als Polizistin wusste, dass Haftungsfragen immer gravierender wurden. Sie steuerten allmählich auf US-amerikanische Verhältnisse zu. Maibäume brauchten eine Haftpflichtversicherung, und ein Sachverständiger musste einmal jährlich den Zustand des Baums prüfen. Auch Maibäume waren Opfer von Bürokratie und Paragrafenflut geworden. Und weil das Aufstellen mit Schwalben und purer Muskelkraft weit mehr Gefahren in sich barg, griffen immer mehr Vereine zum Kran. Denn so mancher Vereinsvorsitzende, der sich zum Aufstellen verpflichtet hatte, wollte die Haftung nicht übernehmen. Inzwischen ging das so weit, dass bisweilen Bäume aus Alu und Stahl aufgestellt wurden, die dann für fünfzehn Jahre als sicher galten. Es ging dahin mit Bayern, dachte Irmi. Am Nebentisch saßen ein Ehepaar und ein einzelner Mann, der einen Schäferhund dabeihatte, ein hypernervöses Tier, das in einer Tonlage pfiff, die nicht zu einem ausgewachsenen Rüden passen wollte. »Ach, der Rasso hatte ein so schweres Leben«, erklärte der Besitzer seinen Tischnachbarn. »Ach was, der Arme«, flötete die Frau, die ihm gegenübersaß. »Wie alt ist er denn?« »Drei.« »Und wie lange haben Sie ihn schon?« »Drei Jahre.« Irmi fing Bernhards Blick auf. Sie grinste in sich hinein. »Ein Züchter, der nur auf Aggression züchtet«, fuhr der Schäferhundbesitzer fort. »Der Vater und die Mutter kommen beide aus einer solchen Linie, gell, Rasso?« »Warum hast du den dann kaaft? Gabat aa andere Züchter«, brummte Bernhard so laut, dass Irmi ihn hören konnte. Der Mann am Nachbartisch nicht. Ein Dackel kam vorbei, ein älterer Bursche, stoisch, geradlinig, ziemlich weit entfernt – und angeleint. Schäferhund Rasso war trotzdem kurz vor dem Bellkollaps. »Es sind immer die Kleinen, die provozieren«, behauptete sein Besitzer. Aus Bernhard entwich ein Japsen. Inzwischen hatten sie den Maibaum angehängt, und die Frau am Nachbartisch jubilierte. »Ach, nun haben sie den Bulldozer angeschlossen!«, rief sie. Irmis Amüsement nahm zu. Der Ausflug war doch gar keine so schlechte Idee für den 1. Mai gewesen. »Wir wohnen ja seit dreißig Jahren am Ammersee«, tirilierte die Frau. Ihr astreines Hochdeutsch deutete auf den Raum Hannover hin. »Aber da ist es ja immer so voll im Sommer. Deshalb fahren wir gerne mal aufs Land, hier ist die Bevölkerung so urwüchsig. Diese Kinder im Dirndl und der ledernen Hose, zum Wegfressen.« »Dreißig Johr in Bayern? Und da woaßt ned, was a Bulldozer is und wos a Bulldog? Lederne Hos, na merci!«, kam es von Bernhard. Schon etwas lauter, aber immer noch nur für Irmis Ohren bestimmt. Das Wegfressen schien auch der Schäferhund im Sinn zu haben, und Irmi machte sich ernsthaft Sorgen um zwei vorbeilaufenden Trachtenzwergerl. Die Tischnachbarn beobachteten derweil wie gebannt den Maibaum. »Jetzt steht der gleich!«, rief die Frau begeistert. »Des san grad amoi fünfundvierzig Grad.« Bernhard kochte langsam weiter hoch. »Ach, und der kleine Hosenmatz da, der ist schon barfuß. Dabei ist der Boden noch so kalt.« »Der Bua hot an Sinn fürs Brauchtum. Früher war das Barfußlaufen ab dem 1. Mai wieder erlaubt. In Monaten mit einem R drin war der Boden zu koid«, grummelte Bernhard. »Ich hab das auch schon einmal gesehen, dass der Baum mit solchen Stechstangen aufgestellt wurde«, meinte der Ehemann der Hochdeutschen, der sich nun wohl auch einbringen wollte. »Jetzt passts amoi auf. Des hoaßt Schwaiberl, weil die aussehn wie Schwalbenschwänze. Oder Goaßn – zwengs der Ähnlichkeit mit den Hörnern vom Goaßbock.« Inzwischen hatte sich Bernhard umgedreht und starrte die Tischnachbarn an. »Ach was! Und das geht? Der Baum hat doch sicher ein paar Hundert Kilogramm«, meinte die Hochdeutsche. »Eins Komma fünf Tonnen schwer. Des erste Drittel und des letzte, wenn der Baum scho mehr in der Senkrechten is, geht guat. Aber das mittlere Drittel, des hot’s in sich!« »Interessant«, sagte ihr Ehemann, doch es war ihm anzusehen, dass er nicht belehrt werden wollte. »Und so schön weiß und blau geringelt ist der Maibaum, wie ein niedliches Kindersöckchen!« »Des is kaa Sockn! Des is a Spirale von unten links nach oben rechts. Erst werd de weiße Farb auftrogn und dann des Blau. Fuchzig Kilo Farb leicht amoi.« Jetzt war Bernhard wirklich in Fahrt. Er hatte sicher schon zehnmal Maibäume aufgestellt. Und dabei sogar seine Lederhose getragen. »So, so, was Sie nicht sagen. Und wenn der Maibaum gar keine Farbe hat, dann war die Gemeinde zu arm, ja?«, kommentierte der Schäferhundbesitzer. Vermutlich sollte das ein Witz sein. Während Bernhard kurz nach Luft schnappte und Irmi schon das Allerschlimmste befürchtete, nahm ein schlanker Mann in Radloutfit neben ihrem Bruder Platz. »Weit gefehlt! Das Aufstellen eines Maibaums ist ein uralter Brauch mit ursprünglich keltischen Wurzeln. Im 16. Jahrhundert kamen die Ortsmaibäume auf, die geschlagen, entastet und dann entrindet wurden. Geschäpst, sagt man hierzulande.« Er zwinkerte Irmi zu. »Man ließ den Wipfelbusch stehen und befestigte im oberen Bereich des Baums einen gewundenen Kranz. Als Maibaum wurde damals die Birke verwendet, die als erster Baum aus der Winterstarre erwacht und sprießt. Mit diesem Brauch wollte man die Fruchtbarkeit im Bauernjahr heraufbeschwören. Der Stamm stand für das Männliche, der Kranz für das Weibliche. Die erste Abbildung eines Figurenmaibaums stammt vom Maler Hans Donauer aus dem Jahr 1585. Das Entrinden des Baums hatte übrigens einen abergläubischen Grund. Man fürchtete, dass sich der Teufel in Gestalt eines Käfers unter der Rinde verbergen und später ins Dorf eindringen könnte. Angesichts so mancher Dorfpolitik mag man anzweifeln, ob der Baum wirklich vollkommen entrindet wurde, nicht wahr, Bernhard?« Irmis Bruder nickte verdutzt. Die Besatzung des Nebentischs schwieg, und sogar Rasso war ruhig geblieben. Sie alle lauschten gebannt dem Vortrag des Hasen. Irmis Kollege von der Spurensicherung war besser als jedes Lexikon und einer, der ohne Probleme eine Radtour wie diese machte: vom Ammertal mal eben nach Urspring. »Diese geschäpsten holzfarbenen Stangerl findet man durchaus noch im Westen des Oberlands oder im Allgäu. Manche mögen es halt bescheidener«, fuhr der Hase lächelnd fort und wandte sich an den Nachbartisch. »Wo kommen Sie denn her?« »Vom Ammersee.« »Im schönen Fünfseenland, an des Ammersees Gestaden, wo einst die Wittelsbacher lustwandelten. Dann wissen Sie bestimmt, dass es ein Maibaumverbot gab, weil die Burschen immer im Staatsforst Bäume stahlen. Und es war unser hochverehrter Ludwig I., der 1827 den Erlass herausgab, dieses an sich unschädliche Vergnügen wieder zuzulassen.« Der Hase wandte seinen Blick von der Zuhörerschaft ab und entdeckte Zsofia, die von der Essensausgabe kam und ein paar Teller balancierte. »Moment, ich helfe!« Zsofia hatte Kicsi an der Leine, die kleine Chihuahuahündin. Und Rasso besann sich wieder auf seine Kernkompetenz: Angriff! Er ging ab wie ein Berserker. Bernhard sprang auf und stützte sich mit seinen durchaus beeindruckenden Oberarmen markig auf den Tisch der Nachbarn. »Wenn du di ned glei mit deiner geistesgstörten Töle schleichst, dann überfahr i di mit dem Bulldozer.« »Ja, am Dorf sind die Menschen halt so urtümlich«, sagte Irmi mit einem Achselzucken. Der Hundebesitzer war so verblüfft, dass er aufsprang und anschließend von dem rasenden Rasso über den Platz gezogen wurde. Das Ehepaar von den Gestaden war wohl aus Solidarität ebenfalls aufgesprungen. In den Augen der Frau lag echte Angst, so dicht...