Anmerkungen zu Napoleon
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-8412-2683-9
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Feldherr, Machtmensch und Reformer - ein Blick auf Napoleon 200 Jahre nach seinem Tod.
Mit seinem Tod wurde Napoleon endgültig zur Legende. Doch der Mythos gehörte schon immer zu ihm. Er selbst wirkte an seiner Entstehung mit, und dies nicht erst in der Zeit der Verbannung. Seit Julius Cäsar verstand kein Feldherr so gut, wie wichtig das eigene Bild in der Öffentlichkeit für das Erreichen politischer Ziele ist. Mit Gespür für die großen Linien wie die bezeichnenden Details erfasst Manfred Flügge in seinem Essay das Wesentliche dieses widersprüchlichen Lebens am Übergang zweier Epochen - und zeigt, wie in Napoleon Person und Mythos untrennbar miteinander verschmelzen.
'Ob man will oder nicht - man ist hingerissen und überwältigt von seinem Charakter und seiner Laufbahn.' Lord Byron
Manfred Flügge, geboren 1946, studierte Romanistik und Geschichte in Münster und Lille. Von 1976 bis 1988 war er Dozent an der Freien Universität Berlin. Heute lebt er als freier Autor und Übersetzer in Berlin. 2014 erhielt er den 'Literaturpreis Hommage à la France der Stiftung Brigitte Schubert-Oustry' und in Cognac den Prix Jean Monnet du Dialogue Européen. Im Aufbau Verlag sind seine Bücher 'Die vier Leben der Marta Feuchtwanger', 'Das Jahrhundert der Manns', 'Stadt ohne Seele. Wien 1938', 'Das flüchtige Paradies. Deutsche Schriftsteller im Exil an der Côte d'Azur' und 'Stéphane Hessel - ein glücklicher Rebell' lieferbar.
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Der Politiker
Napoleons Herkunft, seine Familie, Korsika, schließlich die Jahre in der Militärschule von Brienne erscheinen beinahe anekdotisch im Verhältnis zu dem, worauf es wirklich ankommt beziehungsweise ankam in der Situation, in der Napoleon handeln musste: dem Griff nach der Gestaltungsmacht. Dazu musste man groß genug von sich selber denken, und das tat Napoleon, insofern er sich selber als historische Gestalt ansah; bereits mit achtzehn Jahren verfasste er eine Betrachtung über die »Perioden meines Lebens«. Der Ausnahmecharakter seines eigenen Schicksals war ihm wohl bewusst. Bezeichnend war in dieser Hinsicht seine Lektüre. Er war ein großer Leser, als Feldherr führte Napoleon in seiner Reisekutsche stets eine große Zahl von Büchern mit sich, er machte in seinen Büchern Anmerkungen mit Bleistift und Tinte, merkte sich den Einband der Bücher genau, oft auch deren Platz im Regal. Gleich mehrfach las er Goethes Die Leiden des jungen Werthers, damals ein europäischer Bestseller. Vor allem aber las er von jung auf in pragmatischer Absicht Biografien bedeutender Feldherren, in erster Linie die der großen Marschälle von Ludwig XIV., überhaupt gern historische Abhandlungen, dabei stets nach Vorbildern suchend.
Zugleich versuchte er sich – noch bevor sich sein militärisches Genie entfaltete oder sich sein politischer Ehrgeiz regte – auf klassisch französische Weise auf literarischem Gebiet. Der Junge aus Korsika kannte die maßgeblichen Autoren seiner Epoche und nahm 1791 an einem Wettbewerb teil, den die Académie von Lyon ausgeschrieben hatte, ganz nach dem Vorbild von Jean-Jacques Rousseau, dessen erste Schriften auch aus akademischen Aufsatzwettbewerben hervorgegangen waren. Das vorgegebene Thema lautete: »Welche Wahrheiten und Gefühle soll man den Menschen vermitteln, damit sie glücklich werden können?« Der Text blieb erhalten, Talleyrand hat ihn dem späteren Kaiser gebracht, dem sein kleines Werk nun eher peinlich war, das ganz unter dem Einfluss von Rousseau und Abbé Raynal stand, seinen liebsten Autoren damals.
Im August 1793 entstand sein nächstes Werk, das schon von den frühen Jahren der Revolution geprägt und für seine Karriere von großem Nutzen war: Le Souper de Beaucaire (Das Abendessen in Beaucaire). Dieser politische Dialog berichtet von einem wahren Erlebnis des Autors. Der junge Offizier Bonaparte hatte einen Auftrag im Midi zu erfüllen und machte Halt in Beaucaire, einem Ort im Département Gard, direkt an der Rhône gelegen. Dort kam er ins Gespräch mit Geschäftsleuten aus Marseille, aus Nîmes und aus Montpellier. Er verteidigte die neuen Werte der Revolution, während seine Gesprächspartner skeptisch blieben und die Beschlüsse der neuen Regierung kritisierten. Mit seinem Feuereifer vermochte der junge Offizier die anderen zu überzeugen, schließlich tranken sie auf ihre neue Freundschaft und gingen versöhnt auseinander. Der Text gelangte in die Hände von Augustin Robespierre, dem jüngeren Bruder von Maximilien Robespierre, dem Wortführer der radikalsten Jakobiner in Paris. Augustin erkannte den propagandistischen Wert des Pamphlets und ließ es auf Staatskosten drucken und verbreiten. Die Beziehung zu den führenden Jakobinern verschaffte Bonaparte 1793 das Kommando für die Befreiung von Toulon, und so konnte aus dem Helden der Feder, der auch eine Liebesgeschichte verfasste, zuerst ein großer Feldherr und in der Folge auch ein Staatsmann werden.
Dass man einen bedeutenden politischen Akteur vor dem Hintergrund seiner Epoche sehen muss, ist einerseits eine Binsenweisheit, andererseits in Sonderfällen gar nicht so leicht zu gewärtigen. Das gilt gerade im Fall Napoleon. Die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse waren seit Beginn der Revolution so labil wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Die Monarchie, das Gottesgnadentum des Erbkönigtums, war seit 1789 in Frage gestellt und 1792 durch die Republik ersetzt worden, das regierende Königspaar war abgesetzt und schließlich hingerichtet worden. Die Macht lag bei der jeweils radikalsten Partei, die sich nacheinander der neuen Verfassungsorgane bemächtigte. Die Deutung der Situation wurde von den Interessen und Ambitionen einzelner Personen und Fraktionen bestimmt. Es herrschte Bürgerkrieg im Innern und Krieg mit den anderen Mächten in Europa. Symbol dessen war die in Permanenz gehisste rote Fahne, das Zeichen für den Ausnahmezustand in Paris.
Schon vor Ausbruch der Unruhen des Jahres 1789 war die politische Macht erschüttert worden. Das lag nicht zuletzt an einem schlecht gehüteten Bettgeheimnis.
König Ludwig XVI., streng religiös erzogen und ganz in der Hand seines Beichtvaters, konnte seine Ehe mit der österreichischen Erzherzogin Marie-Antoinette anfangs aus körperlichen Gründen nicht vollziehen. Lange schien es so, als würde er keinen Thronerben haben. Das wusste man bald an den andern Höfen Europas, die ihre Kundschafter in Versailles hatten. Überall regten sich Begehrlichkeiten, auch in einem Seitenzweig des Hauses Bourbon, bei den Orléans. Vor allem Philippe von Orléans rührte sich, mischte sich sogar unter die Aufrührer, die in den Wandelgängen des Palais Royal den Umsturz herbeiredeten. Als die Adelsprivilegien im August 1789 abgeschafft wurden, stimmte er zu, was ihm den Beinamen Philippe Égalité eintrug, ihn aber nicht vor der Guillotine bewahrte.
Bei Ludwig XVI. half schließlich ein chirurgischer Eingriff, zu dem ihn sein Beichtvater überreden musste, der ja nur gewollt hatte, dass dieser dickliche, träge Mann nicht so ein Lüstling werde wie sein Vater Ludwig XV., »der Vielgeliebte«, wie man ihn nannte, obwohl der Name »der wahllos Liebende« korrekter gewesen wäre: Er hatte im Park von Versailles junge Frauen wie Jagdwild aussetzen lassen und sich beim Geschlechtsverkehr mit ihnen allerlei Krankheiten zugezogen, die ihn schließlich das Leben kosteten. Als er beigesetzt wurde, stank sein einst üppig parfümierter Körper so stark durch die Sargwände, dass keine Sargträger zum Anfassen bereit waren außer seinen vier Töchtern, die es freiwillig taten.
Ludwig XVI. immerhin gelang es dank des Eingriffs doch noch, einen legitimen Thronfolger zu zeugen, wenngleich dieser in den wirren Jahren nach 1789 auch nur ein Opfer der Verhältnisse werden konnte.
»Die Revolution hat einen großen Haufen lockeren Sand hinterlassen«, erklärte Napoleon. »Darauf kann man aber nichts bauen, dazu muss man etwas Granit aufhäufen.« Aufbauen und gründen wollte er nun aber. Mit 1789 waren die Möglichkeit und die Notwendigkeit einer umfassenden Neugestaltung geschaffen, in Frankreich wie in Europa. Das war Napoleons Chance, und er verstand es, sie zu nutzen. Im Innern schuf er viele neue Institutionen, die immer noch bestehen, etwa die Banque de France (Bank von Frankreich) sowie den Cour des Comptes (Rechnungshof) und den Conseil d‘Etat (Staatsrat), der die Verfassungskonformität erlassener Gesetze überprüft. Die Schaffung dieser Kontrollorgane verbietet es, Napoleons Herrschaft als Militärdiktatur anzusehen. Seine Herrschaft ruhte nicht auf den Spitzen der Bajonette, sein Regime war durchaus im Volk verankert.
Im Regierungsalltag waren freilich schon früh die Züge eines persönlichen Regimes zu bemerken. Napoleon hielt keine allgemeine Kabinettssitzung ab, er besprach sich lieber mit einzelnen Ministern. Sein Arbeitskabinett durfte niemand betreten. Als Privatsekretäre dienten ihm nacheinander Louis-Antoine Bourrienne, Claude François de Méneval und Agathon Fain. Bourrienne hatte zusammen mit Napoleon die Militärakademie besucht und seinen Aufstieg begleitet, war aber 1802 durch Méneval ersetzt worden, als er sich zu sehr in den Vordergrund drängte und begann, Soireen zu geben. Méneval dagegen schien Napoleon bescheiden genug, ihm bis 1813 zuzuarbeiten; von 1806 an wurde er dabei unterstützt von Fain. Als Privatsekretäre lebten sie in einer Art klösterlicher Existenz, Tag und Nacht bereit, die Aufgaben ihres Herrn auszuführen. Zugleich waren sie die entscheidenden Schaltstellen in Napoleons Regierungsapparat; sie stellten die unzähligen Befehle Napoleons ihren jeweiligen Empfängern zu, steuerten zugleich den Zugang der Kabinettsmitglieder zu ihm und schirmten seine Kommunikation ab.
Zu Napoleons engen Mitarbeitern zählte auch Henri Clarke d’Hunebourg, ein Militär irischer Abstammung. Er hatte die Vorhut der Rheinarmee befehligt, war 1795 als verdächtig ...