Fleck | Etablierung in der Fremde | Buch | 978-3-593-50173-4 | sack.de

Buch, Deutsch, 475 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 588 g

Fleck

Etablierung in der Fremde

Vertriebene Wissenschaftler in den USA nach 1933

Buch, Deutsch, 475 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 588 g

ISBN: 978-3-593-50173-4
Verlag: Campus


Nach 1933 wurden zahllose Akademiker vertrieben, die gezwungen waren, im Exil beruflich wieder Fuß zu fassen. Berühmte wie Unbekannte waren dabei auf Hilfe von Einheimischen angewiesen. Neben Fallstudien deutschsprachiger Sozialwissenschaftler – Gustav Ichheiser, Paul F. Lazarsfeld, Joseph A. Schumpeter und Edgar Zilsel – analysiert Christian Fleck auch die Arbeit und Wirkung der in London und New York errichteten Flüchtlingshilfskomitees für Akademiker. Erstmals genutzte Archivbestände erlauben es, ein facettenreiches Bild dieser selbstlosen Hilfe für geflüchtete Wissenschaftler zu zeichnen.
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Inhalt

Einleitung 9

1 Gründungsgeschichte(n) 23

Folgenreiche Plaudereien in einem Wiener Kaffeehaus 26

Eine Parallelaktion beim Tee 31

Gentlemen's Generosität 36

In den Räumen der Royal Society 41

Ein anderer Blick auf die Erfolge des AAC 47

Porträt einer Gruppe 51

Die Hilfe der "institutional men" Amerikas 56

Ausbau der eigenen Institution 65

Philanthropen treffen "institutional men" im Century Club 74

2 Die Praxis des Emergency Committee 83

Das Komitee der sieben und seine Hilfskräfte 86

Meinungsverschiedenheiten mit Harvard 94

Die schrittweise Etablierung einer Routine 108

Versprechungen, die nicht gegeben werden konnten 120

Hilfe für einen prominenten Helfer 162

Internationale Kooperationen und Konflikte 164

Siamesische Zwillinge und andere enge Beziehungen 176

Warenhaus und Schaufenster 185

Wofür sollten die Juden schon wieder bezahlen? 190

Verdrängungswettbewerb oder nicht? 198

Leise Stimmen 205

Balanceakte 226

Resümee 244

3 Edgar Zilsel: Exzellente Qualifikationen eines ungeschickten Mannes 251

Anfänge in Wien 252

Erfahrungswissenschaftlicher Marxismus 254

Erste Schritte in Amerika 261

Ein nicht zustande gekommener Ortswechsel 267

Ein nicht zustande gekommener Kontakt 274

Das große Projekt 282

Zilsels Ende 289

Resümee 291

4 "Who is Ichheiser?" - ein an sich und der Welt Gescheiterter 295

Auf dem Weg zu einer Kritik des Erfolgs 300

Mühsame erste Schritte 306

Ichheisers amerikanische Veröffentlichungen 313

Keiner flog über das Kuckucksnest 318

Resümee 330

5 Paul F. Lazarsfelds amerikanische Anfänge 333

Der Anfang als Rockefeller Fellow 333

Ein Mentor und andere Amerikaner 341

Transatlantische Subventionen 348

Vom distinguished foreigner zum penniless immigrant 352

Nutznießer des New Deals 361

Der Aufstieg zum Direktor eines besser dotierten Forschungsprojekts 371

6 Schumpeter als Helfer 375

Nazi-Freund? 377

Hilfe für entlassene Kollegen 380

Persönlicher Rat 386

Resümee 399

7 Etablierung in der Fremde 401

Danksagung 426

Drucknachweise 427

Abkürzungen 428

Tabellen und Grafiken 429

Quellen- und Literaturverzeichnis 431

Personen- und Sachregister 459


Einleitung

Am 14. April 1933 berichtete die New York Times auf ihrer Titelseite unter dem Titel "Prussia dismisses Jewish Educators" darüber, dass die neue Regierung keine Zeit verliere, ein jüngst verkündetes Gesetz umzusetzen, wonach "Personen jüdischer Abstammung und Marxisten aus dem Beamtendienst zu entfernen seien"; "3 Marxist professors", heißt es im Untertitel, seien unter den ersten 16 Entlassenen. Der preußische Erziehungsminister Rust habe die Entlassung von Universitätsprofessoren angeordnet, von denen 13 jüdischer Abstammung seien. Der drahtlos übermittelte Exklusivbericht aus Berlin zählt dann fast alle Namen der Entlassenen auf:

"Dr. Kelsen of Cologne, Hermann Heller and Dr. Sinzheimer of Frankfurt-am-Main and Dr. Mark of Breslau; four economists, Emil Lederer and Moritz J. Bonn of Berlin, Dr. Loewe of Frankfurt-am-Main and Dr. Feiler of Koenigsberg; two professors of law, Dr. Kantorowicz of Kiel and Dr. Cohn of Breslau; two members of the Bonn medical faculty, Dr. Loewenstein and Dr. Alfred Kantorowicz, and two geologists, Dr. Gunther Nehm of Halle and Dr. Tillich of Frankfurt. The best known of them is probably Dr. Bonn, a disciple of Professor Hugo Brentano and a champion of economic liberalism. […] The educators outest today were known objectors to the new regime. All other professors will be requested to answer a questionnaire on their political beliefs."

Dieser Artikel ist mehrfach bemerkenswert. Journalistisch, nicht nur ob der in dieser Zeitung sonst seltenen Fehler und der eigenwilligen Nennung von Vornamen und Titeln (war für die beiden restlichen kein Platz mehr oder waren sie dem Berichterstatter aus Berlin nicht bekannt?), sondern auch, weil die im Untertitel genannten Marxisten rätselhafterweise im Text nicht mehr auftauchen - hat da jemand in der New Yorker Redaktion etwas gekürzt oder hinzugefügt? Historisch, weil der Artikel überhaupt und in dieser Detailliertheit, noch dazu auf der ersten Seite erschienen ist. Doch woher bezog der Autor überhaupt sein Wissen? Wurden die Entlassungen auf einer Pressekonferenz verkündet oder per Presseagentur mitgeteilt? Ja, es gab, wie man in William L. Shirers Buch nachlesen kann, Pressekonferenzen, doch ob diese Entlassungen bei einer solchen Gelegenheit kundgemacht wurden, ist unbekannt. Aus zeitlicher Distanz schließlich, weil die 14 angeführten Namen durchaus nicht zu den ersten gehören, die heute jemand nennen würde, der einige Namen der von den Nazis vertriebenen Wissenschaftler aufzuzählen aufgefordert würde; selbst in den Disziplinen, die in dem Bericht hervorgehoben werden, tauchten vermutlich andere Namen eher auf.

Über kaum eine Epoche meinen interessierte Nachgeborene besser Bescheid zu wissen als über jene der Nazi-Herrschaft. Das gilt mittlerweile auch für die Wissenschaften, die lange Zeit zu den zurückhaltend bearbeiteten Feldern zählten. Nahezu jede Universität des ehemaligen Herrschaftsbereichs der Nazis hat sich mittlerweile in Form von Veranstaltungen und Publikationen mit diesem Thema auseinandergesetzt und sich dabei auch jener erinnert, die an der Fortsetzung ihres Studiums oder an der Weiterführung ihrer Forscherlebens gehindert wurden. Preise, Institute, Gebäude tragen die Namen derer, die damals ausgegrenzt, benachteiligt und vertrieben oder ermordet wurden. Die Erinnerungskultur hat sie an den früheren Orten ihres Wirkens symbolisch wieder ins Recht gesetzt. So sehr das zutrifft, kann man - an den zitierten Zeitungsbericht anschließend - doch einige Aspekte benennen, die vergleichsweise weniger Beachtung gefunden haben: Was wurde aus jenen, die der Möglichkeit beraubt wurden, ihre bis dahin eingeschlagenen Lebenswege dort fortzusetzen, wo sie sie begonnen hatten? Wohin gingen diejenigen von ihnen, die den Schergen des Regimes entkamen? Wer und was half ihnen, in der unvertrauten Umgebung Fuß zu fassen? In Biografien, die eher über Berühmtheiten als gewöhnliche Wissenschaftler geschrieben wurden, und in einigen wenigen Darstellungen kleinerer Gruppen Gleichgesinnter können wir Antworten suchen; Nachschlagewerke, in denen die Lebensstationen weniger Prominenter verzeichnet sind, können wir konsultieren und das Internet offeriert uns heute in Form von Wikipedia und Ähnlichem eine schier unglaubliche Vielzahl an Einträgen über Personen, über die man noch vor wenigen Jahren kaum in der Lage war, auch nur biografische Eckdaten in Erfahrung zu bringen. Wie bei einem vielteiligen Puzzle ist es aber auch hier ein weiter Weg, bis das angestrebte Bild sich abzuzeichnen beginnt.

Um Fragen wie die eben formulierten geht es in diesem Buch, das sich dem Thema allerdings nicht in der ganzen Breite widmen wird, sondern eine zentrale Problemstellung untersuchen will, die als Etablierungsprozess in der Fremde bezeichnet wird. In den Jahren nach 1933 verließen mehrere Zehntausend Personen, die universitäre Bildungsabschlüsse besaßen oder zumindest ein Universitätsstudium begonnen hatten, den expandierenden Nazi-Herrschaftsbereich; wie viele es waren, wird sich genau nie feststellen lassen, weil diese Personengruppe sehr heterogen zusammengesetzt war, weil einige, die ihr beim Weggang aus Europa noch zuzurechnen waren, sich in der Fremde anderen Berufen zuwandten, und andere, die vor der Vertreibung noch nicht diesen Berufen nachgingen, hinzukamen. Fast alle gingen, weil sie gehen mussten, weil ihnen die Studienberechtigung entzogen worden war, sie entlassen worden waren oder ahnungsvoll das Weite suchten, solange das noch möglich war. Eine Minderheit der vertriebenen Bildungsbürger war zum Zeitpunkt ihrer Flucht, Emigration, Auswanderung oder des formellen Landesverweises ihren jeweiligen Fachkollegen im Ausland bekannt - ein Bericht der New York Times über die geplante Eröffnung einer "University in Exile" in New York, an der "fifteen Jewish and liberal professors recently ousted from German universities" beschäftigt werden sollten, erwähnte im Zusammenhang mit dem Hinweis auf eine eben begonnene "campaign to raise a capital fund through which the professors' salaries may be paid" dann noch ein Argument, das später nicht mehr Verwendung finden sollte:

"It is hoped that the presence here of several German professors of world-wide fame in their fields may attract students who otherwise might have been tempted to go to Germany for their education."

Die überwiegende Mehrzahl der Vertriebenen war jedoch im Ausland nicht bekannt. Der gemeinsame Nenner, der bei ihren Etablierungsbemühungen oftmals von Vorteil war, war die Sozialisation, die diese Bildungsbürger im "teutonischen" Wissenschaftssystem erfahren hatten.

Ende Mai 1933 rückte die Los Angeles Times einen Artikel ins Blatt, der "The Plight of the Scholar" übertitelt war und worin berichtet wurde, "Germany is still posting lists of academic proscriptions" und wo es dann weiter heißt:

"A few years ago the German scholar drew students from over the world. Germany was the center of the culture of the race. But now the German scholar is apparantly to become an exile. However this is not only true in Germany. The best Italian scholars are wanderers over the world, eking out a scant living as best they can. The distinguished scholars of Russia in the old regime are in exile, living in attics on book reviewing or private tutoring, or engaged in manuel work. In Austria and Czecho-Slovakia they are hemmed in by malignant dictatorships. America is the main carrier of science in the modern world."

Sieht man davon ab, dass die Behauptung, die Tschechoslowakei sei 1933 eine Diktatur gewesen, falsch ist, hebt dieser Kommentar (ein typischer amerikanischer Zeitungsbericht wäre nicht so meinungsstark formuliert worden) einen Aspekt hervor, der damals und später oft übergangen wurde, nämlich den Hinweis auf aus anderen Ländern geflüchtete Wissenschaftler, und gibt etwas als Tatsache aus, was sich erst in den folgenden Jahren herausstellen sollte - die führende Rolle des amerikanischen Wissenschaftssystems. Der Hinweis auf Wissenschaftler, die anderen Diktaturen entkommen waren, stand im Gegensatz zur Auffassung fast aller, die sich in den 1930er Jahren im westlichen Ausland um vertriebene Wissenschaftler kümmerten. Viele Jahre lang erfuhren nur Deutsche die Gunst der Unterstützung durch Hilfsorganisationen. Als nach dem Ende der spanischen Republik von dort exilierte Wissenschaftler bei dem in New York tätigen Hilfskomitee für "displaced scholars" vorstellig wurden, beharrten dessen Funktionäre auf der Zuständigkeit, die der Name ihres Komitees bis 1938 unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hatte: Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars. Und obwohl der Name der Organisation nach dem Anschluss Österreichs geändert wurde - und nun statt "German" "Foreign" stand, weigerte sich das Entscheidungen treffende Gremium des Emergency Committee, katholischen Spaniern mit Geldern amerikanischer Juden zur Hilfe zu kommen. Doch warum hieß dieses Committee dann nicht von Anfang an "in Aid of Displaced Jewish Scholars"?

Auch der selbstbewusste Schlusssatz des Kommentars der Los Angeles Times war um jene Spur zu optimistisch, die man gerne für ein Charakteristikum des amerikanischen Selbstbildes hält. 1933 waren die USA alles Andere als der "main carrier of science". Die amerikanischen Universitäten waren von der Weltwirtschaftskrise, die dort Great Depression genannt wurde und wird, derart massiv betroffen, dass es zu Entlassungen, Lohnkürzungen und Aufnahmestopps in fast allen öffentlichen und privaten Universitäten kam; nur ein Drittel der Universitäten blieb von Entlassungen verschont. Selbst wohldotierte Forschungsinstitute mussten kürzertreten, wie beispielsweise jenes für biomedizinische Forschung, das dank einer Stiftung der Familie Rockefeller in New York seit Beginn des 20. Jahrhunderts tätig war und das in der Tat zu einem "main carrier" in seinem Feld geworden war. Einheimische arbeitslose Akademiker sonder Zahl machten eine freundliche Aufnahme von im Ausland Entlassenen unwahrscheinlich. Dass die USA, von wenigen Ausnahmen abgesehen, damals noch nicht die neue wissenschaftliche Weltmacht waren, illustriert auch die Verteilung der Nobelpreise für Physik, Chemie, Medizin und Physiologie. Bis 1940 gingen von diesen Preisen nur zwölf an Amerikaner, halb so viele wie an Deutsche und nur doppelt so viele wie an Österreicher; 13 Franzosen, 21 Briten und 29 andere Europäer vervollständigen das Bild der damaligen Verteilung wissenschaftlichen Prestiges auf Staaten. Der Kommentator der Los Angeles Times hätte allerdings recht behalten, wenn er seinen Abschlusssatz im Futur formuliert hätte. Die USA wurden, während sich das Nazi-Reich in Europa immer weitere Gebiete unterwarf, zum Zufluchtsort vieler vertriebener Wissenschaftler und zum neuen Zentrum der wissenschaftlichen Welt. Ob zum Aufstieg dieses amerikanischen Imperiums der Zustrom der europäischen Wissenschaftler kausal beitrug, wird immer noch debattiert und wird sich wohl endgültig nie klären lassen. Außer Zweifel steht jedoch, dass die transatlantische intellektuelle Migration einen Beitrag leistete.

Die Tatsache, dass wegen der Verfolgung politischer Gegner und weil Juden in Deutschland nicht mehr als Beamte beschäftigt sein durften, bekannte und prominente Wissenschaftler genötigt waren, sich im Ausland nach einer Fortsetzung ihrer Karriere umzusehen, hatte paradoxe Folgen: Ausländische Kollegen reagierten entrüstet auf die Entlassungen und man darf vermuten, dass sie weniger empört gewesen wären, wenn die Nazis die antijüdischen Beschränkungen nur gegenüber der nächsten Generation in Kraft gesetzt, die jüdischen Professoren aber im Dienst belassen hätten, wie anfangs die Weltkriegsteilnehmer unter ihnen. Weil die Elite der deutschen Wissenschaft drangsaliert wurde, reagierten ihre Kollegen im Ausland mit aktivem Widerspruch. Sie boten ihre guten Dienste an, die in der Folge dann auch jenen zugutekamen, die noch gar nicht zum Kreis jener zählten, die im Ausland bekannt waren oder Bekannte hatten. Ein Numerus clausus gegen jüdische Studenten in Deutschland allein hätte vielleicht auch zu einem Bericht in einer der großen Tageszeitungen in Paris, London, New York oder Los Angeles geführt, aber wohl kaum dazu, dass vielbeschäftigte Universitätsprofessoren ihre Labors und Schreibstuben verlassen hätten, um Komitees zu gründen und an deren Sitzungen teilzunehmen.

Die rasche Reaktion nichtdeutscher Wissenschaftler und mit der Administration von Wissenschaft Befasster auf die ersten Zeitungsberichte über Entlassungen ihrer Kollegen in Deutschland wurde stimuliert und verstärkt durch Augenzeugenberichte der ersten aus Berlin und anderen Universitätsstädten geflohenen Kollegen. Die Hilfsanstrengungen wurden bislang fast nur in autobiografischen Texten und Rechenschaftsberichten der unmittelbar Beteiligten geschildert und daher auch nur unzureichend analysiert. Das erste Kapitel unternimmt es, diese Gründungsgeschichten vergleichend darzustellen. Dabei geht es neben der Schilderung der facettenreichen Geschichte auch um die analytische Perspektive, diese Aktivitäten in den soziokulturellen Rahmen zu stellen, in dem sie stattfanden. Wiener jüdische Professoren, Privatgelehrte und Mäzene trafen sich mit britischen Gentlemen-Gelehrten und wurden von in Ungarn oder Russland Geborenen, die ihre Zelte in Deutschland fluchtartig abgebrochen hatten, darin bestärkt, dass "etwas getan" werden müsse. Dass das alles in Wiener Kaffeehäusern und beim Tee in einem Innenstadtpalais geschah, passt zu den wohl etablierten Stereotypen über Österreich. Sie werden durch das, was dann weit ab vom deutschen Kulturraum getan wurde, allerdings in den Schatten gedrängt. In den Räumen der Royal Society und in dem von amerikanischen Philanthropen finanzierten Büro des Emergency Committee versammelten sich in den folgenden gut zehn Jahren Bittsteller, hilfsbereite Sekretärinnen und Personalakten.

Sowohl die in London gegründete Society for the Protection of Science and Learning, die unter einem anderen Namen (Academic Assistance Council) gegründet wurde und unter wiederum anderem Namen (CARA: Council for Assisting Refugee Academics) heute immer noch tätig ist, als auch das New Yorker Emergency Committee, das 1944 seine Arbeit für beendet erklärte, führten über ihre Tätigkeit geradezu penibel Buch und übergaben ihre Aktenbestände später zwei der berühmtesten Bibliotheken der Welt: In der Bodleian Library in Oxford liegen die Akten der britischen und in der New York Public Library jene der amerikanischen Flüchtlingshilfsorganisation. Beide Archive wurden von Biografen, Historikern und Wissenschaftsforschern genutzt, doch bislang hat noch niemand die Tätigkeit eines derartigen Hilfskomitees selbst zum Gegenstand der Untersuchung gemacht. Im zweiten Kapitel wird das für das amerikanische Komitee versucht, um herauszufinden, wie das rasch etablierte kleine Büro und seine wenigen, meist über lange Zeit tätigen Mitarbeiter die selbst gestellte Aufgabe bewältigten. Den Helfern war es von Beginn an darum zu tun, nur den Besten unter den vertriebenen Wissenschaftlern beim Neuanfang unter die Arme zu greifen, wozu sowohl ein wissenschaftlicher Elitismus als auch die Rücksichtnahme auf die arbeitslosen Jungakademiker im eigenen Land beitrugen. Allerdings hatten diese Helfer nur beschränkte Mittel zur Verfügung und waren nie in der Lage, jemandem einen Arbeitsplatz zu geben. Was sie taten und tun wollten, war als Makler aufzutreten und amerikanischen Colleges, Universitäten und Forschungsstätten, die gewillt waren, jemandem vorübergehend Asyl zu gewähren, die passenden Kandidaten zu vermitteln und einen Lohnzuschuss zu zahlen. Makler haben aber nun, gleichgültig ob sie Ehewillige oder gewöhnliche Arbeitssuchende betreuen, stets das Problem, zwei zueinander passende zu finden und zueinander zu bringen. So wenig das bei der Eheanbahnung immer klappt, so wenig funktionierte es bei vertriebenen Wissenschaftlern.

Im Zentrum der Analyse steht die Frage, die im Titel des Buches angesprochen wird: Wie etablierten sich Vertriebene in der Fremde? Das erst- oder nochmalige Fußfassen ist kein singulärer Vorgang, sondern ein Prozess, der manches Mal rasch erfolgte, oft jedoch zeitraubend war. Und es ist ein Prozess, der auf mehreren Ebenen stattfand, nicht auf allen synchron ablief und nicht auf jeder Ebene von Erfolg gekrönt war. Einen Etablierungsprozess auch nur im Fall eines Einzelnen bilanzieren zu wollen, heißt eine Summe aus mehreren Elementen zu bilden, deren Vorzeichen nicht immer gleich sind und zwischen denen eine Gewichtung vorzunehmen nahezu unerlässlich ist. So kann jemand durchaus in vertretbarer Zeit eine ausreichend gut bezahlte Stelle bekommen haben und dennoch mit seinem neuen Dasein unglücklich geblieben sein. Manches empfundene Unglück wurzelt in Einflussfaktoren, die auch anders hätten gestaltet werden können, andere entzogen sich der bewussten Modifikation. Was die Helfer im günstigsten Fall bieten konnten, war die Fortsetzung der eigenen Arbeit unter neuen Bedingungen, doch günstige Bedingungen waren rar.

Die Karrieren vertriebener Wissenschaftler unter dem Gesichtspunkt von Etablierungsprozessen zu betrachten, hebt zuerst einmal hervor, dass es um Interaktionen zwischen den Neuankömmlingen und denen ging, die vor Ort waren. Die dortigen Etablierten reagierten nicht alle gleich und nur wenige immer selbstlos. Unverhohlen zum Ausdruck gebrachter Antisemitismus war in diesen Jahren noch nicht verpönt, sondern begegnete wohl fast jedem der von den Nazis Vertriebenen, die sich ironischerweise oftmals erst durch Hitler zu Juden gemacht sahen. Verbündete und Fürsprecher zu finden war ebenso notwendig, wie für die eigenen Ideen Gesprächspartner und für die eigenen Texte Veröffentlichungsmöglichkeiten zu finden. Die von den Etablierten über Generationen hinweg eingeübten Gewohnheiten, die sich zu Institutionen, Normen und Regeln verfestigt hatten, denen sie selbst auch unterworfen waren, traten den Außenseitern noch weitaus fremder gegenüber. Jemand musste schon ein gerüttelt Maß an Selbstvertrauen besitzen und eine Menge Glück haben, um seinen Weg zu machen. Ein Übermaß an Selbstvertrauen konnte ihm dabei ebenso in die Quere kommen wie eine mangelhaft ausgebildete Bereitschaft, die Spielregeln zu beachten. Schließlich ging es aber immer darum, einen Platz zu finden, an dem man einen Lohn erhielt und einer Arbeit nachgehen konnte, bei der man seine bisherigen Kompetenzen pflegen und neue wissenschaftliche Leistungen erbringen konnte. Die meisten vertriebenen Bildungsbürger, die sich in die USA retten konnten, landeten im Hafen New Yorks und fast alle versuchten, in dieser Stadt zu reüssieren. Die Dichte des personalen und institutionellen Netzwerks New Yorks erwies sich zugleich als Vor- und Nachteil. Man erfuhr mehr, traf eine größere Zahl möglicher Kollaborateure, doch traten sich die Stellensuchenden auch gegenseitig auf die Zehen. Die amerikanischen Quäker starteten deswegen ein Re-location-Programm und warben unter Flüchtlingen dafür, doch in andere Gliedstaaten zu wechseln. Wissenschaftler, die beispielsweise in ein "black college" im Süden wechselten, mussten sich dann aber nicht nur in einer noch weit weniger vertrauten Welt zurechtfinden, sie büßten auch soziale Kontakte ein, die sie von dort wieder wegbringen hätten können.

Den zweiten Teil des Buches bilden Fallgeschichten, die es erlauben, mit größerer Detailliertheit auf die Etablierungsbemühungen vertriebener Wissenschaftler einzugehen. Bei der Auswahl der Fälle ging es mir vor allem darum, den Biografien bekannter Personen noch etwas Neues hinzuzufügen und wenig oder gar unbekannte Personen gleichsam vorzustellen. Wie bei jeder Auswahl von Einzelfällen ist die Begründung immer ein wenig subjektiv und willkürlich. Im vorliegenden Fall war zuerst entscheidend, ob eine ausreichende Materialbasis gegeben war. Dann sollte eher dem Prinzip der Extremgruppenvergleiche gefolgt werden. Schon aus Gründen des Umfangs, aber auch aus dem systematischen Grund, berufliche Etablierungsprozesse nachvollziehbar zu machen, beschränken sich die Porträts weitgehend auf die öffentliche Rolle des Wissenschaftlers und lassen nahezu alle privaten Aspekte beiseite.

Der Wiener Gymnasial- und Volkshochschullehrer Edgar Zilsel wurde Jahrzehnte nach seinem Ableben als einer der Begründer der wissenschaftssoziologisch inspirierten Wissenschaftsgeschichte wieder entdeckt und dank der Studien, die ihm damals gewidmet wurden, wissen die Interessierten über die wichtigen Stationen seines Lebens Bescheid. Hier geht es mir vor allem darum, Zilsels wissenschaftssoziologische Schriften mit jenen des unumstrittenen Begründers der Wissenschaftssoziologie in den USA, Robert K. Merton, zu kontrastieren und der Frage nachzugehen, warum sich diese beiden Autoren nicht getroffen haben. Durch Heranziehung bislang nicht berücksichtigter Archivmaterialien und einer Rekonstruktion des kurzen amerikanischen Lebensabschnitts Zilsels wird sein gescheiterter Versuch, eine monografische Darstellung der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft zustandezubringen, auf mehr als nur eine Ursache zurückgeführt.

Der in Krakau geborene, mehrere Jahre in Wien tätige Psychologe Gustav Ichheiser gelangte mit viel Glück im mittleren Lebensalter in die USA. In Europa hatte er es nie zu einer universitären Stelle gebracht und daher wäre er eigentlich von der Hilfe der akademischen Flüchtlingskomitees ausgeschlossen gewesen. Da die Mitarbeiter der Londoner SPSL in dieser Frage weniger pingelig waren, halfen sie ihm mit einem mit der Wahrheit großzügig verfahrenden Einladungsschreiben, knapp vor Kriegsbeginn aus Warschau abreisen zu können. Wie viele andere Gestrandete unterstützten die Londoner Helfer auch Ichheiser bei seinem Bestreben, in die USA weiterzureisen, und kamen für seine Schiffspassage auf. Nach einem kurzen Zwischenstopp in New York wechselte Ichheiser nach Chicago, wo er unter den dortigen Soziologen Interessenten an seiner Art von Sozialpsychologie fand, die ihm Veröffentlichungsmöglichkeiten vermittelten und bei der Arbeitssuche behilflich waren. Keine dieser Stellen füllte ihn aus, jede verlor er nach kurzer Zeit; auch einen längeren Aufenthalt an einer kleinen Universität im amerikanischen Süden, wo Ichheiser es erst- und einmalig zu einer Stelle als Professor brachte, beendete er aprupt. Schließlich landete Ichheiser in der Psychiatrie, der er nach mehr als zehn Jahren auf eine Weise wieder entkam, die man in einem Roman für schlecht ausgedacht halten würde. Die Einzelheiten sollen hier nicht vorweggenommen werden. Sein Fall zeigt, dass die Etablierung an äußeren Widrigkeiten ebenso scheitern konnte, wie an einer eigenwilligen Persönlichkeit, die mit jeder erlebten Zurückweisung nur noch schwieriger wurde. Einer seiner Chicagoer Mentoren, Hans Morgenthau, der selbst mehrere Jahre lang vom Emergency Committee unterstützt worden war, schrieb nach Ichheisers Tod an einen Kollegen, der sich ebenfalls intensiv um ihn bemüht hatte, "the trouble with I[chheiser] was that he lived his social theories". Nicht alle sozialwissenschaftliche Theorien eignen sich, ihrem Urheber bei deren Anwendung von Vorteil zu sein.

Paul F. Lazarsfeld, der nur fünf Jahre jünger als Ichheiser war, zählt zu den einfluss- und erfolgreichsten Soziologen der Mitte des 20. Jahrhunderts. Viele halten den in Wien Geborenen gar für den Prototyp des amerikanischen Wissenschaftsunternehmers. Seine ersten Schritte dahin werden im fünften Kapitel geschildert, in dem deutlich wird, dass selbst der Erfolgreichste das nur werden kann, wenn er günstige Gelegenheiten vorfindet, diese für sich zu nutzen in der Lage ist und von Etablierten dabei Unterstützung erfährt. Hätte sich Lazarsfeld nach Ende seines Rockefeller Fellowship 1935 nicht über Visa-Bestimmungen der US-Regierung hinweggesetzt, hätte sich wohl bewahrheitet, was er in einem am Todesbett gegebenen Interview sagte: "I would now be dead in a gas chamber of course if I could have become a dozent at the University of Vienna." Zum rechten Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein war von entscheidender Bedeutung. Lazarsfeld war das gelungen, weil er nach zwei Jahren als in New York Gehätschelter und in Wien Bewunderter seiner sozialen Umgebung nicht einzugestehen gewillt war, dass seine berufliche Zukunft alles andere als rosig war. Ein paar Jahre später hätte ihm selbst die von ihm demonstrierte Risikobereitschaft vermutlich nicht mehr zum Erfolg, ja nicht einmal zum Überleben verholfen.

Etablierungsprozesse von vertriebenen Wissenschaftlern konnten nur dann erfolgreich verlaufen, wenn die Hilfesuchenden soziale Unterstützung fanden. Neben der materiellen Hilfe durch Komitees hatten Ratschläge und Empfehlungen durch Etablierte eine entscheidende Bedeutung. Diese individuellen Unterstützungen sind weitaus schwieriger zu analysieren, weil die dafür nötigen Dokumente - Briefwechsel, Empfehlungsschreiben und Ähnliches -, falls überhaupt noch vorhanden, weit verstreut sind; über in Gesprächen gewährte Hilfen wissen wir bestenfalls aus autobiografischen Berichten der Beteiligten. Im sechsten Kapitel wird versucht, an einem ohnehin nur rudimentär dokumentierten Fall, jenem des 1931 regulär an die Harvard University berufenen Nationalökonomen Joseph A. Schumpeter, aufzuzeigen, worin solche persönliche Anteilnahme am Schicksal Vertriebener bestand. Schumpeter, den manche Autoren den Vertriebenen zuzählen, gehörte selbst nicht dazu und sah sich auch nicht als jemand, der in weiser Voraussicht seiner Entlassung in Bonn zuvorgekommen wäre. Seine Neigung zu raschen und pointierten Urteilen über die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit, gepaart mit seinem Drang, Dinge zuzuspitzen und nicht davor zurückzuschrecken, das herauszufordern, was im gehobenen amerikanischen Englisch conventional wisdom genannt wird - eine Formulierung, die auf den auch in Harvard lehrenden Ökonomen John Kenneth Galbraith zurückgeht -, hat Schumpeter mache schlechte Nachrede eingebrockt. Eine angebliche Affinität zu den Nazis, mindestens ein anfängliches Verständnis für deren Politik geistert durch die Schumpeter-Literatur. Dass das nicht nur unzutreffend ist, sondern die Person Schumpeters grob verzeichnet, zeigt die detaillierte Auseinandersetzung mit der Korrespondenz, die in seinem Nachlass erhalten geblieben ist.


Christian Fleck lehrt Soziologie an der Universität Graz. Er war Fellow an der Harvard University (USA) und am Center for Scholars and Writers der New York Public Library sowie Gründungsdirektor des Archivs für die Geschichte der Soziologie in Österreich (AGSÖ), Präsident des Research Committee Geschichte der Soziologie der International Sociological Association (ISA) und von 2005 bis 2009 Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie (ÖGS).


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