Eine Naturgeschichte der Dunkelheit
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-641-17327-2
Verlag: Siedler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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VORWORT
Die Teilung des Schöpfers »Du Dunkelheit, aus der ich stamme«: Mit dieser ansprechenden und anmutigen Zeile beginnt das gleichnamige Gedicht, das Rainer Maria Rilke 1899 in Berlin geschrieben hat. Es endet mit dem Bekenntnis: »Ich glaube an Nächte.« Eine gute Entscheidung, denn die Gegenzeit des Tages bringt dem Menschen in schöner Regelmäßigkeit die Erfahrung der Dunkelheit, aus der nicht nur alles stammt und die deshalb alles enthält, wie im Laufe dieses Buches zu erfahren ist, sondern die auch alles an sich hält, wie es zu Beginn der zweiten Strophe bei Rilke heißt. Diese Erfahrung lässt sich problemlos mit der eigenen Wahrnehmung nachvollziehen. Schließlich zeigt sich den Menschen jedes Licht, ob von Sternen oder Lampen, nur mit und vor dem Schwarz eines Hintergrunds, und jede Einsicht benötigt die Dunkelheit eines Anfangs, um aus ihr zu entspringen, so wie ein Laut erst durch die Stille der Welt hörbar wird. Wo anders als in meiner inneren Nacht stecken denn die Gedanken, bevor sie sich melden, und wo sonst lassen sich die Worte finden, mit denen man sie ausdrückt und weitergibt? Und was für das innere und äußere Licht gilt, trifft für das Leben und die menschliche Existenz insgesamt zu. Dunkelheit umfasst jedes einzelne personale Dasein unabweisbar und unerbittlich; so hält es auch Vladimir Nabokov in seinem autobiografischen Werk Erinnerung, sprich fest, wenn er gleich zu Beginn an die wunderlich weitreichende Einsicht des gesunden Menschenverstands, des Common Sense, erinnert, der von sich aus und ohne besondere Belehrung von anderen weiß, dass das Leben eines Menschen »nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist«. Menschen kommen aus der Nacht und kehren in sie zurück, und sie kommen mit diesem Wissen zurecht, seit sie es haben. Nabokov hat in seiner Zeit auf Erden »ein um das andere Mal … in Gedanken enorme Anstrengungen unternommen, um auch nur den schwächsten persönlichen Lichtschimmer in der unpersönlichen Dunkelheit auf beiden Seiten meines Lebens wahrzunehmen«, wie er seine Leser wissen lässt – ohne ihnen zu verschweigen, dass dieses verlangende Suchen letztlich zu keinem Ergebnis führte. Nabokovs Bemühen und Rilkes Zuneigung lassen erkennen, dass es sich trotzdem lohnt und sogar ratsam scheint, nicht nur das Licht, sondern auch die Dunkelheit zu lieben, und sei es nur aus dem Grund, dass sich den Menschen auf dem Planeten Erde beide Varianten bieten. Sowohl am Tage als auch in der Nacht müssen und können sie sich bewähren, auch wenn dabei manchmal ein Paar aus Dr. Jekyll und Mr. Hyde sichtbar wird. Robert Louis Stevenson (1850–1894), der in jungen Jahren verstorbene schottische Schriftsteller aus dem viktorianischen Zeitalter, erzählt in seinem 1886 zum ersten Mal veröffentlichten Roman von einem Menschen, der ein Doppelleben führt. Die Geschichte beruht auf einem Vorbild aus der großstädtischen Wirklichkeit, in der ein Tischler tagsüber als vorbildlicher Bürger seiner Arbeit nachgeht und sich nachts in einen Kriminellen verwandelt. Zwei Seelen scheinen in der Brust des Menschen zu wohnen, wobei die eine seine böse und die andere seine gute Seite herausbringt. Im Roman kann eine Art Zaubertrank zwar das Böse der Seele vom Guten trennen, aber Tag- und Nachtseite einer Person gehören beide zum Leben. Darin spiegelt sich gleichsam das kosmische Geschehen, dem die Erde bei der Drehung um ihre eigene Achse ausgesetzt ist: Mit einer Hälfte ist sie dem Licht der Sonne ausgesetzt, während die andere auf den Morgen wartet. Die anfängliche Finsternis Die existierende Welt und sämtliche auf und in ihr lebenden Menschen stammen aus einer urtümlichen Dunkelheit (und kehren wahrscheinlich geschlossen in einem eleganten Kreislauf in sie zurück), denn als Gott, dem Schöpfungsbericht der Bibel zufolge, sein großes Werk begann, da lag zunächst »die Finsternis auf der Urflut«. Die Erde war nicht nur wüst und leer, wie es im ersten Buch Mose, der Genesis, heißt. Sie lag vor allem im tiefen Dunkel – wobei die jüngsten Einsichten der Astronomen und Physiker besagen, dass sie darin im Wesentlichen noch immer eingebettet liegt. Bevor aber die dräuende Dunkelmaterie und die drohende Dunkelenergie an geeigneter Stelle vorgestellt werden (und mehr für Unterhaltung als für Abschreckung sorgen), geht es zunächst nicht um den derzeitigen Zustand, sondern um die einstige Erschaffung der Welt, wie sie in europäischen Kreisen vornehmlich der Heiligen Schrift zu entnehmen ist. Ihr zufolge sprach der Herr dazu die berühmten drei Worte: »Es werde Licht.« Und tatsächlich: »Es ward Licht«, wie geschrieben steht, aber die Helligkeit zeigte sich trotzdem nicht überall und durchgehend. Die Finsternis ist durch den göttlichen Eingriff keineswegs gewichen. Sie ist vielmehr geblieben und sogar eher gefestigt und zuverlässig in das Leben eingegliedert, sozusagen maßgeschneidert. Gott hat der finsteren Dunkelheit vom Anfang bei ihrem zwar wiederkehrenden, zeitlich aber stets begrenzten Auftreten einen neuen Namen gegeben, und zwar den der Nacht. Und in dieser nächtlichen Form hat er das Dunkel fest mit der kosmischen Heimat von Menschen und deren Existenz verknüpft. Man muss sich immer wieder klarmachen, dass es kein Leben ohne diese periodisch wiederkehrende und damit verlässliche Variante der Dunkelheit und ihr Wechselspiel mit der Helligkeit von Licht gibt. Das organische Wachsen und Treiben auf dem Planeten Erde spielt sich seit ewigen Zeiten im steten Wechsel von Tag und Nacht ab, und Menschen und andere Hervorbringungen der biologischen Evolution haben es offenbar gut verstanden, mit beiden Bedingungen zurechtzukommen und sich darin angemessen einzurichten. Sie alle müssen immer wieder durch die Nacht, um danach den neuen Tag zu erleben, der sie jedoch abermals nur in die nächste Nacht führt. Was Gott in seinem großen primären schöpferischen Akt wirklich für das menschliche Dasein geschaffen hat, besteht nicht nur aus dem Licht, sondern vor allem aus dem Wechselspiel von Helligkeit und Dunkelheit, und damit aus einer grundlegenden Zweiteilung der Welt. Und spätestens hier fällt auf, dass diese Dopplung oder Dualität unvermeidlich und unbedingt bereits in der Existenz Gottes selbst enthalten ist. Er erhebt sich über die Menschen, grenzt sich von ihnen ab und wird von ihnen mit dem Licht gleichgesetzt, das er entzündet hat, um ihnen die Finsternis zu nehmen und die Nacht zu schenken. Ohne seine Hilfe mussten sie lange in der Dunkelheit verharren, die anfangs die Welt beherrschte und die Wasser bedeckte. Im Laufe der Zeit haben die Gotteskinder jedoch gelernt, etwas zum Leuchten zu bringen, das sie selbst hervorgebracht haben. Gemeint ist das, was oftmals das Licht der Vernunft genannt wird und als Kultur der Aufklärung seine eigene Geschichte hat. Auf sie werden wir später noch eingehen, da infolge dieses einsichtsvollen Lichts eine Gegenbewegung auftaucht, die dem Erleben der Nacht eine neue und eigenständige Bedeutung ermöglicht, und zwar in der Form, die Menschen als romantisch kennen und schätzen (auch wenn es ihnen manchmal dabei gruselt). Das doppelte Dasein Der Hinweis auf das aufscheinende Licht der Vernunft zeigt vor allem, dass neben der physikalischen Helligkeit und dem biologischen Leben auch das philosophische Denken einer urtümlichen Dunkelheit entstammt – was ein weiteres Argument dafür liefert, sich so liebevoll auf diesen Lebenszustand mit Namen Nacht einzulassen, wie es in diesem Buch geschehen soll. Die Aufmerksamkeit gehört aber zunächst der durchgängigen Zweiteilung, die durch den göttlichen Satz »Es werde Licht!« zustande gekommen ist – wobei man behaupten könnte, dass die biblische Schöpfung eine Teilung ist. Die Finsternis gab es ohne ein göttliches Eingreifen, die ursprüngliche Handlung des Herrn erfasst aber erneut eine Teilung: »Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde«, also ein Paar, und er benutzte den hohen Himmel, um mit seiner Hilfe erneut eine Zweiteilung zu installieren, denn »Gott machte die zwei großen Lichter: das größere Licht, dass es den Tag beherrsche, und das kleinere Licht, dass es die Nacht beherrsche, dazu auch die Sterne.« »Und Gott sah, dass es gut war«, wie die Genesis zu berichten weiß, was heißt, dass es den Menschen gefällt, für ihren meist emsigen Tag die Sonne und für ihre eher besonnene Nacht den Mond und die Sterne zu haben. Die Kinder drücken heute noch ihren Dank für dieses funkelnde und strahlende Trio aus, wenn sie zur Nacht mit ihren Laternen umherziehen und singen »Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne« und dabei hoffen, dass ihre flackernden Lämpchen nicht ausgehen und ihnen den Weg durch die dunklen Straßen weisen. Und es gibt noch eine Zweiteilung, die allen vertraut ist. Gott und die Menschen können nämlich Licht machen, so viel sie wollen, mit ihm kommt immer auch ein Schatten in die Welt. Schatten haben etwas Verwirrendes an sich, da sie nichts zu sein scheinen, jedenfalls nichts Greifbares. Sie gehören nicht zur realen Welt, wenn man daran denkt, dass »Realität« sich vom lateinischen Wort res ableitet, das für eine greifbare Sache steht. Schatten gehören nicht dazu. Sie sind dafür einem bestimmten Gegenstand zugeordnet und deuten mit ihrer Anwesenheit die Abwesenheit von Licht an. Dieser einen Seite der Schatten tritt eine andere bei, die in dem berühmten Höhlengleichnis von Platon zur Sprache kommt: Nur Schatten machen den angeketteten Menschen etwas von der Welt zugänglich. Als Gefangene sehen Menschen – in Platons Erzählung – nur Schatten an einer Wand; sie können jedoch nicht erkennen, woher das Licht...