Ferris | Mein fremdes Leben | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Ferris Mein fremdes Leben

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-13983-4
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-641-13983-4
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Leben außer Kontrolle.
Paul O'Rourke ist Zahnarzt mit einer gutgehenden Praxis an der Park Avenue in Manhattan. Er liebt das Leben, auch wenn er vielleicht nicht besonders viel damit anzufangen weiß. Doch dann tritt plötzlich ein Fremder im Internet unter O'Rourkes Namen und Beruf auf und bedroht fundamental dessen Identität - nicht nur in den virtuellen Tiefen des Internets, sondern auch im ganz realen Leben.

Paul O'Rourke ist ein Mann voller Widersprüche: Er verachtet die Welt der sozialen Medien, ist aber abhängig von seinem iPhone, er ist ein Zahnarzt, der heimlich raucht, ein glühender Fan des Baseballteams der Red Sox, der es nicht ertragen kann, wenn sie gewinnen, und er ist ein Atheist, der Gott nicht ganz aufgeben will. Kurz, der Zahnarzt mit gutgehender Praxis an der Park Avenue in Manhattan liebt zwar das Leben, weiß aber nichts Rechtes damit anzufangen.

Als Paul eines Tages feststellt, dass jemand in seinem Namen eine Website, eine Facebook-Seite und einen Twitter-Account eingerichtet hat, verfolgt er mit ohnmächtigem Entsetzen die Entwicklung seines virtuellen Alter Ego. Bald geht es nicht mehr nur um die Verletzung seiner Privatsphäre, sondern um etwas viel Beunruhigenderes: Jemand hat seine Identität gestohlen, und dieser »Online-Paul« beginnt ein Eigenleben zu führen - manchen ist er sogar sympathischer als der echte. Fieberhaft versucht Paul herauszufinden, was der Grund für dieses böse Spiel sein und wer dahinterstecken könnte. Er vernachlässigt dabei nicht nur seine Zahnarztpraxis, sondern gerät immer tiefer in die Abgründe einer digitalen Welt, die zunehmend sein reales Leben und Ich zu dominieren droht.

In seinem vielbeachteten Roman »Ins Freie« hat Joshua Ferris das Schicksal eines Mannes beschrieben, der die Kontrolle über sein Leben verliert, weil eine unbeherrschbare Zwangsstörung Besitz von ihm ergreift. In »Mein fremdes Leben« variiert Ferris dieses Thema auf eine noch verstörendere, noch brisantere Weise, indem er zeigt, wie wenig es in unserer modernen Welt bedarf, um unsere gesamte Existenz, unsere ureigenste Identität anzugreifen und in Frage zu stellen.

Joshua Ferris wurde 1974 in Illinois geboren. Sein erster Roman »Wir waren unsterblich« erschien in 24 Ländern, wurde mit dem Hemingway Foundation/PEN Award ausgezeichnet und für die Shortlist des National Book Award nominiert. Sein dritter Roman »Mein fremdes Leben« wurde 2014 mit dem Dylan Thomas Prize ausgezeichnet und kam auf die Shortlist des Man Booker Prize. Joshua Ferris lebt mit Frau und Kind in New York.

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Kapitel 1

Der Mund ist eine seltsame Körperstelle. Nicht ganz innen, nicht richtig außen, weder Haut noch Organ, sondern ein Zwischending: dunkel, feucht, Einlass zu einem Inneren, das sich die meisten lieber nicht vorstellen – dort, wo Krebs entsteht, wo das Herz bricht und wo sich am Ende vielleicht doch keine Seele bemerkbar macht.

Ich rate meinen Patienten dringend, Zahnseide zu benutzen. Zuweilen keine leichte Aufgabe. Aber sie hätten eben Zahnseide benutzen sollen. Regelmäßiger Gebrauch von Zahnseide verhindert Parodontose und kann lebensverlängernd wirken, immerhin bis zu sieben Jahren. Natürlich kostet das Zeit und Mühe und kann einem auch sonst ziemlich auf den Sack gehen. Das sagt aber nicht der Zahnarzt, sondern der Normalmensch in mir. Der Kerl, der nach einem lustigen Abend mit viel Hui (haben wir gelacht) und nach vier, fünf Drinks nach Hause kommt und jetzt auch noch seine Zahnzwischenräume reinigen soll. In dieser Situation sagt so ein Kerl natürlich: Was soll der Quatsch? Irgendwann bleibt sowieso das Herz stehen, die Zellen sterben, und bei den Neuronen geht das Licht aus. Bakterien zersetzen die Bauchspeicheldrüse, Fliegen legen ihre Eier, Käfer fressen sich durch Sehnen und Bänder, die Haut verwandelt sich in Hüttenkäse, Knochen zerbröseln, und Zähne werden ins Meer geschwemmt. Doch am nächsten Tag kommt jemand in die Praxis, der in seinem ganzen Leben noch nie einen Zentimeter Zahnseide benutzt hat und auch genauso aussieht, abschreckendes Beispiel für Vernachlässigung und vermeidbare Schmerzen, mit verrotteten Zähnen, chronisch entzündetem Zahnfleisch und einem Infektionsstrang vom Zahnschmelz direkt in den Nerv. Liegt so einer in meinem Behandlungsstuhl, ist mir plötzlich nicht mehr alles egal, erneut regt sich Hoffnung, so etwas wie Lebensmut, ja tollkühner Trotz, und ich bin wieder bei meiner alten Leier: »Zahnseide! Bitte, Sie müssen Zahnseide benutzen. Zahnseide ist das A und O.«

Eigentlich ist ein Zahnarzt immer nur ein halber Arzt. Seine Tätigkeit weist nämlich Ähnlichkeiten mit der eines Leichenbestatters auf, was er aber nicht offen sagt. Was schmerzt, macht er wieder heil. Was tot ist, flickt er so zurecht, dass ein lebensechter Eindruck entsteht. Er bohrt ein Loch, entfernt die Fäulnis, spachtelt das Loch wieder zu und versiegelt das Einfallstor gegen Erreger. Er reißt Zähne heraus, macht Abdrücke, passt die falschen Dritten an und sorgt für die entsprechende Färbung. Zahnlücken sind die Augenhöhlen des knöchernen Schädels, Molaren stehen aufrecht wie Grabsteine.

Wir nennen es Praxis, niemals einen Betrieb, doch jede erfolgreiche Zahnarztpraxis arbeitet nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen. Meine Anfänge lagen in einer fensterlosen Praxis mit zwei Behandlungsstühlen in Chelsea. Irgendwann wechselte ich in eine Seitenstraße der Park Avenue. Ich mietete das halbe Erdgeschoss in einer Apartmentanlage namens Aftergood Arms. In der anderen Hälfte saß die Steuerberatungsfirma Bishop & Bishop, gegen die seinerzeit wegen Beihilfe zur Bilanzfälschung ermittelt wurde.

Die Park Avenue ist die zivilisierteste Straße der Welt. Die Empfangsportiers mit ihren Handschuhen und Schirmmützen sehen immer noch aus wie in den vierziger Jahren und halten Milliardärswitwen und ihren Hündchen die Tür auf. Die Vordächer reichen bis an die Straße, damit niemand nass wird, der mit dem Wagen vorfährt. Ein Teppich, in der Regel grün, zuweilen auch rot, dämpft den Tritt. Nostalgisch gestimmte Menschen werden mühelos das Kutschenzeitalter heraufbeschwören können, als mancher reich gewordene Siedler nebst Gattin auf dieser Prachtstraße noch Schlammpfützen ausweichen musste. Manhattan ist eine Region im permanenten Umbruch, die einzelnen Viertel wechseln ständig ihre Bewohner, die Stadt verändert sich über Nacht – nur die Park Avenue bleibt die Park Avenue, im Guten wie im Schlechten. Hier wohnt das Geld, vor allem das alte, hier residiert das klassische New York.

Ich nahm Kredite auf ohne Ende, um die neue Praxis meiner Klientel entsprechend zu sanieren. Um diese Riesensumme möglichst schnell abzutragen, schlug ich sowohl den Rat der Trockenbaufirma als auch die Einwände von Mrs. Convoy, meine eigenen Bedenken sowie jegliche Standesusancen in den Wind und verzichtete auf ein privates Büro. Stattdessen nutzte ich die frei gewordene Fläche für ein weiteres Behandlungszimmer und leide seit zehn Jahren darunter. Ich verdiene zwar das große Geld, aber für mich persönlich bleibt keinerlei Rückzugsort.

Etwas war also immer, und Jammern brachte nichts. An manchen Tagen haderte ich richtig mit meinem Schicksal. Doch dann sagte ich mir: Reiß dich zusammen. Was könnte besser sein als eine gutgehende Praxis mit dir an der Spitze der Organisationsstruktur? Mit Ausnahme des langen Donnerstags waren meine Arbeitstage nicht länger als Ihre. Nur an manchen Donnerstagen kamen wir erst um zehn Uhr abends aus der Praxis. In diesen Nächten schlief ich fast von allein, und die Tabletten waren beinahe überflüssig. (Das Erste, was sich bei einer medikamentösen Insomnietherapie verabschiedet, sind die Träume. Aber ich sagte mir: Auch das hat seine Vorteile, denn so bin ich nicht mehr gezwungen, nach dem Erwachen zwanghaft von meinem überreichen inneren Erleben zu berichten.)

Etwas war immer, aber ein bloßes Etwas konnte eben nie alles sein. Sogar eine gutgehende Praxis konnte nicht alles sein. Ein Leben im Dienst der Patienten oder der Mocaccino am Nachmittag oder die Pizza am Freitag, nichts davon konnte alles sein. Auch ein Banjo konnte leider nicht alles sein. Filme direkt auf den heimischen Fernseher zu streamen war bei seiner Einführung fast alles, wurde dann jedoch so schnell normal, dass es auch nur irgendetwas war. Lange Zeit waren die Red Sox für mich alles, bis sie zur Enttäuschung wurden. Und die Enttäuschung meines Lebens war jener Tag im Jahr 2004, an dem die Red Sox den Yankees den Sieg stahlen, dadurch in die World Series einzogen und diese ebenfalls gewannen.

Einmal dachte ich einen halben Sommer lang, Golf könnte alles sein. Ich glaubte allen Ernstes, ich könnte für den Rest meines Lebens alle Kraft, alle Leidenschaft in den Golfsport fließen lassen, und das tat ich auch, aber gerade einmal zwei Monate lang. Denn dann merkte ich, dass ich tatsächlich meine ganze Kraft, meine ganze Leidenschaft, jede freie Minute in das Golfen stecken konnte. Ich glaube, ich war noch nie in meinem Leben so deprimiert. Als ich meinen letzten Ball versenkte, trudelte er zunächst um das Loch, und genau so sah ich auch mein mickriges Leben: Unentschlossen lässt es sich von der Schwerkraft ergreifen und in die Tiefe ziehen.

Halten wir fest: Weder Arbeit noch Freizeit, noch die totale Hingabe an eine höhere Sache (meine Arbeit, Golf, die Red Sox) konnten alles sein, auch wenn sie den Augenblick perfekt ausfüllten. Sollte ich erklären, warum es mir eine solche Befriedigung verschafft, einen verfaulten Zahn durch eine Brücke zu ersetzen und dem Patienten sein unbeschwertes Lachen zurückzugeben, es wäre in etwa so, als wollte ein Träumer seinen Traum beschreiben. Einem Menschen die Würde zurückzugeben ist keine Kleinigkeit. Die Pizza am Freitag war nicht zu verachten. Auch ein Mocaccino gehörte ohne Zweifel zu den Freuden des Alltags. Und ein denkwürdiger Abend im Jahr 2004, als David Ortiz ein 2-Run Home Run gegen die Yankees gelang und die Red Sox das größte Comeback in der Sportgeschichte einleiteten, sorgte für pures Lebensglück.

Gern hätte ich an Gott geglaubt. Das wäre einmal etwas, das nicht nur alles wäre, sondern auch besser als alles andere. Mit dem richtigen Gottesglauben kann man sich beruhigt fallenlassen und weiß immer, woran man ist. Furchtlosigkeit ist eine zusätzliche Option, denn das ewige Leben wäre mir ja sicher. Auch schwebende Orgelregister sowie die tiefsinnigen Betrachtungen anglikanischer Bischöfe dürfte ich zu meinem geistigen Besitzstand zählen. Um all das zu erlangen, müsste ich lediglich meine Zweifel über Bord werfen und einfach glauben. Doch immer, wenn ich kurz davor stand, riss mich die Vernunft zurück. Nein, ohne gedankliche Klarheit ging es nicht. Letztlich konnte ich, durfte ich mich nur an mich selbst halten. Wenn die Welt so schön war, wozu brauchte ich dann einen Gott? Welche Steigerung wäre durch die Unterwerfung unter Gott möglich? So mein ewiger, wohlbegründeter, zäher Skeptizismus. Und damit war die Frage nach Gott leider jedes Mal schnell erledigt.

Non serviam!, rief Luzifer. Er wollte keine kleinen Babys fressen, er wollte bloß Gott nicht dienen. Hätte er es getan, wäre er nicht mehr gewesen als ein x-beliebiger Engel, dessen Namen nicht einmal die Frommen kennen.

Ich habe versucht, die Bibel zu lesen, aber ich kam nie über den Anfangsteil mit dem Himmelsgewölbe hinaus, also all das, was über Tag eins und Tag zwei geschrieben steht. Jenes Gewölbe, das Wasser von Wasser scheidet. Da habt ihr euren Himmel, gleich neben dem Wasser. Einfach das Wasser entlang, dann stoßt ihr irgendwann wieder an den Himmel. Ich kann mir nicht helfen, aber schon das war sterbenslangweilig. Ungeduldig blätterte ich weiter, doch es wurde nicht spannender. Erst Himmelsgewölbe, dann ein elend langer Mittelteil, dann Jesus. Man kann sein halbes Leben damit zubringen, über unfruchtbare Frauen und brennende Dornbüsche und den Zorn Gottes zu lesen, ehe man zu den offiziellen Highlights vordringt: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern … Natürlich kann man das auch anders sehen. Was mich betrifft, ist das wahre Highlight das Zweite Buch der Könige. Aber so weit muss man erst mal kommen, schon das Erste macht es...


Ingendaay, Marcus
Marcus Ingendaay, Jahrgang 1958, studierte Anglistik und Germanistik in Köln und Cambridge. Nach Stationen als Reporter und Werbetexter bringt er seit über dreißig Jahren englische und amerikanische Literatur ins Deutsche. Für seine Arbeit erhielt er den Rowohlt-Preis sowie den Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis.

Ferris, Joshua
Joshua Ferris wurde 1974 in Illinois geboren. Sein erster Roman »Wir waren unsterblich« erschien in 24 Ländern, wurde mit dem Hemingway Foundation/PEN Award ausgezeichnet und für die Shortlist des National Book Award nominiert. Sein dritter Roman »Mein fremdes Leben« wurde 2014 mit dem Dylan Thomas Prize ausgezeichnet und kam auf die Shortlist des Man Booker Prize. Joshua Ferris lebt mit Frau und Kind in New York.



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