Federspiel | Die Vollendung | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 185 Seiten, Format (B × H): 138 mm x 217 mm

Federspiel Die Vollendung

Erzählungen
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-99012-528-1
Verlag: Hollitzer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 185 Seiten, Format (B × H): 138 mm x 217 mm

ISBN: 978-3-99012-528-1
Verlag: Hollitzer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



"Augustus, sagte der Alte, und ich langte schon über den Tisch, um ihm die Hand zu reichen, als ich begriff, dass mir nicht das Du angeboten wurde."

Ein Phantomzeichner, der das eigenartige Talent entwickelt, Freunde aufzuspüren, die man noch gar nicht kennengelernt hat; eine junge Frau, die entdeckt, dass in der Ahnengalerie ihres frisch angetrauten Mannes nicht nur die verstorbenen, sondern auch die künftigen Mitglieder der Familie porträtiert sind; ein Musiker, dessen Biographie sich mit der eines längst verstorbenen Chansonniers zu vermischen beginnt; ein Kameramann, der die Rechte über sein Leben unwissentlich an eine Filmfirma abgetreten hat.

Maurus Federspiel erzählt Phantastisches, in dessen Licht die Realität ungewohnte Facetten enthüllt. Seine im Tonfall wunderbar lakonischen Geschichten haben immer - mindestens - einen zweiten Boden und öffnen neue Räume im Kopf.

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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


INHALT

Phantome

Die Ahnengalerie

Die Kanzlei

Der Imitator

Der Wachsame

Der Käufer

Die Vollendung

Danksagung


PHANTOME Es war der einzige freie Platz im Waggon. Ein Zufall also. Oder vielleicht auch kein Zufall: Den Mann umgab eine fast physisch spürbare Aura, eine Hülle der Unnahbarkeit. Er trug trotz der Wärme im Zug einen etwas abgewetzten Kamelhaarmantel, Lackschuhe mit polierten Schnallen, eine weiße Krawatte. Das Auffälligste an ihm war aber sein Bart: Breite Koteletten, die abrupt in ein schmales, behaartes Band übergingen, das wiederum entlang dem Kiefer zu einem dichten, dunklen, quaderartigen Gewebe führte. Für den Mund war eine schmale Klinse herausgeschnitten, die Lippen sahen aus, als wären sie sorgfältig aufgeklebt worden. Ich war verblüfft. „Ist hier frei?“, fragte ich. Der Mann hatte die Beine übereinandergeschlagen und war dabei, etwas auf einen kleinen Zeichenblock zu kritzeln, und die Hand mit dem Fallminenstift schien sich auf dem Blatt wie ferngesteuert einfach weiterzubewegen, als er zu mir aufsah, mich kurz musterte und „Bitte“ sagte. Eine tiefe, kehlige Stimme, etwas metallisch. Er zeichnete weiter. Die Krawatte war, genau besehen, schwarzweiß, aber über dem dunkelblauen Hemd stach vor allem ein senkrechter weißer Streifen vor seiner Brust heraus, wie eine leuchtende Öffnung zu seinem Innersten. Keine, die man berühren wollte, eher eine Schramme, vor deren Empfindlichkeit man zurückschreckte. Ich setzte mich, meine Zeitschrift in der Hand, neben ihn in das Viererabteil des offenen Waggons. Zwei ältere Damen saßen uns gegenüber und unterhielten sich halblaut. Die Skizze auf seinem Zeichenblock zeigte keine von beiden. Der Zug fuhr an, es ratterte und holperte etwas, die Bleistiftspitze hielt inne, um dann vom gleichen Punkt aus weitergeführt zu werden, als der Zug die Bahnhofshalle verließ und beschleunigte. Ich sah mich um, machte die Frau mit den tiefen Augenringen und der weißen Mütze dann im übernächsten Abteil auf der anderen Seite des Mittelgangs aus. „Gut getroffen“, sagte ich. Ihre Nase, die Mütze, die abfallende Falte neben dem Mund, der müde Blick der Frau waren sehr genau erfasst, aber er hatte die einzelnen Elemente neu zusammengesetzt; diskret, nicht wie es Picasso mit seinen Geliebten gemacht hatte, deren er überdrüssig geworden war, sondern wohlwollend, so kam es mir vor, das Gesichtsoval war etwas vergrößert, die Augen ein klein wenig gegeneinander versetzt, das Haar schien unter dem Mützenrand zu schweben. Insgesamt schien es, als würde der Frau in der Zeichnung durch die ungezwungene Umsetzung eine Heiterkeit geschenkt, die in ihrem realen Vorbild schlummerte. Ich erwartete eine abwehrende Reaktion – dass er den Block zuklappen würde vielleicht, weil er es nicht mochte, dass man ihm über die Schulter schaute, oder dass er mich mit kühler Bescheidenheit auf Distanz hielte. Stattdessen sagte er einfach: „Danke“ und neigte die Zeichnung kurz zu mir her, um mich einen genaueren Blick darauf werfen zu lassen. Mit einer raschen Linie fügte er den Umriss des Sitzes hinzu, wie einen Rahmen, der vom Pompon ihrer Mütze durchbrochen wurde, dann schlug er das Blatt um. Im oberen Drittel der nächsten Seite setzte er einen einzelnen Punkt, dann hielt die Hand mit dem Stift inne. „Beruf oder Hobby?“, fragte ich. Er warf mir einen Blick zu, ohne mich anzusehen, drückte auf den Knopf am Stiftende und ließ die Spitze der Mine verschwinden. „Zeichnen ist mein Beruf“, sagte er. „Seltsam, dass ich bei der Antwort auf diese Frage stocke. Vielleicht weil sie mir missverständlich vorkommt. Die Antwort, meine ich.“ „Inwiefern?“ „Woran denken Sie denn, wenn Ihnen jemand als Zeichner vorgestellt wird?“ Ich rollte meine Zeitschrift zusammen, überlegte. „An Werbegraphik vielleicht. Oder an Hochbauzeichnung. Comics. Natürlich an die Pastellkreidehausierer, die vor einer Kathedrale Touristen verewigen.“ Er warf einen Blick aus dem Fenster auf die Vororte, in denen sich die Stadt hinter uns rasch auflöste, nickte. „Die Zeichnung hat oft etwas Kaltes, Unzweideutiges. Auch Lumpen können zeichnen.“ „Viele Maler waren Lumpen.“ „Das ist eine andere Sorte Lump. Anders als die Malerei hat die Zeichnung gerade wegen ihrer Unzweideutigkeit aber auch etwas Zweckdienliches. Ich bin ein zweckdienlicher Zeichner.“ Die Luft im Waggon war feucht von den regennassen Kleidern der Passagiere. Ich roch Seife, war aber nicht sicher, von wem der Duft stammte. „Sie sprechen in Rätseln“, sagte ich. „Sie haben recht. Dabei gehört es eigentlich zu meiner Aufgabe, Rätsel zu lösen.“ Er nahm einen tiefen Atemzug, schien zu überlegen, ob er mir Genaueres mitteilen wollte; aber natürlich konnte er jetzt nicht mehr zurück, ohne sich über Gebühr wichtig zu machen. „Ich bin Phantomzeichner.“ „Bei der Polizei? Interessant.“ „Bei der Polizei“, bestätigte er zögerlich und nickte dabei tief, als würde er sich unter etwas hindurchducken. „Sie zeichnen also schlimme Menschen.“ „Richtig, schlimme Menschen.“ „Dann wird sich Ihr Zeichenstift bestimmt freuen, wenn er hin und wieder unschuldige und sympathische Zugpassagiere zeichnen darf.“ Er lachte und betrachtete den Fallminenstift, den er zwischen den Fingern hielt. „Vielleicht braucht mein Arbeitsinstrument tatsächlich dann und wann eine kleine Aufheiterung, um bei Laune zu bleiben.“ Er sah mich von der Seite an. „Glauben Sie an das Leben der Dinge?“ „Warum nicht. Ich handle mit Antiquitäten. Und da kommt es mir manchmal vor, als hafte an einem Gegenstand seine Geschichte noch als Erinnerung. An einer Schatulle etwa oder an einem Tisch, an dem Leute zusammensaßen, von denen ich nichts weiß, oder an einem Ring. Man setzt sich an den Tisch oder steckt sich den Ring mit dem Mondstein an den Finger, und schon wehen Stimmungen heran, wie Erinnerungen an andere Orte, andere Menschen. In Ihrem Beruf spielt die Erinnerung auch eine bedeutende Rolle, nicht wahr?“ Er nickte. „Einer Dame wird die Handtasche geraubt. Es dämmert schon, eigentlich spürt sie nur den groben Ruck an ihrem Arm, sie erschrickt, wird herumgerissen, und bevor sie stürzt, erhascht sie einen einzigen Blick auf das Gesicht des Räubers. Dieses Gesicht soll sie mir dann beschreiben. Oder der Mann, der am Rand des Spielplatzes steht und nur aus der Ferne von zwei Müttern bemerkt wurde. Überhaupt, der Fall, wenn ein Täter von mehreren Zeugen gesehen wurde und jeder von ihnen dann seine Kennzeichnung liefert!“ Er schüttelte den Kopf. „Die Beschreibungen weichen voneinander ab?“, fragte ich. Die beiden alten Damen uns gegenüber waren verstummt und blickten den Phantomzeichner an. Sie mussten etwas von unserer Unterhaltung mitangehört haben. Er nickte ihnen freundlich zu, und sie wandten sich wieder einander zu. „Die Unterschiede in den Beschreibungen sind oft haarsträubend“, bestätigte er. „Und wenn man den Kerl dann erwischt, muss man feststellen, dass drei von drei Zeugen falsch lagen. Natürlich nicht immer. Ich übertreibe. Manchmal ist auch ein guter Beobachter dabei.“ „Das bedeutet natürlich, dass auch ein einzelner Zeuge komplett danebenliegen kann.“ „Sicher.“ Er klang irgendwie zufrieden. „Aber stellt das nicht die Aufgabe des Phantomzeichners überhaupt in Frage?“ „Tja.“ Er berührte mit dem Ende des Stiftes seine Nasenspitze, merkte wohl, dass er dabei komisch aussehen musste, zeigte mit dem Stift dann ins Ungefähre der lautlos vorbeiziehenden Landschaft, als läge da draußen eine Antwort auf den Einwand. „Da kommt dann das besondere Talent des Zeichners ins Spiel. Haben Sie das Magazin abonniert?“ Er wies auf die Zeitschrift in meiner Hand. Ich schüttelte den Kopf, entrollte sie und strich sie glatt, um ihm das Titelbild zu zeigen, etwas enttäuscht darüber, dass er so abrupt das Thema wechselte. „Am Kiosk gekauft. Hier.“ Ich reichte ihm das Heft. Aber er wehrte ab. „Ich lese keine Zeitungen“, sagte er. „Beschreiben Sie mir den Verkäufer.“ „Den Mann am Kiosk?“ Ich rollte die Zeitschrift wieder zusammen, klopfte mit dem Papierrohr in die offene Hand, überlegte. „Schwierig. Hager war er.“ Ich kniff die Augen zusammen, um mir das Gesicht in Erinnerung zu rufen, aber das Wenige, das sich mir zeigte, vermischte sich sogleich mit den Gestalten anderer Leute. „Irgendwie gefällig aussehend, falls das etwas zu sagen hat.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Jedenfalls ist das ein Eindruck, der zurückblieb. Dunkles Haar. Ich glaube, die Lider hingen etwas herunter. Vielleicht waren die Augen blau. Sein Blick ging leer durch mich hindurch, geschäftsmäßig halt.“ Er hatte schon angefangen zu zeichnen. „Glattes oder krauses Haar?“ „Nicht glatt. Nicht glatt.“ Ich war nicht sicher. „Hatte er ein Grübchen im Kinn?“, fragte ich mich selber. „Ich glaube schon.“ „Die Brauen?“ „Nichts Besonderes, würde ich sagen. Nicht sehr buschig, nicht besonders gewölbt oder dergleichen. An seine Hand kann ich mich erinnern, als er mir das Wechselgeld reichte. Aber das nützt nichts, oder?“ „Was war es denn für eine Hand?“ Die Skizze schien sich sehr rasch zu formen. „Knotig, sehr schmal, mit krummen Fingern.“ „Aha.“ Ich war nicht sicher, ob er sich über mich lustig machte. Er zeichnete einfach weiter. „Hervortretende Wangenknochen?“, fragte er. „Das muss man bei einer hageren Figur annehmen, nicht wahr?“ „Ja. Ja, bestimmt.“ „Ich will Ihnen nichts in den Mund legen. Lassen Sie sich von mir nicht beeinflussen.“ Das klang eingelernt. Er stellte mir...


Maurus Federspiel ist freier Autor und Journalist. 2014 erschien sein Roman "Feind". Er lebt in Zürich und hat einen Sohn.



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