Falk | Das Letzte | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Falk Das Letzte


1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-95985-085-8
Verlag: Albino Verlag, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-95985-085-8
Verlag: Albino Verlag, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Was tun, wenn man einen Knacks hat und nicht so ganz klarkommt mit der Welt? Richtig, man sucht sich ein paar andere Outcasts, gründet eine anarchistische WG - und hofft, dass einfach alles so bleibt, wie es ist. So versucht es zumindest die namenlose Erzählerin dieses Romans. Doch plötzlich muss sie das Leben ihrer Messie-Mutter regeln, obwohl sie nicht einmal in ihrem Kopf Ordnung schaffen kann. Gleichzeitig kommt ihr Leo immer näher, den sie liebt und doch auf Abstand halten will. Zwischen komischen Gefühlen, lange verschütteten Erinnerungen und alten Joghurtbechern muss sie auf einmal etwas tun, das sie bisher vermieden hat: Sie muss handeln. Mit großer Sprachlust und hinreißendem Humor erzählt Dietlind Falk von liebenswert-verschrobenen Außenseitern, tiefer Melancholie und ungewollten Veränderungen, die manchmal auch etwas Gutes sein können.

Dietlind Falk, Jahrgang 1985, ist im Ruhrgebiet aufgewachsen und studierte Literaturübersetzen an der Universität Düsseldorf. Derzeit promoviert sie am dortigen Institut für American Studies und arbeitet freiberuflich als Übersetzerin. 'Das Letzte' ist ihr erster Roman.

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1.
Doktor Mabuse
Doktor Mabuse und ich kennen einander seit sechs Jahren. Ich weiß nichts über ihn, und er weiß nichts über mich. Das weiß er natürlich nicht, sein Job besteht schließlich darin, Dinge über Menschen zu wissen. Er ist mein Therapeut und selbsternannter Ersatzvater, und ganz wie ein echter Vater glaubt er, sich um mich zu kümmern, während er in Wahrheit nur Druck ausübt und in meinem Leben herumschnüffelt – und mich dazu bringt, ihn in jeglicher Hinsicht zu verabscheuen. Sorgsam hat er eine Akte über mich angelegt, mit einem blassrosa Klappdeckel aus Pappe und vorgestanzten Löchern am Rücken, von der er denkt, sie enthielte alles, was man über mich wissen müsse. Doch in Wahrheit ist seine Sprechstunde meine Schweigeminute. Doktor Mabuse ist sehr hager, und seine Haut hat einen merkwürdigen Braunstich, sodass er mir immer vorkommt wie ein Weberknecht in Menschengestalt. Wenn er zur Begrüßung seine kalte, feuchte Hand ausstreckt, dann lasse ich mir meinen Ekel zwar nicht anmerken, wie ich mir überhaupt nie etwas anmerken lasse, aber wenn ich sie schüttle, kommt es mir innerlich vor wie eine Mutprobe, bei der ich mit spitzen Fingern eine tote Qualle anfassen muss. Von außen müssen unsere Sitzungen wirken wie eine sehr lange, sehr langweilige Choreografie. Sie laufen immer gleich ab: Doktor Mabuse sitzt in seinem großen schwarzen Ledersessel, lehnt sich knarzend zurück und faltet die Hände über dem Bauch. Dann fängt er an, kaum merklich zu wippen, während ich angestrengt die Beine übereinanderschlage und meine Hände in die Spalte schiebe, die meine Oberschenkel dabei bilden. Doktor Mabuses Gesicht bleibt während der gesamten Sitzung ungerührt, fast als schliefe er mit offenen Augen, und nur wenn gegen Ende die Tür aufgeht und seine blöde Sprechstundenhilfe mit einer neuen Akte reingestöckelt kommt, heben sich seine Mundwinkel, weil sie jung ist und enge Blusen mit weitem Ausschnitt trägt, durch die man ihre Unterwäsche sehen kann. Beim Gehen wiegt sie ihren Oberköper theatralisch nach links und nach rechts, als sei sie gerade furchtbar eingeschnappt. Ich frage mich, ob Doktor Mabuse einen versteckten Knopf hat, mit dem er sie ruft, den er nur zu drücken braucht, damit sie wieder antanzen muss, denn dann wäre ich auch eingeschnappt. Das wäre so erniedrigend, dass ich mir an ihrer Stelle den Stöckelschuh eher mitten ins Herz hacken würde, als ihn morgens für diese Arbeit anzustreifen. Wenn Doktor Mabuse mir eine Frage stellt, erkenne ich es zwar meist noch daran, wie sich seine Stimme am Ende der Lautkette hebt, doch bevor ich reagieren kann, wirft mein Kopfecho den Sinn seiner Worte fröhlich durcheinander und zerstreut ihn in alle vier Himmelsrichtungen. Wie die Samen einer Pusteblume zwirbeln sich die Bedeutungen einfach ins Irgendwo und sind plötzlich verschwunden. Das passiert mir andauernd, wenn mein Gehirn Gefahr wittert, die Art Lähmung, die ein Reh wohl im Angesicht der immer größer und heller werdenden Scheinwerfer empfinden muss. Dann kann ich nicht antworten, was gar nicht gut ist, denn wenn ich zu apathisch wirke, wird er mich hier in der Klinik behalten wollen, hier, im unendlichen Weiß. Im ewigen Eis. Und je größer meine Angst vor diesem Urteil wird, desto mehr wirke ich, als wäre es gerechtfertigt. Also fange ich meist an zu nicken, weil es sein kann, dass das zufälligerweise eine angemessene Reaktion ist, schließlich liegt es in der Natur von Fragen, sich häufig mit Ja oder Nein beantworten zu lassen. Und außerdem ist das doch sicherlich ein Zeichen von gesundem Optimismus, Kopfnicken. Er macht sich dann eine Notiz. Ein paar Sachen weiß Doktor Mabuse natürlich schon über mich: Vat. u. Brud. verstbn., traum. Angstzust. seit KH, spont. Aphasie, gel. Stupor mit dissoz. Epis. (Medik. seit 03.05.02). Manchmal wird er wegen eines Notfalls auf der Station angepiepst, und wenn sein Kittel dann hektisch zur Tür hinausgeweht ist, drehe ich schnell die Blätter auf seinem Schreibtisch um und lese, was es Neues über mich gibt. Viel ist es nie. Laut meiner Akte bin ich eine latent dissoziative Persönlichkeit, was rein logisch bedeuten müsste, dass ich eine Persönlichkeit habe. Obwohl man mir nicht im Geringsten nachsagen kann, ich sei eitel, macht mich Doktor Mabuses Gekritzel in der Akte irgendwie wütend. Er nennt es meine Krankengeschichte, dabei ist nichts, aber auch wirklich nichts weiter entfernt von einer Geschichte als diese paar nackten, mickrigen Wortstummel in Doktor Mabuses Akte, und schon allein, um ihm dafür eins auszuwischen, dass er tatsächlich glaubt, sie würde meine Vergangenheit ausreichend dokumentieren, kommt mir während unserer Sitzungen kein Wort über die Lippen, wenn ich es irgendwie verhindern kann. Und heute erst recht nicht. Was Doktor Mabuse nicht weiß: Innerlich erzähle ich die ganze Zeit. Ich sitze vor ihm wie eine Taubstumme, als hätte jemand meine Stimmbänder gekappt, aber innerlich erzähle ich heute all das, was er nicht weiß und auch niemals erfahren wird, und zwar ohne Abkürzungen und Fachbegriffe und mit Zusammenhang. Ungefähr so: Mein Name ist Dissoziative Persönlichkeit. Gestört bin ich selbstverständlich wegen meiner Eltern, und die waren gestört wegen ihrer Eltern. Und ein bisschen auch wegen der Welt im Allgemeinen. Eines Abends hätte mein Vater meine Mutter beinahe erwürgt, mein großer Bruder ist vor Angst aus dem Fenster gesprungen, und dann hat sich mein Vater noch eine Pulle Doppelkorn reingeknallt und ist auf den Couchtisch aus Glas gefallen und war tot. Weil er, statt sich abzustützen, die Flasche nicht losgelassen hat. Ein würdiger Säufertod. Das Ganze hat vielleicht eine Viertelstunde gedauert, ich habe in meinem rosa Plastikbett gelegen und so getan, als würde ich schlafen. Man könnte sagen, es war eine Art umgekehrter Urknall: Es macht plötzlich bumm, und alle sind weg. Am nächsten Tag stellte sich heraus, dass sich unser Nachbar Herr Abramowitsch nebenan mit einem von insgesamt fünfzigtausend geklauten Fernsehkabeln erhängt hatte. Es gab einen kurzen Artikel in der Lokalzeitung (›Todesnacht im Plattenbau‹) mit einem unscharfen Foto von unserem Balkon mit den vertrockneten Blumenkübeln drauf, und dann kam meine Mutter erst mal für ein paar Jahre in die Klapse und ich zu meiner Oma, was ziemlich genau aufs Gleiche hinauslief. Meine Oma hatte einen Hund und Arthritis. Deshalb musste ich ihr immer bei allem Möglichen helfen, das meiste hatte mit Händen und Füßen zu tun und war rentnerbraun. Allgäuer Latschenkiefer. Gesundheitsstrümpfe an aufgequollenen, blau-weißen Beinen hochwuchten. Und alles Gekochte in Fett ertränkt. Und um so viel Ekel und Abscheu gerecht zu werden, kann man da jetzt eine richtig schöne kleine Erzählung in der Erzählung draus machen. Ein modernes Märchen. In etwa so: Es war einmal ein graues, eckiges Bungalowhaus mit ewig geschlossenen, vergilbten Spitzenvorhängen und lieblos verwittertem Vorgarten. Darin wohnte Oma Latschenkiefer mit ihrer Witwenrente. Und dann auch mit mir. (Wer jetzt bei ›Oma‹ an eine nette alte Dame mit riesigem Süßigkeitenvorrat und morgendlichem Kinderfernsehen denkt, die andauernd »Ach nein, wie drollig!« ruft und dann schnell noch einen Kuchen backt – so war sie nicht.) Weil Oma Latschenkiefer mit ihren knöcherigen, abstrus verformten Fingern irgendwann keine Briefe mehr schreiben konnte, übernahm ich schließlich ihre Korrespondenz, die sie stichwortartig in regelmäßigem Turnus an andere rentnerbraune, kugelrunde Hundebesitzerinnen zu schicken pflegte. Sie diktierte mir die Neuigkeiten in dem blinden Vertrauen, dass ich die Verben schon von selbst einfügen würde wie jeder andere normale Mensch (ha ha!): Babsi (ihr Dackel) gesund, Luise doch nur Pflegestufe zwei, Wetter auf Rügen auch nicht gut (dort wohnte ihre Jugendfreundin Irma), und so weiter und so weiter. Einmal kam ich auf die Idee, die Briefe im Telegrammstil zu verfassen, und setzte zwischen die Satzfetzen ein STOPP, und sie wurde so wütend, dass sie mich eine Woche lang mit Rosenkohl und Hühnerleber bestrafte. Wirklich. Und ich war so brav, dass ich das Zeug einfach still leidend und würgend in mich hineinaß, ohne einen Mucks zu machen. Ohne Oma Latschenkiefer anzusehen, habe ich Leber um Leber gegessen und mir vorgestellt, ich äße ihr Herz auf. Nach einem halben Jahr hatte ich halbwegs verstanden, warum meine Mutter so war, wie sie war: Weil es in diesem Haus keine Gefühle gab. Es war taub. Wie ein für immer eingeschlafener Fuß. Da war gar nichts, nur abgestandene Luft und Ockerfarbenes. Gehäkelte Platzdeckchen wurden dort weitaus mehr geschätzt als Menschen, mehr als Kinder vor allem, sodass man sich nach kürzester Zeit wünschte, nicht mehr man selbst zu sein, sondern jemand anderes – oder besser noch, etwas anderes, eines der...


Dietlind Falk, Jahrgang 1985, ist im Ruhrgebiet aufgewachsen und studierte Literaturübersetzen an der Universität Düsseldorf. Derzeit promoviert sie am dortigen Institut für American Studies und arbeitet freiberuflich als Übersetzerin. "Das Letzte" ist ihr erster Roman.



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