E-Book, Deutsch, 360 Seiten
Falk Anatol studiert das Leben
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7117-5372-4
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 360 Seiten
ISBN: 978-3-7117-5372-4
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kurzweilig, spannend und herzerwärmend ist Susanne Falks Liebesgeschichte um einen Sonderling und das kleine bisschen Glück, das es braucht, um am Ende zum Ziel zu gelangen.Anatol hat es nicht leicht: Seine divenhafte Großmutter verwöhnt ihn, seinen ersten Liebschaften ist keine Dauer beschieden, und mit dem standesgemäßen Studium kann er sich auch nicht so recht anfreunden. Da beschließt er, künftig als Museumsaufseher sein Glück zu suchen. Und so trifft er auf seine erste richtige Liebe! Bloß weiß Marcelline, die französische Kunststudentin, die stundenlang vor einem Chagall steht, davon nichts. Als die Ausstellung endet und auch keine Aussicht auf ein Wiedersehen mit Marcelline besteht, fasst sich Anatol ein Herz und stiehlt den Chagall. Mit dem entwendeten Bild, das er der Frau seiner Träume überreichen will, und einer vagen Idee macht er sich auf den Weg nach Frankreich.
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ERSTER TEIL
Anatol saß im Garten seiner Großmutter vor der Döblinger Villa unter einem Fliederbusch und sah den Amseln beim Paaren zu, während der Burgschauspieler Josef Meinrad mit der Großmutter Tee trank. Da war er vielleicht fünf Jahre alt. Seine Großmutter reichte zum Tee gerne Anisgebäck. Immer wenn eine kurze Gesprächspause zwischen den beiden entstand, konnte Anatol hören, wie der berühmte Schauspieler in eines der Kekserl biss und sich damit das Anisaroma aus dem Munde Meinrads über den ganzen Garten verteilte. Und obwohl der Flieder einen durchaus starken Geruch verströmte, konnte Anatol zwischen dem schweren Blütenduft winzige Partikel von Anis wahrnehmen. Ja, Meinrad schaffte es, ganz gezielt auf einzelne Anissamen zu beißen, und der Duft dieser einzelnen Samen drang bis zu Anatol vor. Das, so erkannte das Kind, geschah nicht etwa zufällig, im Gegenteil, der große Burgmime schien sowohl die Gesprächspausen der Großmutter, den Duftschweregrad des Flieders als auch die leichte, frühnachmittägliche Brise so perfekt verinnerlicht zu haben, dass er genau wusste, wann er auf den Anissamen zu beißen hatte, damit dessen Duft sich über den Döblinger Garten, ja die ganze Wiener Vorstadt hinweg ausbreiten würde. Das, so schien es Anatol, war perfektes Timing. Die Einzigen, die von der Aura des großen Schauspielers und seinem untrüglichen Gespür für große und kleine Augenblicke unbeeindruckt blieben, waren die Amseln, und Anatol fand es auf kindliche Art und Weise unanständig, dass diese Vögel nicht voneinander abließen, um dem großen Mann beim Kauen zuzusehen. Stattdessen suchten die Amseln in ihrem eigenen Rhythmus den perfekten Zeitpunkt, um neue Amseln zu produzieren. Das wusste Anatol natürlich nicht, als er unter dem Fliederbusch saß. Nur der spitze Schrei seiner mittleren Schwester und ihr Ausruf »Iiih, die Vögel vögeln ja!« erklärte sich ihm Jahre später, als ihm die Szene in den Sinn kam, während seine Großmutter eine Packung Anisgebäck auf einen Teller leerte und ihn damit in den Garten schickte. »Geh, Schatzerl, bring das mal dem Meinrad.« Dass »der Meinrad« zu diesem Zeitpunkt schon fast zwanzig Jahre tot war, hielt seine Großmutter nicht davon ab, ihm immer noch einen Platz an ihrem Gartentisch frei zu halten und im Gedenken an den großartigen Künstler und Freund nachmittags ein paar Kekse an die Amseln zu verfüttern. Es war ein sehr spezielles Tea for One. So lernte Anatol nicht nur, dass es einen perfekten Zeitpunkt für so gut wie alles gab, er verortete sein Leben ganz und gar in einer Welt außerhalb des Zufalls. Alles war planbar - wenn die Umstände es zuließen. Natürlich kam auch in Anatols Welt das Unerwartete vor. Aber er hielt es auf Abstand und bemühte sich darum, seinen Tagesablauf zu perfektionieren. Morgens um sieben läutete der Wecker, dann duschen, abtrocknen, kämmen, anziehen und weiter zum Frühstück, das immer und ausschließlich aus irgendeiner Sorte Zerealien bestand, vorwiegend gezuckerten Cornflakes. Um dreiviertel acht verließ Anatol dann das Haus und machte sich auf den kurzen Weg zum Kindergarten, zur Schule, in die Arbeit. Es machte eigentlich keinen Unterschied, welche Institution er im Laufe seines Lebens besuchte, der Ablauf blieb immer derselbe, ebenso die Uhrzeit. Da Kindergarten und Schule in der Nähe lagen, konnte Anatol sie bequem binnen fünf Minuten zu Fuß erreichen. Und seit er im Kunstforum arbeitete, das ebenfalls keine fünf Minuten von seinem Elternhaus entfernt lag, erwies sich sein Tagesablauf während der Zeit des Kindergartens, der Schule und der Universität als perfekte Vorbereitung für sein nunmehriges Leben, denn die Öffnungszeiten des Kunstforums änderten sich nie und somit änderte sich auch nichts an Anatols Alltag, was er sehr zu schätzen wusste. Allerdings öffnete das Kunstforum seine Pforten auch für die Mitarbeiter erst um zehn. Es kostete ihn große Mühe, seinen Alltag um zwei Stunden nach hinten zu verlagern, damit er nur noch zehn Minuten zu früh zur Arbeit erschien. Genügend Zeit zu haben beruhigte ihn, also geizte er nicht damit. Somit war alles in Anatols Leben geplant, organisiert und vorhersehbar, damit das Unvorhergesehene keinen Zutritt erhielt, denn: Es machte ihm Angst. Seine Großmutter führte dies unter anderem auf Tante Mitzi zurück. Tante Mitzi war der dunkle Fleck in der ansonsten strahlenden Familiengeschichte, denn auf Tante Mitzis kleiner Gestalt lag ein Schatten. Zwar trug dieser Schatten die berühmten Züge des noch viel berühmteren Sigmund Freud, aber immerhin. Tante Mitzi, die eigentlich nicht Anatols Tante, sondern seine Urgroßtante war, sollte eine der letzten Patientinnen des Wiener Seelenarztes werden. Darauf war man mit Recht stolz. Nicht jeder hatte jemanden in seiner Familie, der seinen Wahnsinn auf Sigmund Freuds Couch hatte behandeln lassen. Leider hatte Freud aus Österreich fliehen müssen, bevor Tante Mitzis Wahnsinn ganz auskuriert war, und so erlitt die Arme mit Mitte zwanzig einen Rückfall, der sich darin äußerte, dass sie splitterfasernackt die Treppen zur Kirche Maria am Gestade putzte. Splitterfasernackt deshalb, weil sie zum Putzen ihre eigene Kleidung verwendete. Als ein schnell herbeigerufener Polizist sie fragte, warum sie das denn tue, da habe sie geantwortet: »Ja, soll denn der Herr Jesus nicht auch eine saubere Treppe haben?« Dagegen war wenig einzuwenden und Tante Mitzi kam, gehüllt in eine eilends herbeigeschaffte Wolldecke, auf den Steinhof, von wo man sie ein Jahr später wieder entließ: Ohne Putzzwang, dafür aber immerfort »Ein Jäger aus Kurpfalz« singend. Das hatte ihr offenbar eine deutsche Pflegerin beigebracht. Nun sang es die Tante von früh bis spät, eigentlich ohne Unterbrechung, bis sie vom vielen Singen abends müde ins Bett sank. Noch als die Nazis die Tante abholten, sang sie ihr Lieblingslied ohne Unterbrechung weiter, und man hatte noch drei Straßen entfernt geglaubt, aus dem Lastwagen heraus die Worte »reitet durch den grünen Wald« gehört zu haben. Als Tante Mitzi nach einem Monat, in dem niemand wusste, wo sie war, aufgrund der Intervention eines Hitler treu ergebenen Großonkels wieder auftauchte, quasi aus dem Nichts, hatte sie zu singen aufgehört. Mehr noch, sie war verstummt – ein Zustand, an dem sich bis zu ihrem Tod im Alter von weit über neunzig nichts mehr ändern sollte. Die Geschichte der Tante Mitzi hatte dazu geführt, dass man in Anatols Familie auf Therapien jedweder Art lange Zeit keinen Wert legte. Vor allem seine Großmutter stand der Psychoanalyse äußerst kritisch gegenüber. Als Anatols Mutter ihr eines Tages unter Tränen mitteilte, da war Anatol vielleicht vier Jahre alt und stand heimlich hinter der Wohnzimmertür und lauschte, dass sie aufgrund seines merkwürdigen Sozialverhaltens äußerst besorgt um Anatol sei und sie glaube, das Kind sei womöglich auf irgendeine Art und Weise gestört, in jedem Fall aber sehr merkwürdig, hatte die Großmutter nur gesagt: »Gestört hin oder her, der Freud ist tot und alles ist besser als der Jäger aus Kurpfalz. Das Kind kommt mir nicht in Therapie!« Ja, aber, habe die Mutter schluchzend geantwortet, irgendwann habe die Tante Mitzi doch aufgehört zu singen. Da hatte die Großmutter ihre Tochter nur streng angesehen, indem sie eine ihrer stark gezupften Augenbrauen hob, und gemeint, eher singe sie selbst die nächsten zehn Jahre, als dass sie ihrem geliebten Enkel ein solches Trauma an den Hals wünsche wie es die Tante erlitten habe und dass man alle Nazis nach dem Krieg hätte aufhängen müssen, nur wäre Österreich dann ein sehr, sehr ödes Land geworden, so ganz ohne Einwohner. Wie schön wäre Wien ohne Wiener gewesen, nur ohne Publikum spielt es sich selbst an der Burg eher schlecht, und so müsse man wohl oder übel die Menschheit in Kauf nehmen. Und damit war dann auch alles gesagt. Überhaupt war es die Großmutter, die die gesamte Familie einte und gleichzeitig dominierte, mit ihrer bisweilen liebenswürdigen, oft auch cholerischen Art. Der Großvater hatte sich nie gegen seine Frau durchgesetzt, es allerdings auch nie darauf angelegt. Ihm schien es zu gefallen, von ihr beherrscht zu werden. Anatols Großvater war Ministerialrat gewesen, zu Lebzeiten hatten ihn seine Kollegen wohl hin und wieder um seine schöne wie auch berühmte Ehefrau beneidet. Der Neuendorff, das ist doch der mit der Burgschauspielerin …? Natürlich zerriss man sich hinter dem Rücken der Großeltern das Maul. Aber das war ja Teil des Spiels, das die Großeltern feine Gesellschaft nannten. »Eine feine Gesellschaft ist das«, sagte die Großmutter oft, und der Großvater antwortete immer mit einem beschwichtigenden »Schsch, Johanna, ist ja schon gut!« In Wahrheit aber war die Großmutter stolz darauf, dass sie aus diesem Heer an Twinsetperlenkette-Ministerialratsgattinnen herausstach, denn sie war lauter, größer und viel, viel präsenter als ihre gesamte Umgebung. Und auch wenn der Großvater oft eher wie das ruhige Anhängsel seiner Frau wirkte,...