Was Musik mit uns macht
E-Book, Deutsch, 544 Seiten
ISBN: 978-3-641-32584-8
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Dieses Buch will dir nicht das vermitteln, was dir andere Musikbücher vermitteln. Es wird dir nicht dabei helfen, mit deinen Lieblingsku?nstler*innen und -genres eine noch tiefere Beziehung einzugehen [...] Dafür wirst du aber vielleicht besser verstehen, warum du liebst, was du liebst - und eine plausible Erklärung dafür bekommen, dass du andere Musik aus ganzem Herzen hasst.«Es gibt unzählige Bücher uber Musik, in denen Musiker*innen, Bands, Epochen und Genres ausfuhrlich analysiert werden. Aber selten beschaftigt sich ein Buch damit, was in uns vorgeht, wenn wir Musik hören. Michel Faber erforscht zwei große Fragen: wie wir Musik hören und warum wir Musik hören. Um diese Fragen zu erörtern, berücksichtigt er Themen wie Biologie, Alter, Krankheiten, »Coolness«, kommerzielle Hintergrunde, die Dichotomie zwischen »gutem« und »schlechtem« Geschmack und findet durch Interviews mit Musikerinnen und Musikern allerhand überraschende Antworten.Dieses erhellende Buch des preisgekrönten Romanautors spiegelt Michel Fabers lebenslange Besessenheit für Musik jeglicher Art wider. Hör zu! wird Ihre Beziehung zur gehörten Welt verändern.
Michel Faber wurde 1960 in den Niederlanden geboren, wuchs in Australien auf und lebt heute in England. Er ist Autor von sieben Romanen, drei Novellen und einem Poesieband, darunter »Die Weltenwanderin« (verfilmt als »Under the Skin«) sowie »Das karmesinrote Blütenblatt«. Sein Roman »Das Buch der seltsamen neuen Dinge« wurde vom »New Yorker« als eines der besten Bücher des Jahres bezeichnet, in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und war ein internationaler Bestseller.
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Hörst du, was ich höre?
Ein Tusch! Ich habe Tinnitus. Er stellte sich 2017 ein, als ich dieses Buch zu schreiben begann. Jahrzehnte waren vergangen, seit ich die lautesten Konzerte meines Lebens besucht hatte: The Birthday Party 1983 in Melbournes Seaview Ballroom, nach dem meine Ohren noch tagelang dröhnten, oder The Young Gods 1992 im Sarah Sands Hotel, das die Fenster klirren, die Wände beben und das Dach fast abheben ließ. Mein Tinnitus klopfte aber plötzlich an der Tür, als ich allein zu Hause saß. Die Vorstellung, eine CD einzulegen und Musik zu hören, war mir der reinste Horror. Selbst wenn ich die Lautstärke auf ein Säuseln reduziert hätte, empfand ich den Akt des Hörens zu diesem Zeitpunkt als pure Vergewaltigung. Leute, die mich gut kennen, werden einstimmig bestätigen: Wenn ich freiwillig auf Musik verzichte, muss ich irgendwie krank sein. Doch keine*r meiner Freund*innen war in der Lage, den Staub zu entdecken, der sich damals auf meiner Stereoanlage bildete. Ich war allein in der Wohnung – nur ich und mein Tinnitus. Die Ursache? Möglicherweise der Nervenzusammenbruch, den ich gerade überstanden hatte. Vielleicht waren es aber auch die scharfen Gegenstände, die ich in meine Gehörgänge steckte, um sie vom Schmalz und dem damit verbundenen Juckreiz zu befreien. Wie dem auch sei: In einem Monat war ich ein menschliches Wesen, in dessen Kopf friedvolle Stille herrschte (vorausgesetzt, er wurde nicht gerade von externen Reizen beansprucht), um im nächsten Monat zu einer gemarterten Kreatur zu mutieren, die konstant einen schrillen Ton zu hören glaubt, der für andere Personen unhörbar bleibt.6 Sechs Jahre später ist der Ton noch immer mein ständiger Begleiter. Wenn du willst, kannst du dich gerne neben mich setzen und dein Ohr an meinen Kopf drücken. Vielleicht hörst du, wie meine Lungen die Luft durch meine Nase einsaugen – vorausgesetzt, du wirst nicht durch deinen eigenen Atem abgelenkt. Was du aber nicht hören wirst, ist dieses eigentümliche metallische Kreischen. Es erinnert mich an die Bremsen eines Zuges, der langsam das Tempo drosselt, aber nie zum Halt kommt. Dieser Sound gehört mir ganz allein. Ich kann das Klingeln in meinen Ohren noch verstärken, indem ich meinen Unterkiefer nach vorne schiebe. Diese Beobachtung erinnert mich daran, dass meine Ohren aus Knochen, Muskelfleisch, Haaren und Membranen bestehen und ihre Struktur verändern, sobald ich eine Grimasse schneide. In vorwissenschaftlichen Zeiten galt das Ohr als ein magischer Empfänger, der externe Geräusche registriert und irgendwie weiter ins Hirn leitet. Wir gingen davon aus, dass diese Klänge bereits in der Welt existieren und dann, wenn sie durch die seitlichen Schlitze unseren Schädel passieren, in der Zentrale sachgerecht identifiziert und interpretiert werden. Die Realität sieht ein wenig anders aus. Die Welt ist von Natur aus lautlos und stumm. Wenn ein Baum umfällt, eine Bombe explodiert oder eine Violinistin pizzicato zupft, wird die Luft in unterschiedlicher Weise in Schwingungen versetzt. Die atmosphärische Ausgangsposition wird durcheinandergewirbelt und erreicht in einem veränderten Zustand dein Ohr. Wir erledigen dann den Rest. Unser Gehör ist nichts anderes als ein musikalisches Instrument. Genau genommen ist unsere Ohrtrommel genauso aufgebaut wie die Trommel, die ein Schlagzeuger spielt. Die Welt spielt uns. ? ? ? Das wiederum hat enorme Konsequenzen für die Art und Weise, wie wir Musik wahrnehmen. Schieb deinen Unterkiefer nach vorne. Hörst du ein Klingeln in deinem Hirn? Wenn nicht, ist dein Hirn ein anderes Instrument als meins. Es gibt in der Bevölkerung nicht nur die unterschiedlichsten Kopfformen, sondern auch verschieden gestaltete Ohren und endlose Variationen eines Hirns, das in der Zerebrospinal-Flüssigkeit schwimmt, die der Volksmund auch als Hirnwasser kennt. Man kann mit einigem Fug und Recht vermuten, dass alle Musikrezeptoren leicht unterschiedliche Geräusche generieren, wenn sie von der Welt gespielt werden. Aber du wirst diese Frage nie mit endgültiger Sicherheit klären können, weil du immer von der Annahme ausgehst, dass du das Gleiche hörst wie die Person neben dir. Natürlich könnte man vermuten, dass es ein grundlegendes Design geben muss, nach dem alle Hirne funktionieren. Wir sind schließlich eine spezifische Gattung der Primaten – und nicht die direkten Nachkommen von Insekten oder Schalentieren. Der Standardisierung sind aber auch natürliche Grenzen gesetzt. Einige unserer Ahnen kamen von Produktionsstätten in Asien, andere aus Afrika oder Skandinavien. Wir sind alle handgemacht und organisch einwandfrei. Vorgefertigte Einzelteile oder artifizielle Substanzen sind tabu. Man stelle sich acht Milliarden Gitarren vor, die händisch hergestellt wurden, allerdings in 195 verschiedenen Produktionsstätten, die alle auf ihre lokalen Materialien zurückgegriffen haben. Ein identisches Endprodukt ist illusorisch. Du solltest also mit der Tatsache leben lernen, dass du eine andere Gitarre bist. Möglicherweise eine gänzlich andere Gitarre. ? ? ? Mein Gehör war einmal ausgezeichnet. Womit ich nicht behaupten will, brillantere Ohren gehabt zu haben als Brian Wilson, der nur ein funktionierendes Ohr besaß, als er »God Only Knows« aufnahm. Auch mit der überragenden Perkussionistin Evelyn Glennie möchte ich nicht konkurrieren, zudem Glennie im Lauf ihrer ganzen Karriere hochgradig schwerhörig war.7 Ich wollte damit nur festgehalten wissen, dass zu der Zeit, als ich vom Fließband lief, noch alles in Ordnung war und die elementaren Einzelteile an ihrem richtigen Platz saßen. Wenn wir älter werden, gehen uns für gewöhnlich zunächst die oberen Teile des Spektrums verloren. Schrille Töne im Hochfrequenz-Bereich werden schlicht und einfach nicht mehr registriert. Seit ich in meinen Fünfzigern bin, drehe ich den Höhenregler meines Verstärkers immer voll auf – eine Unsitte, die mir in früheren Jahren hochgradig suspekt gewesen wäre. Aber was will man machen? Das jüngere Ich hat sich nun einmal frühzeitig verabschiedet.8 Ich bin, ich gebe es zu, inzwischen schon ganz schön alt – sieben Jahre älter als Beethoven, der 56 war, als er starb. Im gleichen Alter verließen uns Rick James, Ranking Roger, Warren Zevon, Denise Johnson von Primal Scream, Grant Hart von Hüsker Dü sowie David R. Edwards, der Kopf von Datblygu, meiner liebsten Band aus Wales. Noch früher dran waren Tschaikowsky (53), Mahler (50) oder Robert Johnson (29). Niemand von ihnen starb an einer Überdosis oder wurde ermordet. Man muss einfach zur Kenntnis nehmen, dass einige dieser Milliarden Gitarren, die vom Fließband kommen, unbemerkt durch die Qualitätskontrolle schlüpften. Positiv lässt sich festhalten, dass keine*r dieser Musiker*innen – Beethoven ausgenommen – frühzeitig mit einem partiellen Hörverlust leben musste. Und – Tusch! – mit keinem Tinnitus. ? ? ? Ist Tinnitus unerträglich? In einigen Fällen trifft das vermutlich zu. Die Worte, die Patient*innen beim Beschreiben ihres Leidens wählen, sprechen eine deutliche Sprache: »Verzweiflung«, »Qual«, »Invalidität«, »Lähmung« und »Selbstmordgedanken« können einem schon Angst machen. Die Belege für eine Verbindung zwischen Tinnitus und Selbstmord sind indes dürftig. Die Geschichte des Mannes, der gleich vom Hochhaus sprang, nachdem ihm ein Arzt keine Hoffnung auf Heilung machte, gehört wohl eher ins Reich der urbanen Mythen. In den meisten Fällen lernen wir mit wachsendem Alter, eine größere Toleranz für die deprimierenden Defizite unserer Ohren (und Augen, Gelenke, Zähne oder Genitalien) zu entwickeln. Alternativen gibt’s eh nicht. Und trotzdem häufen sich die Tage, an denen mir der Wunsch, den Lärm in meinen Ohren einfach abzuschalten, schmerzhaft bewusst ist. Es ist letztlich eine Frage des gegenseitigen Einvernehmens: Ich höre durchaus gerne Musik – von Pan Sonic etwa oder den Einstürzenden Neubauten –, die mit Geräuschen arbeitet, die meinem Tinnitus nicht unähnlich sind. Aber es ist meine Entscheidung, diese Musik zu einem bestimmten Zeitpunkt zu hören. Während mich der Tinnitus nie um Erlaubnis fragt, ob er mich mit seiner schrillen Sirene belästigen darf. Er folgt mir sogar aufs Klo. Und kriecht abends zu mir ins Bett. ? ? ? Ein überraschender Aspekt der Krankheit ist der, dass es andere Geräusche sind, die eine Linderung versprechen. Eine populäre Behandlungsmethode ist der »Tinnitus Masker« – eine Form der Audio-Berieselung, die Patient*innen als »Wind in den Bäumen« oder »Wasserfall« beschreiben. Da ich persönlich keinen Wasserfall hören mag, wenn ich nicht gleich neben einem stehe, bevorzuge ich lieber Musik. Einige Künstler und Künstlerinnen – wie die bereits erwähnten Pan Sonic – benutzen Frequenzen, die denen des Tinnitus nicht unähnlich sind. Andere – wie in der akustischen Folkmusik oder manche Solopianist*innen – tun das genaue Gegenteil. Für mich macht das kaum einen Unterschied. Was mir hilft, ist nicht ein spezifischer Stil oder eine spezifische Frequenz, sondern die Konzentration, mit der ich Musik höre. Vielleicht liegt es daran, dass ich gerade mit neuen, faszinierenden Hörerlebnissen konfrontiert werde,...