Ein Offenbarungsroman
E-Book, Deutsch, 258 Seiten
ISBN: 978-3-7565-2995-7
Verlag: epubli
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Theodor Etzel (auch: Theodor Schulze-Etzel, Pseudonyme für Theodor Schulze, * 9. Januar 1873 in Gelnhausen; ? 3. September 1930 in Bad Aibling) war ein deutscher Schriftsteller.
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Der Weg der Wunder
1. Als ich erwachte, glitzte weißes Frühlicht und eine Amsel sang. Von meinem Bett gesehen rahmte das offene Fenster ein leuchtendes Bild: des Sommertags Geburt. er Rampe wiegte sich auf dem Spitzensaum des fernen Fichtenwaldes die junge Sonne, in Nebeldunst geschleiert, gleich einer träumerischen Tänzerin in Silberseide. Da fuhr ein dunkler Sprung ins lichte Bild. Mein schwarzes Kätzchen setzte wie gehetzt aufs Fensterbrett und mit steuerndem Schweif hinab in den Garten. »So eilig und so untreu heute, Quark?« Der erste Morgen, dass es mein Erwachen nicht zart beschnurrte und mein Kinn nicht küsste. Ich wollte mich noch des Traums erinnern, der mich — so schien es mir — dem Schlaf entrissen. Es war ein Schreck und Schmerz gewesen und bebte peinlich nach. Mehr fand ich nicht von ihm zurück. Er war durch meinen Blick ins Licht verdunkelt. Ich warf das Nachweh ab und freute mich der Sonnenfrühe. Welch schöner Tag stieg mit mir auf! Ich wollte mich in ihm genießen und weilte nicht und rüstete mich, in die Berge zu gehen. Ich hatte ein eigenes Ziel für diese Wanderfahrt — ein Ziel zu sonderbarer Tat. Als ich aus Haus und Garten auf den holprigen Fahrweg trat, der in den nahen Bergwald führte, stand entschleiert die Sonne am Himmel, indes so nahe noch dem Erdensaum, dass die Stangenschatten des Gartenzauns zu übertriebener Länge verzerrt quer über den Weg ins Weideland stießen. Meinen eigenen Schatten fand ich nicht. Als sei die Sonne noch nicht stark genug, auch Lebendes zu zeichnen, *** Bald schritt ich zwischen Tann und Laub bergan. Das steigende Licht bestrahlte durch alle Baumlücken den Weg und bewegte das Leben. Goldgrüne Sandkäfer liefen dahin und purzelten in tiefe Wagenspuren. Nebenan bei den Stämmen wimmelten rotbraune Ameisen um ihre hohen Nadelburgen. Die kleinen Vögel sangen und ließen leichte Zweiglein wippen und waren fleißig bei Arbeit und Kunst. Im blauen Himmel schwamm ein Falke, und Krähenschwingen blitzten wie spiegelnder Stahl. Alles vereinte sich im frischen Morgenduft zu einem sprühenden und doch erquickend friedevollen Bild. Ein Wohlgefühl von ungekannter Akt — obgleich mir solch ein Gang durch Morgenwald nichts Neues war — erhob mich über alle Last und Enge. Da horch, ein Kuckuck! Er war nicht weit. Vorsichtig schlich ich bis zum Baum, auf dem der scheue Schreier saß. Ich sah ihn rufen. Wie oft, als Knabe, hatte ich die alte Frage an den Gauch gestellt, an den Propheten. Und hatte er auch jedesmal eine andere Antwort gegeben, war doch dem Knaben jedesmal todernst dabei. Mit welchem Bangen zählte er die Rufe! Nun fiel mir jenes Kindersprüchlein wieder ein, und ernst wie damals fragte ich leise: »Kuckuck, Kuckuck, sag mir doch. Wie viele Jahre hab’ ich noch?« Mitten in meinem Verslein hielt der laute Vogel inne. Er schwieg beharrlich. Ich drückte mich hinter den dicken Stamm und wartete. Steif saß der Kuckuck droben im Geäst und schwieg. Bald flog er stumm davon. Ich hörte ihn nicht wieder. Mehr als etwa an ein Sterben war ich durch das missglückte Spiel und manches, das ich ferner mit Sinnen fing und mit Gedanken formte, an das Leben erinnert, an das wirkende Leben. An das durch seine Wunderfülle unsagbar schönheitsreiche Leben, das zwar dem Sinn und Geist des einzelnen Lebendigen nur rollende Körnchen wies und gab und doch mit solcher Winzigkeit selbst das geringste Wesen zum Schöpfer einer Eigenwelt erhöhte. Kein anderes von Milliarden Wesen glich mir nur einen Atemzug. Und selbst ein gleiches Ding, in meine und in eines Anderen Welt gefügt, war immerfort verschieden — ein Tausendding. Was war dem Kuckuck sein Ruf? Was mir? Was war dem Wild sein Wald? Was mir? Was dir? — Was wäre — zur selben Zeit und Stelle — einem mir leiblich oder geistig Nächstverwandten ein Schritt, ein Blick, ein Gedanke mit mir? Kein Gleiches! Nichts gab es mehrfach oder wiederholt, alles war einzig. Kein Gleiches, keine Gleichung — nur etwas Gleichnis. Und wenn es auch Verstand gab und Verständnis, so war doch kein Verstehen. Weil unerschöpflich reich die Schöpfung und unaufhaltsam schöpferisch ein jedes Ich. »Du Einziger!« rief ich mir zu. »Du Wunder Mensch! Sei still, sei still! Du engst, wenn du verstehen willst, dein Schöpfertum. Gib ihm den Namen Glück und lass es walten.« Gedanken, die sich oft in mir gemessen und verglichen hatten, schienen sich heute zu versöhnen. Mir war so frei wie einem Sieger, der starken Frieden fand nach gut bestandenem Kampf. Und wie ich nun durch Sonnenfreude den breiteren Kammweg ging, der meilenweit, nur wenige Holzwege zu den Dörfern hinunterzweigend, über den Bergrücken zog, ersann ich mir ein kleines Lied für das, was mich erfüllte, und sang es froh heraus — und blieb betroffen stehen: der Überschwang erschien mir ungesund: ekstatisch wie ein unbeherrschter Traum, wirr wie ein zügelloser Wahn. Ein Schreck von außen kam hinzu. Zur Seite im Gebüsch erschallten Schritte. Das Altlaub raschelte, und Dürrholz knackte. Doch nein — es war kein Mensch, der mich belauschte. Ein Reh trat vor, nah bei dem Birkenbusch, hinter dem ich mich eilig versteckte. Ein kapitaler Sechserbock mit rau geperlten Rosen — nach Waidmannsworten. Er äugte rechts und links den Weg entlang. Ihm konnte mich, ganz abgesehen von der Witterung, das dünne Birkchen nicht verbergen. Doch zeigte er keine Furcht, zog auf mich zu und zupfte am Busch. Ich erstarrte und hielt mich stumm, den Blick auf das Gehörn gebannt, das fast meinen Arm berührte. Plötzlich zuckten die Lauscher, der Rehbock sicherte und flüchtete ins Gehölz zurück. Zugleich vernahm ich fernher Räderknarren und Peitschenknall. Vor diesen fernen Lauten war das Tier in tiefer Scheu vor Menschennähe geflohen; dicht mir zur Seite hatte es sorglos geäst, als sei ich ungefährlich. Ich trat hinter dem grünen Schirm hervor und ging nachdenklich weiter. Bald begegnete ich dem erwarteten Fuhrwerk. Den beiden auf der Holzladung hockenden Männern rief ich den Morgengruß zu. Sie pafften aus ihren Deckelpfeifen und blinzelten gleichgültig in die sonnige Luft. Doch keiner sah mich an, keiner gab Gegengruß. 2. Als die Sonne schon hoch am Himmel stand, kam ich an einen Pfad, dessen Eingang von einer mächtigen Buche beschattet war. Am Stamm war eine Holztafel befestigt. Die regenverwaschene Aufschrift hieß: Zum grauen Turm. Darunter wies ein Pfeil in den steigenden Waldweg hinein. Für mich ein kleiner Umweg, der sich lohnte. Bald saß ich droben im Zinnenkranz des Aussichtsturms, und meine Blicke nahmen wie Schwalbenschwingen die Weite. Grüne, graue und blaue Wogen von Wald — lichte und düstere Felsenformen Weit hinaus über Kuppe und Schlucht ein fleckiges Dörfchen in Felderstreifen, Baumketten und Wiesen. Und fern Südost stieß aus dem Einschnitt zwischen zwei Höhen der gotische Klosterturm von Hübel spitz in des Himmels Silberrand. Dort in Hübel war es gewesen, wo sich mir vor einigen Wochen im Flackerschein der Feuersbrunst die Schandtaten vom Annenfels enthüllt hatten. Nun war mein Wille und das Ziel meiner Fahrt, dem Frevel langer Jahre ein Ende zu bereiten. Recht wie ein Ritter gegen einen Landschreck zog ich dahin. Und wie ich den Racheplan, den ich mir schon in jener Brandnacht ausgedacht, nochmals übersann, blieb ich dabei, dass er gut sei und dass ich ihn ausführen könne, ohne das versprochene Schweigen zu brechen. Auf Förster Rohland, den einzigen, dem ich, um seine Hilfe zu gewinnen, Aufklärung geben musste, durfte ich vertrauen. Anderen Helfern, etwa dem Konrad und einem Bergmann oder Steinbrecher, der sich aufs Sprengen verstand, waren wir keine Rechenschaft über unser Tun schuldig. So würde ich Barbaras ängstliche Vorschrift, an die sie mich in ihrem Brief nochmals gemahnt hatte, ehrlich beachten und dennoch das Schandwerk aus der Welt schaffen können. Ich griff in plötzlicher Besorgnis, ob ich den gestern empfangenen Brief nicht etwa zu Hause liegen gelassen hätte, in die Tasche. Er fand sich vor. Ich entfaltete das Blatt und las noch einmal die plumpen Zeilen der Kellnerin: »… Jetzt dürfen Sie es machen, aber denken Sie daran, was Sie mir versprochen haben, dass mein Namen nicht ins Spiel kommt. Es darf nichts rauskommen davon. Ich hätte es sonst bei meiner Seele nicht verraten, weil ich hab schwören gemußt beim Kreuz vom Herrn Jesus. Sie sind der Einzige, sonst darf es keiner wissen mein Lebtag nicht …« Nein, ich durfte nicht säumen, den Drachen unschädlich zu machen. Bei meiner Ritterehre: der morgige Tag gehörte der Tat! Noch heute konnte ich Forsthaus Eichkron erreichen und mit dem Förster mein Vorhaben besprechen. Ich steckte den Brief wieder ein. Doch wozu bedurfte ich seiner noch? Mein Wort verbot mir, Gebrauch von ihm zu machen. Um jeder Versuchung aus dem Wege zu gehen, zog ich das Blatt nochmals hervor, zerriss es in eine Handvoll winziger Stückchen, deren jedes nur wenige Schriftzeichen trug, und schleuderte das lockere Häuflein vom Turm hinunter. Das Erdwärtstreiben der kleinen weißen Fetzen zu beobachten, bog ich mich über die Brüstung. Doch welch verblüffender Trug: Ich sah nicht eines von den vielen Teilchen wieder! Ein Zauberkünstler hätte das Verschwinden nicht besser spielen können. Scharf wie ein Vogel spähte ich aus und konnte doch nichts mehr...