Ette / Strehlow | Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 220 Seiten

Ette / Strehlow Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung

Fragen an Heiner Müller

E-Book, Deutsch, 220 Seiten

ISBN: 978-3-95749-371-2
Verlag: Theater der Zeit
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Marx zufolge ist die menschliche Geschichte Fortschritt, der durch Klassenkämpfe vorangetrieben wird. In den Stücken Heiner Müllers verhält es sich fast umgekehrt: Die sich verschärfenden Klassenverhältnisse sind hier ein Motor des möglichen Untergangs der Menschheit. Im 21. Jahrhundert ist der Zusammenhang von Klassenverhältnissen und einer umfassenden Selbstzerstörungstendenz der global kapitalisierten Menschheit aktueller denn je. "Klassengesellschaft reloaded" lotet diese beiden Komplexe – Klassismuskritik und Gattungssuizid – sowie ihr Verhältnis zueinander im Kontext des Werkes von Heiner Müller aus.

Der Band geht auf eine Tagung zurück, die 2019 von der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin ausgerichtet wurde, und dokumentiert Vorträge, Gespräche und Diskussionen.
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Weitere Infos & Material


Vorwort: "Ein besseres Haus" (Falk Strehlow), Klassenkampf und Naturgeschichte (Wolfram Ette)
von Wolfram Ette und Falk Strehlow / Seite 7

Heiner Müllers Bauern
von Sandra Fluhrer / Seite 18

"Und wenn du wissen willst, wer hier Dein Herr ist, kauf dir einen Spiegel"
von Falk Strehlow / Seite 46

"Wenn der Preis der Revolution die Revolution ist"
von Christian Meyer / Seite 69

Klassenkampf ist noch immer Arbeit gewesen
von Helen Müller / Seite 89

Kleiderständer der Geschichte
von Andrea Geier / Seite 107

Selbstmord der Gattung
von Wolfram Ette / Seite 124

The Redundancy
von Sarah Pogoda / Seite 139

"Warum zertrümmert ihr das Fundament?"
von Hartwig Albiro, Janine Ludwig und Carena Schlewitt / Seite 170


Vorwort
»Ein besseres Haus«
»Das Proletariat ist keine Position der Unschuld, sondern die Auflehnung gegen die Tatsache, dass es im Kapitalismus keine Unschuld gibt«, schreibt Luise Meier 2018 in ihrer MRX-Maschine.1 So wie bei Meier das »Proletariat« zwar von Marx aus gedacht wird, aber in konsequent erweiterten Referenzfeldern agiert, so wird es auch bei Müller auf die Dynamiken von Vergangenheit und Zukunft, von sozialistischem Realismus und Mythologie, von Ökonomie und Gemeinschaft, von Leben und Sterben auf bewohnbarer Erde – auf die Dynamiken von Ich und Wir – erweitert und ebenso mit Unreinheit und Schuld attribuiert. (Nichts hat Heiner Müller mehr gehasst als die Idee der Unschuld.) Wenn es in dem vorliegenden Tagungsband um die auf Müllers Bühnen auftretende »Klasse« geht, so kann es nur sowohl um ihre ›schmutzigen Hände‹ als auch um ihren historisch-fragwürdigen ›Auftrag‹ gehen. Doch vor allem richten wir hier unseren Blick auf die Frage: Was ist das: Klasse? Fast drei Jahrzehnte bevor der Begriff der »Intersektionalität« – der mehrdimensionalen Diskriminierung – geboren wird, stellt Heiner Müller die Interdependenzen und Überkreuzungen von Herkunft, Geschlecht und Eigentum auf die Bühne. Gleich drei dieser sich überkreuzenden und verstärkenden Formen des Anders-Seins in einem männlich paternalisierten »Leben auf dem Lande« trägt sein Stück von 1961 bereits im Titel: »Die Umsiedlerin« – nicht von hier ÷ Frau ÷ besitzlos/(noch) ohne Boden (und schließlich auch noch schwanger). Das sind die sich multiplizierenden Eigenschaften dieser prototypisch-›fremden‹ Heiner-Müller-Figur NIET. Von nun an werden die Wechselwirkungen unterschiedlichster Faktoren von Aus-Grenzung Müller nicht mehr loslassen. Einige wenige Titel, Figuren und Chiffren sollen hier umreißen, in wie vielgestaltiger Weise diese miteinander verwickelten Faktoren in seinem Werk agieren und ein multisektional verwobenes Textil des Ein- und Ausschließens hervorbringen: PHILOKTET, der den Maximalwert von Krieger und Körperdefekt gleichzeitig figuriert, wird zur Störgröße in einer auf reibungslose Kriegsführung getrimmten Gemeinschaft und (bis auf weiteres) auf einer Insel entsorgt. In Inge und Heiner Müllers Weiberbrigade/Weiberkomödie werden Geschlechterdifferenz und (Arbeiter-)Klassenbezug überkreuzt, so dass die (vermeintliche) Überwindung der Klassengrenzen in einem ›Einklassenstaat‹ mit der (vermeintlichen) Überwindung der Geschlechtergrenzen korreliert; Emanzipation tritt hier als multifaktorieller Vorgang in Erscheinung. Zement ist ein Revolutionsstück: Müller parallelisiert die historische Revolution von 1917 mit der Revolution des Familienlebens; der wahre Held dieses Revolutionsstückes ist derjenige, der sich von dem privaten Eigentumsanspruch des historischen Helden emanzipiert – er ist eine Sie. Der Auftrag führt uns mit seinen Intermedien schmerzlich vor Augen, wie Rassismus, Sklaverei und Kolonialismus – wie eine das Kapitalozän bestimmende Klassendynamik – mit der Auftrags-Lage des Heute, Hier und Morgen verstrickt sind. Müllers Medea-Komplex zeigt auf, wie sich die Abhängigkeiten von Herkunft, Gesellschaft und Klasse mit der Geschlechterabhängigkeit verschränken. Und so ist auch das Schlussbild in Müllers Hamletmaschine eine Allegorie für diese polyvalent wirksamen Behinderungen: »Ophelia im Rollstuhl«, die von »zwei Männern in Arztkitteln […] in Mullbinden«2 gefesselt wird. Des Weiteren gehören die folgenden Müller’schen Paradigmen hierher: »Prinzip Auschwitz« (in seinen Gesprächen nach 1989), »Ich bin ein Ausländer« (über die Zeit vor der Befreiung vom deutschen Faschismus) sowie seine »Dankrede des Büchner-Preisträgers« Die Wunde Woyzeck (adressiert an seine Preisverleiher in Darmstadt 1985). All diese Ausdrucksformen veranschaulichen, welche Durchdringungen und Überlagerungen bestehen zwischen ökonomischer Klasse, Ethnizität, Geschlecht, »Rasse«/Hautfarbe, generationeller Abhängigkeit3, Soziotop, geopolitischer Herkunft, Bildungshintergrund, Weltanschauung, Habitus, kulturtechnischer Konditionierung etc.; zudem machen diese Verflechtungen vor allem eines deutlich: dass die Engführung des Begriffs der Klassen auf ihre ökonomische Bestimmung die Wirksamkeit von Klassismus keineswegs bekämpft, sondern sein Wirken noch begünstigt. Denn so wie Andreas Kemper und Heike Weinbach in ihrer Einführung zum »Klassismus«-Begriff 2009 darlegen: »Die Reduktion von ArbeiterInnen-, Arbeitslosen- und Armenbewegungen auf ökonomische Diskurse ist eine Strategie der Einpassung in die kapitalistischen Verhältnisse.«4 Bei seinen Literarisierungen von Abhängigkeiten richtet sich Müllers Blick auf den jeweiligen Zusammenhang aus Grund und Folge; vielfältige Grundierungen seines Denkens sowie ein Weiter- und Immer-weiter-»Denken« hinein in einen noch »leeren Raum«5 halten den Text – das Textil – zusammen: Heiner Müller befragt einen Zusammenhang aus Abhängigkeitsverhältnissen, der sich durch den neoliberalen Spin seit den 1970er-Jahren als ein Auseinander-Hang performt. Müller sucht einen Zusammenhang zu veranschaulichen, der sich aus einer Denktradition speist, die bei August Bebel, Clara Zetkin, Rosa Luxemburg ihren Anfang nimmt, die von Angela Davis zu Mumia Abu-Jamal und (bei all den Diffamierungen und Instrumentalisierungen) bis zur Bewegung der »Gelbwesten« reicht. Dieser Zusammenhang ist kein additiver; er stellt sich als Multiplikation her. Mit den Überschriften heutiger emanzipatorischer Bewegungen ließe sich – im Sinne von Heiner Müller – sagen: Black Lives Matter × Working Lives Matter × Female Lives Matter × Foreign Lives Matter × Sick Lives Matter × Future Lives Matter (nicht nur am Freitag oder auf einem Selfie mit Greta Thunberg) × Poor Lives Matter × LGBTQIA* Lives Matter × Children’s Lives Matter × Refugees’ Lives Matter × Handicapped Lives Matter × Homeless Lives Matter × Violence victims’ Lives Matter … Human Lives Matter. Die von der Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe unlängst ausgesprochene Forderung hinsichtlich der »Errichtung einer neuen Hegemonie […, der] Radikalisierung der Demokratie« besteht in der »Knüpfung einer Äquivalenzkette zwischen den Forderungen der Arbeiter, der Einwanderer und der vom Abstieg bedrohten Mittelschicht sowie anderer demokratischer Forderungen, etwa derer der LGBT-Gemeinde.«6 Um diese Verknüpfung zu ermöglichen, bedarf es einer Kenntlichmachung der wirkenden Klassendynamiken. Die Kenntnis dieser Dynamiken ist die Grundlage der »Verankerung in dieser Kette«7. Das »Knüpfen« einer »Kette« ist nur wirksam als ein ineinander Verwoben-Sein; eine separierende Aneinanderreihung bringt da gar nichts. Die Verknüpfung – oder um ein altmodisches Wort zu gebrauchen: die Solidarität – der »Ketten«-Glieder untereinander kann nur gelingen, wenn die ineinander verflochtenen Klassendynamiken nicht aus dem Blick geraten. Der Klassen-Begriff führt zu einer Sichtweise, die das Verhältnis zwischen struktureller Überlegenheit/Übermacht und Knechtung/Erniedrigung/Unterdrückung kenntlich macht; diese Perspektive verhandelt das Verhältnis auf der vertikalen Achse von unten und oben. So läuft die Betrachtung nicht Gefahr, einer momentan wirksamen Tendenz zu erliegen, welche die Wahrung der Interessen einzelner Gruppen mehr und mehr oben aushandelt. Klassismus – Vorurteile und Diskriminierungen aufgrund sozialer Klassen – ist ein Vorgang, der sich wesentlich gegen ›niedrigere‹ Klassen, also von oben nach unten, auswirkt. Somit richten sich Anti-Klassismus-Bestrebungen gegen die Entwicklung der letzten Jahrzehnte, in denen sich das Eintreten für unterschiedliche Interessen aus der Vertikale in die Horizontale verschoben hat.8 Karl Marx und Friedrich Engels formulierten in ihrem Manifest den Klassen-Auftrag folgendermaßen: PROLETARIER ALLER LÄNDER VEREINIGT EUCH! Heiner Müller erweitert diesen Auftrag in seinem Theaterstück Der Auftrag drastisch, superlativisch, provokativ; dort heißt es in einer für Müller typischen Deutlichkeit: »Neger aller Rassen …«9 Immer wieder macht Müller mit drastischen Formulierungen auf einen Handlungsbedarf aufmerksam – einen Handlungsbedarf in einer Welt, in der man die Dritte Welt als »globalen Süden« bezeichnet, in der der Kriegsminister »Verteidigungsminister« genannt wird, einer Welt, in welcher derjenige, der seine Arbeit gibt, als »Arbeitnehmer«, und derjenige, der sich die...


Wolfram Ette ist Privatdozent für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der LudwigMaximilians-Universität in München.

Falk Strehlow ist Literaturwissenschaftler, Autor und Dramaturg sowie Mitarbeiter der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft.


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