Vom Umgang mit einem sehr deutschen Gefühl
E-Book, Deutsch, 136 Seiten, Format (B × H): 145 mm x 205 mm
ISBN: 978-3-96317-888-7
Verlag: Büchner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Vorbemerkung
1 Das Grimm´sche Märchen
Das eigensinnige Kind
Der Zirkel
Die Hand
Wer töten kann
Das Kippbild
Über Lebende und Tote
Präsozial
Es ist nur zu Deinem Besten
Nichts ist, wie es sein soll
Ungerührt
Am Grab
Eigensinn
Was fehlt
Postsozial
Die Form ist die Botschaft
Variationen I
2 Unterdrückung und Eigensinn
Vom Dagegen zur Selbstoptimierung
Herrschaft und Knechtschaft / Requiem
Sich ins Verhältnis setzen
Variationen II
3 Von den Anfängen
Chor der Schwangeren
Es ginge auch anders
Von der Erbsünde
Gottgleich
Autonomie
Todesangst und Todeslust
Variationen III
4 Schwarze Pädagogik
Über Erziehung
Zappel-Philipp: Die Gewalt gebiert das Scheitern
Die Haarer ist schuld
Selbstbefragung
5 Lebensläufe
Krieg und Eigensinn
Der Vater
Das Geheimnis
Altersstarrsinn
Next Generation
Dialektik der Zwangsjacke
Pflegeleicht
Über Ironie
Die Höhle
Die Hand II
Attention addicts
An den Zitzen der Wirklichkeit
Variationen IV
6 Eigensinn und Gesellschaft
Schuldangst
Aufmerksamkeitsdefizit
Identität und Geborgenheit
Erziehung zum Eigensinn
Eine Welt voller Feindseligkeiten
Unendliches Begehren
Über Trennung und Verbindung
Zum Ende
Textnachweise
Kapitel 2
Unterdrückung und Eigensinn
Vom Dagegen zur Selbstoptimierung
Neben der im engeren Sinne philosophischen Auseinandersetzung mit dem Eigensinn (zu Hegel vgl. den nächsten Abschnitt) finden sich in Deutschland im Wesentlichen zwei Traditionslinien für die Bedeutung des Wortpaares Eigensinn/eigensinnig. Die ältere, im allgemeinen Sprachgebrauch auch heute noch durchaus dominierende, assoziiert Eigensinn mit Begriffen wie Dickköpfigkeit, Eigenwilligkeit, Einsichtslosigkeit, Starrsinn, Sturheit, Trotz, Ungehorsam, Verbohrtheit, Verstocktheit, Widerborstigkeit oder – übersetzt in die Sprache des Märchens – damit: nicht zu tun, was andere haben wollen. So nennt etwa das »Damen Conversations Lexikon« von 1835 den Eigensinn eine übertriebene Beharrlichkeit, eine Folge der Schwäche, ein Kind der Laune, jedenfalls aber ein[en] Fehler, den man namentlich an geliebten Personen oft übersieht, aber nie billigt. Auch »Meyers Großes Konversations-Lexikon« von 1906 lässt keinen Zweifel daran, dass das, worauf der oder die Eigensinnige beharrt, immer das Falsche ist. Eigensinn, so heißt es da, sei das hartnäckige Beharren bei einer Meinung oder einem Streben, aus keinem andern Grunde, als weil es die oder das eigne ist, obgleich durch einleuchtende Gründe das Irrige und Verkehrte derselben nachgewiesen ist. Interessant an dieser zweiten Bestimmung gegenüber der ersten ist, dass hier schon »das Eigene« mithineinkommt, das wenig später, in der zweiten Traditionslinie ganz und gar bestimmend wird. Sie reicht von Hermann Hesse bis zu den unzähligen Coaching-Websites, die ihn bis heute begeistert zitieren. Eigensinnig zu sein (oder zu werden) ist dort gerade kein Charaktermangel, kein falsches Beharren mehr, sondern Instrument der individuellen Selbstentfaltung. Es bedeutet, sich selbst treu zu bleiben (oder es zu werden), sich um Gesetze und Meinungen anderer nicht zu scheren, sondern allein sich selbst verpflichtet zu sein. Wer eigensinnig ist, gehorcht einem anderen Gesetz, einem einzigen, unbedingt heiligen, dem Gesetz in sich selbst, dem »Sinn« des »Eigenen«, schreibt Hesse 1917. Das hat, besonders in der Form heutiger Selbstoptimierungsprosa, aber zuweilen auch schon bei Hesse selbst, einen durchaus antisozialen Touch, geht es doch immer darum, die eigene Selbstverwirklichung, die eigene Freiheit voranzutreiben, notfalls auch auf Kosten der anderen, jedenfalls nie mit ihnen gemeinsam oder für alle. In diesem Sinne markiert das Lob des Eigensinns auch das Scheitern sozialer Utopien und den damit verbundenen Rückzug ins Private. Historisch ist es deshalb kein Zufall, dass der positiv gewendete Begriff des Eigensinns mit dem Siegeszug des Neoliberalismus seit Mitte der 1980er-Jahre eine immense Konjunktur erlebt, ohne freilich die frühere Bedeutung im allgemeinen Sprachgebrauch völlig verdrängt zu haben.7 Im Gegenteil: Das positive Potenzial des Eigensinns, seine standhafte Unerschrockenheit und furchtlose Souveränität speisen sich geradezu aus dem Widerstand gegen das Nichtzugestandene, aus dem vermeintlich oder tatsächlich Mühsam-erkämpft- oder Ertrotzt-werden-müssen. Dabei ist Eigensinn, allen positiven Aspekten des Antikonformismus und der individuellen Souveränität zum Trotz, auch das Gegenteil von Gemeinsinn. So gegensätzlich beide Traditionslinien den Begriff konnotieren – was schon insofern beachtenswert ist, als mir kein anderer Begriff einfällt, bei dem zwei so radikal unterschiedliche Wertungen über einen so langen Zeitraum simultan Bestand haben –, so sind sich beide an einem Punkt ausgesprochen nah. Hesse setzt ja nicht zufällig beide Begriffe in Anführungszeichen, wenn er vom »Sinn« des »Eigenen« spricht. Zunächst einmal geht es auch ihm in erster Linie um ein Dagegenhalten: darum, sich fremden Ansprüchen und Erwartungen, einem als allgemein wahrgenommenen Konformitätsdruck zu widersetzen – also nicht zu tun, was andere haben wollen, und eben stattdessen das zu tun, was andere nicht haben wollen, wenn es das Eigene ist. In Hesses Biografie wie in praktisch allem, was er zum Thema schreibt, wird dieser Kampf zentral in der Pubertät verortet und ausgetragen – ob nun von allen oder nur von einzelnen »berufenen«, das heißt zu einem höheren Grad von Individuation bestimmten Menschen, wie er in einem Brief ausgesprochen elitär schreibt, bleibt offen. Vieles spricht dafür, dass Hesse in puncto Eigensinn letztlich vor allem von sich selbst und seinesgleichen spricht: von jungen Männern, deren künstlerische Ambitionen mit den Erwartungen altangestammter Institutionen wie Elternhaus und Schule zunächst einmal notwendig kollidieren und zu Konflikten führen, die aber um der Berufung willen ausgefochten und gewonnen werden müssen.8 Andere Passagen lassen sich allerdings auch so verstehen, dass die Notwendigkeit, der eigenen, je individuellen Bestimmung zu entsprechen, eine allgemeine sei, die nicht nur Menschen, sondern auch Tiere, Pflanzen und sogar Mineralien umfasse. Die Schwierigkeit der Jugendjahre, so Hesse im oben genannten Brief, bestehe jedenfalls darin, dass das Werden der eigenen Persönlichkeit isoliert und Kämpfe und Zweifel bringt. Die Umwelt ist hier also gerade nichts, das die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit beim Heranwachsenden aktiv fördern und unterstützen könnte; sie ist vielmehr und ausschließlich Antagonistin des Helden. Nur im Widerstand gegen sie, in Abgrenzung von und im Kampf mit ihr kann er sein je Eigenes ausbilden. Für Hesse, geboren 1877 und aufgewachsen in einer protestantischen, vom schwäbischen Pietismus geprägten Missionarsfamilie, wie auch für seine begeisterten Leser, seltener Leserinnen, trifft dies vermutlich zu. Was hat es nun aber mit dem »Sinn« des »Eigenen« auf sich? Die Formulierung kehrt bei Hesse selbst, soweit ich das überblicke, nicht wieder. Stattdessen spricht er im weiteren Verlauf nur noch vom Eigensinn als demjenigen, das einen eigenen Sinn habe – und den eben habe jedes Ding auf Erden. Zur anschließenden Aufzählung dieser Dinge gehören dann neben Pflanzen und Tieren auch Stein, Zinn und Eisen, Gold und Kohle. Das Wort Sinn wird hier also offenbar gerade nicht in der Bedeutung von Wahrnehmungsvermögen, Sinnlichkeit gebraucht, sondern als Bedeutung, Rolle, Stellenwert oder – diese Begriffe verwendet Hesse im weiteren Verlauf seines Aufsatzes immer wieder – Schicksal und inneres Gesetz. Die Frage, wo all das denn seinen Ursprung habe, bedarf für ihn letztlich keiner Klärung: Gott ist derjenige, der jedes Ding mit seiner Bestimmung ausgestattet hat, eben deshalb ist der Eigensinn, der Gehorsam gegen das Gesetz in sich selbst, für Hesse eine heilige Tugend. Wie aber verhält sich das Ganze in einer gottlosen Welt? In der eine Bestimmung nicht gegeben ist, aber gleichwohl gefunden werden will? Wie verhindert man da, für das innere Gesetz zu halten, was womöglich nur falschem Bewusstsein oder fremden, unberechtigten Ansprüchen geschuldet ist? Wie können wir wissen, wie lässt sich sicherstellen, dass wir tatsächlich unseren eigenen Bedürfnissen und Interessen folgen, gerade wenn es (auch) um so existenzielle und komplexe Fragen wie den Klimawandel, den Kapitalismus, den Schwund der natürlichen Ressourcen oder die damit einhergehenden globalen Verteilungskonflikte geht? Wie lässt sich guter Eigensinn von schlechtem abgrenzen? Wie das, was die Aktivist*innen von Letzte Generation oder Extinction Rebellion von dem, was Mitglieder der Identitären Bewegung tun? Oder ist eine solche Unterscheidung immer arbiträr? Wir werden, wir müssen darauf zurückkommen. [kn] Herrschaft und Knechtschaft / Requiem
1 Hegel bestimmt den Eigensinn als Freiheit, die noch innerhalb der Knechtschaft stehenbleibt.9 Oskar Negt und Alexander Kluge zitieren diese Wendung mehrfach, sie ist für ihr Buch »Geschichte und Eigensinn« von systematisch tragender Bedeutung. Es geht ihnen darum, was für emanzipatorische Impulse es »trotzdem«, also innerhalb der Knechtschaft der kapitalistischen (und anderer Formen der) Entfremdung geben kann. Das Kapitel, an dessen Ende Hegel auf den Eigensinn zu sprechen kommt, ist das über »Herrschaft und Knechtschaft« in der »Phänomenologie des Geistes«. Hegel hat dabei bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse vor Augen, wie etwa die antike Sklavenhaltergesellschaft oder die feudale Leibeigenschaft, in der der Herr über das Leben des Knechtes verfügen kann und der Knecht in der Furcht des Todes, des absoluten Herrn, lebt und arbeitet. Gleichzeitig ist das, was Hegel hier beschreibt, nicht auf eine einzige historische Epoche zu fixieren. Man kann verallgemeinern und sagen: Überall dort, wo Verhältnisse von »Herr« und »Knecht« (bzw. Herrin und Magd) zu finden sind, in der die beherrschte Instanz der beherrschenden Instanz auf Leben und Tod preisgegeben ist,...