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E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Eskin »Schwerer werden. Leichter sein.«

Gespräche um Paul Celan.Mit Durs Grünbein, Gerhard Falkner, Aris Fioretos und Ulrike Draesner

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-8353-4455-6
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Michael Eskin spürt der Bedeutung Paul Celans im lebendigen Dialog mit zeitgenössischen Autoren nach.

Hundert Jahre nach der Geburt und fünfzig Jahre nach dem Tod von Paul Celan ist seine Dichtung heute immer noch von drängender Aktualität. Mit den vier zeitgenössischen Autoren Durs Grünbein, Ulrike Draesner, Gerhard Falkner und Aris Fioretos spricht Michael Eskin über die nachhaltige Bedeutung des Dichters.
Der Stimme des Dichters und Überlebenden der Shoah, der das heilende, jedoch nicht immer mögliche oder gelingende zwischenmenschliche Gespräch durch die Zeiten hindurch als Gegengewicht zur Last der am eigenen Körper schmerzvoll erlebten Geschichte ins Zentrum seiner Dichtung und Existenz stellte, wird dabei zum ersten Mal im tatsächlichen Dialog literarisch Gehör verliehen. Gleichzeitig gewinnen wir einen ganz persönlichen Einblick in das dichterische Nach- und Weiterwirken Celans in Leben und Werk der Gesprächspartner, die alle auf je eigene Weise Celan zutiefst verbunden sind.
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Der Spiritus des Lebendigen
Gespräch mit Durs Grünbein
MICHAEL ESKIN Celan – Künstlername, Anagramm, onomastisches Vexierbild. Ein Name, der für mich bis heute rätselhaft und geheimnisvoll klingt, auch noch nach fast dreißig Jahren Beschäftigung mit Celans Werk. Diaphan und milchig zugleich, scharf wie eine Messerklinge, spitz wie eine Lanze, aufs Feinste ziseliert und zerbrechlich wie Porzellan, doch auch daunenweich und geschmeidig wie ein Schleier aus lana vergine, lebendig und voller Elan und gleichzeitig erfüllt von Trauer und Melancholie. Kein deutscher Name … Man will ihn unbedingt französisch aussprechen, wie das Wort ›selon‹ – und schon hört man das englische ›so long‹ darin, ein Abschiedswort, Trennung, Heimweh, Verlust und Leid verheißend: Leitmotive in Celans Leben und Werk. Oder die Berührung der Lippen im russischen ›poceluj‹ – Kuss –, das paronomastisch aus ›Paul Celan‹ herausperlt, spricht man den Namen französisch aus und hört dabei mit dem Ohr des von Celan beschworenen Ostens hin, wo er bekanntlich seine »Hoffnung« verortete: »Mon espoir est à l’est – il y est«, schrieb er aus seiner Wahlheimat Paris einmal an seinen rumänischen Freund Petre Solomon. Ganz zu schweigen von den Namen, die da mitschwingen: Thomas von Celano etwa – Franziskanermönch und mutmaßlicher Autor des Dies Irae – oder Céline, antisemitischer Verfasser der Reise ans Ende der Nacht, und natürlich Lancelot … Dass der Akzent, wie Celan angesichts der oft falschen Aussprache seines Namens immer wieder betont haben soll, auf der ersten Silbe zu liegen habe (wohl in Anlehnung an seinen Geburstnamen ›Ántschel‹ bzw. ›Áncel‹ in rumänisierter Form), jedoch ganz intuitiv auf der zweiten gesetzt sein will, stellt außerdem eine musikalische Grundspannung her, die das Geheimnisvolle und Fluide dieses Namens melodisch ins Schwingen bringt: als gemahnte er buchstäblich daran, dass »noch Lieder / zu singen [sind] jenseits / der Menschen«, wie es in Celans berühmtem Gedicht »Fadensonnen« heißt. Auch Du schreibst ja in diesem Zusammenhang in Deinem Essay Artistik und Existenz, der im Dezember 2011 in der Neuen Zürcher Zeitung erschien: »Ich habe bis heute Schwierigkeiten mit der Betonung des Namens. Heißt es nun Célan (gesprochen wie WLAN), oder sagt man Celán, wie man Elan sagt, nach dem französischen Wort für Schwung und Begeisterung? Ich habe mich dann belehren lassen, der Mann hieß Célan, so nannten sie ihn im engsten Freundeskreis.« Wann und wo hast Du diesen geheimnisvollen, dem Deutschen so fremden Namen eigentlich zum ersten Mal gehört? Kannst Du Dich noch erinnern, wie er auf Dich gewirkt hat und was Du dabei empfunden oder gedacht hast?   DURS GRÜNBEIN Auf den Namen Celan stieß ich zum ersten Mal bei dem Philosophen Adorno. Der sprach immer von einem Dichter, der die deutsche Sprache nach Auschwitz zu retten versuchte und gewissermaßen als Einziger die Last der Geschichte trug. Ich hatte noch nichts von ihm gelesen, aber vor dem Namen hatte ich von da an den allergrößten Respekt. Dabei war es eigentlich gar kein Name, sondern eher ein Code unter Eingeweihten, eine Parole, es klang auch wie ein unbekanntes chemisches Element. Als ich dann die »Todesfuge« las, war ich überrascht, wie einfach er sich ausdrückte. Ich hatte weiß Gott was erwartet, dunkle hermetische Texte von enormem Schwierigkeitsgrad – und dann das. Man muss dazusagen, dass Celan in Ostdeutschland keine Schullektüre war. Kein Schulmeister hatte mir diesen Singsang durch Didaktik vergällt. Ich traf also unvorbereitet, geradezu unschuldig auf diese magischen, schamanistischen Zeilen. Schamanistisch kommt mir jetzt unfreiwillig in den Sinn, als sinnloses Wortspiel – denn was ich damals erfasste, war, dass es um Scham ging, um eine große Scham. Die Scham dessen, der sich dafür schämte, dass offenbar kaum einer unter den Menschen seiner Zeit sich schämte. Im selben Augenblick, da ich die »Todesfuge« las, erfuhr ich auch alles über sein Leben. Vom Tod der Eltern, seiner Zeit im Arbeitslager, seiner Übersiedlung nach Paris, vom Auftritt bei der Gruppe 47, von der Goll-Affäre und von seinem Freitod in der Seine. Das Thema der Scham ist mir seither nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Und das quälte mich. Wieso schämte sich dieser feine Mensch so sehr für seine Mitmenschen, dass er immer dünnhäutiger wurde, immer misstrauischer auch, ja geradezu paranoid, bis er es schließlich nicht mehr aushielt und nur noch verschwinden wollte? Man konnte sein Werk aus mehreren Perspektiven lesen. Als eine Anklage der deutschen Judenmorde und der Verdrängung dieses Verbrechens nach dem Krieg. Als einen Versuch, vor dem schrecklichen Realitätsprinzip Geschichte in die Dichtung abzutauchen, indem man die Sprache für sich behauptete wie das Kind – das Kind, das vor sich hin murmelt und Selbstgespräche führt. Oder als einen ununterbrochenen Kampf mit der Scham, einer Scham, die viele Facetten hatte. Der Scham des Überlebenden, der seine Eltern nicht hatte beschützen können. Der Scham des Sprechers, der sich in der Sprache der Mörder zu Hause fühlte, weil es die Sprache seiner Mutter war. Der Scham des Dichters, der instinktiv weiß, dass die moderne Dichtung immer nur von sich selbst spricht und starke Ähnlichkeiten mit einer narzisstischen Erkrankung hat. Der aufgrund dessen spürt, dass er niemals ganz erwachsen werden kann, weil ihn die tiefere Spracherfahrung vom Leben abschneidet. Die Scham für die falschen Töne in den Gedichten der andern, Scham für die Nachahmer. (»Mutter, sie schreiben Gedichte.«) Die Scham eines Menschen, der sich selber so wenig trauen kann wie allen anderen. Eines Menschen, der immer am Rande der Depression lebt und sich dafür schämt. Schließlich die Scham eines Idiosynkratikers der Sprache, den sein Sprachgefühl in eine immer tiefere Isolation treibt, den das gemeinsame Sprechen buchstäblich anekelt und der sich dabei schlecht vorkommt. »DAS AUSGESCHACHTETE HERZ, / darin sie Gefühl installieren. / Großheimat Fertig- / teile.« Deutlicher kann man nicht reden, mehr Klartext geht nicht. Ich habe den Vorwurf des Hermetischen gegen Celan nie verstanden. Mich hat aber auch immer gewundert, wieso viele sich so leicht mit ihm in Verbindung bringen konnten. Mir wollte das nicht gelingen.   ME Unter diesem Aspekt der Scham sehe ich Celan ganz neu. Vor allem die Nuance des Sich-für-die-eigenen-Mitmenschen-Schämens – was ich so noch nicht bedacht hatte (vielleicht zu Unrecht) – rückt Celans existenzielle ›Grund-Anklagehaltung‹ gegenüber den Deutschen zumal für mich in ein ganz neues Licht. Bedenkt man seine eigene Scham für die anderen mit, dann könnte man zum Beispiel Celans in einem Brief von 1960 an Hans Bender gerichtete Zeitdiagnose – »Wir leben unter finsteren Himmeln – es gibt wenig Menschen« – auch als eine subtile ›Selbstzeihung‹ lesen … welcher Art auch immer – darüber erlaube ich mir an dieser Stelle nicht zu spekulieren. Was mich aber ganz besonders in Deiner Replik aufhorchen lässt, ist die Verbindung, die ich zwischen Deinen Überlegungen zu Celans Scham und Deiner eigenen Behandlung dieses Themas in Deinem Werk sehe: Das Wort, das Du wiederholt verwendest, um deine eigene Scham hinsichtlich Deiner historisch-existenziellen Einbindung auszudrücken, ist »Peinlichkeit«. So schreibst Du im 1991 erschienenen Gedichtband Schädelbasislektion auf deine Jahre in der DDR bezogen: »Wird Dir nun klar, wie groß der Schaden ist / Sovieler Jahre Peinlichkeit und Komik …«. Im 2002 veröffentlichten Band Erklärte Nacht lässt Du Dein Alter Ego Seneca aus dem Exil zu uns von seinen »peinlich[en] … Tränen« sprechen. Und im 2005 veröffentlichten Elegien-Zyklus Porzellan: Poem vom Untergang meiner Stadt schließlich sprichst Du explizit von den »tausend Jahre[n] Scham«, die auf den Albtraum des »Dritten Reichs« folgen. Siehst Du hier eine Verbindung zwischen Dir und Celan? Empfandest oder empfindest Du eine gewisse Peinlichkeit bzw. Scham für Deine Mitmenschen, die der von Dir für Celan veranschlagten Scham verwandt sein könnte?   DG In Berlin muss ich nur den Fuß vor die Tür setzen, dann stoße ich vor jedem zwölften Haus auf einen dieser Stolpersteine im Boden, und es geht wieder los. Oft nehme ich mir die Zeit, lese die Namen der früheren Nachbarn, die man alle abtransportiert hat, viele waren im Rentenalter, aber es gab auch ganz kleine Kinder oder frisch verheiratete Paare darunter. Dann denke ich: was für eine Schweinerei. Die Wohnungen wurden konfisziert, die Menschen kamen in die Viehwaggons und kehrten nie wieder. Es heißt dann beispielsweise »Ermordet in Minsk«, da denkt man an die weißrussische Hauptstadt von heute. Der Ort des Todes hieß aber Malij Trostinez (bei Minsk), dort wurden sie meistens sofort erschossen. Den Ort kennen nicht so viele, er spielt keine Rolle in der Nomenklatur der Vernichtungslager. Viele Deutsche würden sich wundern, wenn man ihnen genau erklärte, was da mit diesen ehemaligen Berlinern nach ihrer Ankunft geschah. Das waren die killing fields im Osten, irgendwelche Erschießungsgruben hinter der Front. Dieser Teil der Shoah liegt vielfach noch immer im Dunkel. Und da kommt die Scham und die Wut darüber, wie wenig doch im Allgemeinen bekannt ist. So viel zur »Vergangenheitsbewältigung« – auch so ein Unwort im...


Eskin, Michael
Michael Eskin, geb. 1966, ist Autor, Übersetzer, Verleger und Mitbegründer von Upper West Side Philosophers, Inc. - Studio & Publishing in New York. Er studierte Literatur und Philosophie in München, Paris, Minnesota und New Jersey und lehrte an der Rutgers University, an der University of Cambridge, wo er Fellow am Sidney Sussex College war, sowie an der Columbia University. Er ist Mitherausgeber der Companions to Contemporary German Literature and Culture (de Gruyter) und Autor von zahlreichen Essays und Büchern, u. a.: Paul Celan Today: A Companion (Mithg.; 2021); »Schwerer werden. Leichter sein.« Gespräche um Paul Celan mit Durs Grünbein, Gerhard Falkner, Aris Fioretos und Ulrike Draesner (2020); Poetic Affairs: Celan, Grünbein, Brodsky (2008); Ethics and Dialogue in the Works of Levinas, Bakhtin, Mandel`shtam, and Celan (2000).
Auszeichnungen u. a.: Living Now Book Award (2013); Next Generation Indie Book Award for Social Change (2010).


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