Erne | Hybride Räume der Transzendenz | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 248 Seiten, Format (B × H): 155 mm x 230 mm

Erne Hybride Räume der Transzendenz

Wozu wir heute noch Kirchen brauchen. Studien zu einer postsäkularen Theorie des Kirchenbaus

E-Book, Deutsch, 248 Seiten, Format (B × H): 155 mm x 230 mm

ISBN: 978-3-374-04834-2
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Kirchen sind der Ort, an dem sich sonntags eine christliche Gemeinde zum Gottesdienst versammelt. Gleichzeitig besucht jedes Jahr ein Millionenpublikum die Kirchen, um unabhängig von den Gottesdiensten einfach die besondere Atmosphäre der Räume zu erleben. Die religiöse Erfahrung der Transzendenz, die ein Gemeindemitglied in der Liturgie des Gottesdienstes erlebt, wird so überlagert von den ästhetischen Erfahrungen, die ein Besucher im Kirchenraum macht. Kirchen sind hybride Räume der Transzendenz. Es kann dort ein charmanter Übergang von ästhetischer zu religiöser Transzendenz stattfinden. Es kann aber auch ein Grenzkonflikt entstehen, wenn sich Religion und Kunst voneinander abgrenzen. Beides, Kontinuität und Diskontinuität, gleitende Übergange und harte Brüche eröffnet eine Kirche, sofern es in ihr Transzendenz im Plural gibt als Ereignis der Kunst und als Ereignis der Liturgie. Für diese Erfahrung hybrider Formen der Transzendenz brauchen wir auch heute noch Kirchen. Das ist die Leitthese dieses Buches.

[Hybrid Spaces of Transcendence. Why We Still Need Churches Today. Studies on the Post-Secular Theory of Church Architecture]
Churches are visited frequently for their architectural impact and not only out of explicitly religious interest. They can be hybrid spaces and combine urban event culture (aesthetic transcendence) and a religious experience. Likewise, non-religious buildings of architectural interest can also support a form of spiritual contemplation, evoking or reinventing a religious effect. Both forms of reception convey a mutual need for self-transcendence, this transformation being achieved by religious and/or aesthetic means.
Bringing these different ways in which spaces are perceived together, various (church) interiors and art events are referred to: Art – in its individuality, as an enhancement to a room or as a complete installation provides, by means of its exceptional appeal, the possibility to extend perception, thereby is an aesthetic experience of transcendence of oneself.
Erne Hybride Räume der Transzendenz jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


A EINLEITUNG
1. EINE NAHEZU IDEALTYPISCHE SZENE
Im Jahr 2015 wird das Rheingau Musik Festival in der Lutherkirche in Wiesbaden eröffnet. Es spricht der Dichter Wolf Wondratschek: »Mir gefällt das Unbewohnbare von Kirchen […] Nichts gleicht hier einer Kleinigkeit. Nichts hier hat, obwohl überdacht, eine Grenze. Das Unsichtbare, eingefasst in hohe Bögen, in Überwölbungen, Kuppeln, in Architektur, Architektur als Kunstwerk, als Ereignis.«1 Wolf Wondratschek ist kein religiöser Mensch. Er betet nicht zu Gott, wenn er dessen Haus betritt. Trotzdem erlebt er in der Lutherkirche in Wiesbaden eine Entgrenzung. Er spürt das Grenzenlose innerhalb der physikalischen Grenzen, die auch Kirchen haben. Diese räumliche Erfahrung einer Entgrenzung, die für Wondratschek besonders intensiv ist, wenn in dieser Kirche die Musik Johann Sebastian Bachs erklingt, nenne ich eine ästhetische Erfahrung von Transzendenz.2 Dabei steht der Dichter in einer Kirche, die programmatisch den Anspruch erhebt, bis in die Details von der Liturgie des Gottesdienstes her entworfen zu sein. Die Lutherkirche, die 1911 im Jugendstil nach Plänen von Friedrich Pützer gebaut wurde, folgt in ihrem Erscheinungsbild einer liturgischen Reformidee, dem Wiesbadener Programm. Diese Kirche will domus ecclesiae sein, das »Versammlungshaus der feiernden Gemeinde«3. Hier gruppiert sich im Halbkreis eine egalitäre Gemeinschaft um Altar, Kanzel und Orgel, um in Wort und Sakrament eine religiöse Erfahrung von Transzendenz zu machen.4 In ihrem gesamten Erscheinungsbild will die Lutherkirche diese liturgische Idee zur Darstellung bringen. Der Dichter reagiert jedoch nicht auf den religiösen Anspruch, sondern auf den Kunstcharakter der Kirche. Wondratschek sieht gewissermaßen die intentio obliqua der Kirche, ihren ästhetischen Wert, der sich von der religiösen Idee, der intentio recta der Kirche, die Ausdruck der Liturgie sein will, unterscheiden lässt. Abb. 1: Lutherkirche Wiesbaden, Friedrich Pützer, 1908-10. Foto: Josh von Staudach Er sieht nicht das Bewohnbare, das Hegel in Kirchen gesehen hat.5 Er sieht das Unbewohnbare, das Kunstwerk, das fremd ist gegenüber jedem Nutzen, auch gegenüber seinem liturgischen Zweck. Er sieht die Kirche als Anderort, als Heterotopie,6 aber er sieht durchaus, dass es eine Kirche ist. 2. DER WEG ZU EINEM POSTSÄKULAREN KIRCHENBAU
Wo sind wir, wenn wir in einer Kirche sind? In einem sakralen Bauwerk? In einer heiligen Atmosphäre? In funktionalen Räumen? In einem Kunstwerk? Geht man vom Raumgefühl aus, das mit dem Christentum in die Welt kommt, dann lässt sich die Frage nach einem christlichen Da-Sein an einem bestimmten Ort nur schwer beantworten. Denn im Reich Gottes, das in Christus anbricht, ist das »Da« nur, indem es auch »Dort« ist und »Dort« ist, indem es auch »Da« ist.11 Dasein, das auch Dortsein ist und umgekehrt, bleibt zwar auch in der anbrechenden Gottesherrschaft an endliche Räume gebunden. Das Gefühl der Entgrenzung, eines Überall, einer Überörtlichkeit, einer Ubiquität im Geist macht sich daher nur in einer qualitativen Transformation des endlichen Raumes, in einem entgrenzenden Erlebnis von Unendlichkeit bemerkbar. Dasein, das auch Dortsein ist, ist kein räumlicher Zustand, sondern eine transzendierende Bewegung, ein »Überschreiten, das sich mithilfe von Grenzbegriffen artikuliert: Aktuale Unendlichkeit, reale Ganzheit, reine Zeitenthobenheit und absolute Notwendigkeit […].«12 Aber gerade dieses neue dynamische Raumkonzept verändert den Blick auf die Sakralarchitektur der Antike. Auch der Tempelbau muss im Blick auf die räumliche Qualität des Reiches Gottes neu gedacht werden. 3. TRANSZENDENZ IM PLURAL
Das Verhältnis von eigenständigen Artikulationsformen21 der (Selbst-)Transzendenz gehört in die Geschichte einer Ausdifferenzierung kultureller Sphären, die seit der Aufklärung eine Neubestimmung des Verhältnisses der Künste und der Religion notwendig macht. Hier geht es nicht nur um eine »Vervielfältigung religiöser Haltungen«22, wie sie etwa Charles Taylor im Anschluss an William James als religiöse Signatur der Moderne23 herausgearbeitet hat. Es geht vielmehr um eine Vervielfältigung der eigenständigen Formen der Transzendenz. Kunst und Religion treten in der Moderne als unterschiedliche Stile24 von Transzendenz auf, die auf je eigene Weise eine Entgrenzung des Selbst ermöglichen. Abb. 2: Augustinerkirche Würzburg, Balthasar Neumann, 1308/1741, Altarbild von Jacques Gassmann, 2011 Foto: Wikimedia Commons Das bedeutet für die Besucher, Flaneure, Touristen, Kunstkenner und Sinnsuchenden, dass sie in Kirchen eine Weitung ihres Daseins in Bezug auf religiöse Vorstellungen erleben können, ohne dass diese Vorstellungen sie religiös zu etwas verpflichten. Die religiöse Referenz ist in diesem Fall ein (subordiniertes) Moment des Kunstereignisses, das ihnen die Kirche bietet. Viele Besucher sehen sich daher auch nicht genötigt, die Wirkung des Kirchenraumes »zweifellos zuerst und unmittelbar auf ein Objekt außer mir«31 zurückzuführen. Für die ästhetische Wahrnehmung ist die weitende Atmosphäre des Kirchenraums auch ohne die Annahme eines wirkenden Gottes ein wirkliches (und wirksames) Symbol des Unendlichen. »Was in diesen unterschiedlichen Arten der Wahrnehmung zur Erfahrung kommt, ist keine Projektion; es ist nichts, was nicht wirklich da wäre«32. 4. WAS IST EIN HYBRIDRAUM DER TRANSZENDENZ?
a) Schweben
Von Homi K. Bhabha, Literaturwissenschaftler und Theoretiker des Postkolonialismus, stammt das Konzept eines intermediären Raumes, eines »Third Space«, in dem die Differenzen, die in der sozialen Interaktion entstehen, nicht symbolisch integriert, sondern symbolisch suspendiert werden.40 Der dritte Raum ist ein Ort des Schwebens. Hier sind Fragen der Zugehörigkeit zu Ethnien, Milieus, Religionen und Klassen für eine bestimmte Zeit außer Kraft gesetzt. Zwischenräume sind kein leerer Raum zwischen Dingen. Die räumliche Metapher, die Homi Bhabha für diesen dritten Raum gebraucht, ist daher das Treppenhaus. In einem Treppenhaus bewegt man sich in einem Raum zwischen oben und unten, innen und außen. Für die Dauer des Aufenthalts in diesem Third Space greifen daher die distinkten Zuordnungen nicht mehr. Abb. 3: Kommunales Parkhaus, Venedig, E. Miozzi, 1933-34, Foto: Thomas Erne Auch die christliche Religion hat ihre hybriden Räume. Gewissermaßen die Treppenhäuser des Christentums sind seine Kirchen. Kirchen sind ausgegrenzte Bezirke, Orte, herausgenommen aus dem Alltag. Das Potential von Kirchen liegt heute nicht mehr primär darin, eine »ab- und ausschließende[n] Umfriedung«42 zu sein, eine räumliche Absicherung vor äußeren und inneren Gefahren. Diese Schutzfunktion gibt es zwar nach wie vor. Der Kirchenraum bietet auch heute Flüchtlingen, die von Abschiebung bedroht sind, Schutz vor Verfolgung. Aber das neue, noch unabsehbare Potenzial von Kirchen liegt heute vielmehr darin, dass sie Zwischenräume sind, wo soziale, ästhetische und religiöse Differenzen in der Schwebe gehalten werden. »Ein ›Dazwischen‹, in dessen Offenheit man sich aussetzt und gefährdet ist, das aber auch ein unabsehbares Potenzial birgt.«43 Existentielle Unterschiede stoßen in diesem Dazwischen nicht mehr nur und ausschließlich hart im Raum aufeinander, sondern überlagern, berühren und durchdringen sich. In diesem suspendierenden Sinne räumen die Kirchen vielfältigen Formen der Transzendenz einen Raum ein. Sie sind ein unalltäglicher Ort, »an dem die verschiedenartigen Überschussphänomene ineinander übergehen, einander befruchten, aber auch einander in die Quere kommen und bis zu einem gewissen Grad miteinander verschmelzen […]«44. b) Religionshybride
Nun ist der Begriff des Hybriden in der Religionsphilosophie und Religionswissenschaft bisher kaum belastbar etabliert.45 Eine Ausnahme bildet das Projekt »Religionshybride« von Peter Berger, Klaus Hoch und Thomas Klie. Die Autoren verwenden den Begriff der Religionshybride sehr zurückhaltend, um neue religiöse Sozialformen zu beschreiben. Es handelt sich um unscharfe Religionsformen, die sich beispielsweise in Kirchbauvereinen entwickeln,46 in denen Kirchenmitglieder, Indifferente und Atheisten gemeinsam Kirchen retten und erhalten. »›Hybrid‹ bezieht sich in diesem strikten Sinne zunächst ›nur‹ auf ein ›dazwischen‹, das eben keine feste Formen hat und vielleicht auch nie...


Erne, Thomas
Thomas Erne, Dr. theol., Jahrgang 1956, studierte Theologie in Tübingen und parallel dazu Schulmusik an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart. Seit 2007 ist er Direktor des EKD-Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart und Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt religiöse Ästhetik und Kommunikation an der Philipps-Universität Marburg.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.