E-Book, Deutsch, Band 1, 380 Seiten
Reihe: Das Lied der Wächter
Roman
E-Book, Deutsch, Band 1, 380 Seiten
Reihe: Das Lied der Wächter
ISBN: 978-3-8392-5842-2
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 2
Als Felix Bühler am späten Freitagnachmittag des 12. April mit seinem Citybike wie gewohnt von der Schule nach Hause fuhr, deutete nichts darauf hin, dass noch vor Ende dieses sonnigen Frühlingstages nichts in seinem Leben mehr so sein würde wie zuvor. Felix war so guter Laune, wie er es kurz vor seinem 16. Geburtstag nur sein konnte. Der Grund lag jedoch weniger an den ausgedehnten Versuchen seines Physiklehrers Dr. Justus Liebig als an dem Zettel, den ihm Birte während des letzten Nachmittagsunterrichts am Rotteck-Gymnasium zugesteckt hatte. »Ich komme!« Auf dem Papier hatten nur zwei Worte gestanden. Das genügte. Seine Geburtstagsfeier am Wochenende war gerettet. Felix nahm mit Schwung die Kurve an der kürzlich neu gestalteten Straßenbahnhaltestelle am Rande der Freiburger Fußgängerzone. Seine Mutter hatte ihm aufgetragen, heute nicht zu spät zu kommen. Es gäbe wegen morgen noch einiges vorzubereiten. Außerdem wollten sie etwas Wichtiges mit ihm besprechen. Er erinnerte sich, dass sie am Morgen ungewohnt ernst ausgesehen hatte. Doch vielleicht hatte er sich getäuscht. Die wechselnde Wetterlage mit Temperaturschwankungen von acht bis über 20 Grad, wie sie Mitte April im Breisgau üblich waren, machten der sonst so lebensfrohen Frau stets zu schaffen. Bestimmt hatte sie schlecht geschlafen. Felix überquerte den Leopoldring und bog kurz danach links ab. Auf seinen üblichen Weg durch den Stadtgarten verzichtete er. Er hatte keine Lust, sich durch die Menge der Sonnenanbeter, Skater, Ballspieler und Mütter mit Kindern durchzuschlängeln. Es war immer noch angenehm warm am späten Nachmittag, und das tolle Wetter lockte auch den letzten Stubenhocker ins Freie. Alles deutete darauf hin, dass die Temperaturen in den nächsten Tagen halten würden. Beste Voraussetzungen für die Fete am Wochenende. Felix hatte die halbe Klasse an den Baggersee eingeladen. Dass Birte nun doch kommen würde, war ein kaum erhofftes Geburtstagsgeschenk. Auf dem Display seines kleinen Fahrradcomputers sah Felix, dass er noch ein bisschen Zeit hatte. Zeit genug, um einen schnellen Abstecher zu Zweirad-Brändlin zu machen. Seit Wochen kreisten seine Gedanken um den kleinen Laden am Rande des Herdermer Friedhofs. »Alles fertig«, knurrte der alte Brändlin, gewohnt wortkarg, als Felix kurz darauf im Hinterhof den Meister persönlich antraf. »Patrick muss nur noch die Zündkerze auswechseln.« Felix’ Herz schlug höher, als er die schnittige 125er sah. Brändlins Helfer hatte die Maschine bereits auf Hochglanz gewienert. Das dunkle Azurblau erinnerte an den Himmel Italiens. Der Rückspiegel und die Chromteile spiegelten sich in der Nachmittagssonne. Die Reifen und der Motor waren frisch gewaschen. Als Felix das Motorrad vor fast einem Jahr zum ersten Mal bei Brändlin auf dem Hof gesehen hatte, war er begeistert. Die oder keine! Er würde dem alten Brändlin ewig dankbar sein, dass er ihm dies ermöglicht hatte. Er hatte einen vernünftigen Preis genannt und, was noch wichtiger war, versprochen, die Maschine für ein Jahr lang nicht weiterzuverkaufen. Schon am nächsten Tag hatte Felix einen Aushilfsjob gesucht und gefunden. Dreimal in der Woche trug er noch vor der Schule bei jedem Wetter Prospekte aus, spielte den Babysitter in der Nachbarschaft und mähte für die pensionierte Studienrätin, die in einem ähnlichen Haus wie das der Bühlers ein paar Straßen weiter wohnte, den Rasen. Jeden Euro legte er auf die Seite. Trotz aller Mühen achtete er darauf, dass er in der Schule nicht nachließ. Er wusste, er würde es schaffen! Am Ende hatte er nicht nur den alten Brändlin, sondern auch seine Mutter überzeugt. Felix konnte sich nur schwer von dem Anblick losreißen. »Morgen hole ich sie ab. Um neun stehe ich vor der Tür!« Brändlin nickte. Das war ein Junge nach seinem Geschmack. Der wusste, was er wollte! Er hätte ihn am liebsten sofort in die Lehre übernommen. Aber er wusste, dass Felix andere Pläne hatte. Er wollte studieren, Biologie oder Archäologie. Seufzend sah er ihm nach, als er mit kräftigen Tritten mit dem Rad weiterfuhr. »Wird’s heute noch?«, raunzte er Patrick an. Dann schlurfte er in sein winziges Büro, um die Übergabepapiere für morgen vorzubereiten. Die Kastanien in Herdern präsentierten sich in der Nachmittagssonne in einem prächtigen Grün. Überall in den Vorgärten spross und blühte es, die Vögel jubilierten ohne Ende. Von der viel zitierten Frühjahrsmüdigkeit, die von allen möglichen Leuten als Grund für ihre Schlappheit angeführt wurde, spürte Felix nichts. Das monatelange frühe Aufstehen hatte dazu geführt, dass er deutlich fitter war als seine Klassenkameraden, die in den ersten Stunden meist noch übermüdet und unleidig in ihren Stühlen hingen. Die letzten Meter nach Hause gingen noch einmal steil nach oben und verlangten Felix alles ab. Morgen! Ab morgen würde er den Berg locker mit seiner Azurra, wie er sie heimlich schon getauft hatte, meistern. Er fuhr gerne Fahrrad, aber der Gedanke an die neue Maschine drängte alles andere in den Hintergrund. Felix schob das Rad in die Garage. Im Haus war es ruhig. Seine Mutter war nirgends zu sehen. Bestimmt war sie ins Dorf gelaufen, um noch ein paar letzte Einkäufe für morgen zu tätigen. Felix hängte seine Jacke an die Garderobe, zog die Schuhe aus und goss sich in der Küche aus dem Kühlschrank ein Riesenglas Mangosaft ein. Nach einem ersten kräftigen Schluck füllte er nach, dann stieg er die Holztreppe zu seinem kleinen Zimmer unterm Dach hoch und fuhr als Erstes seinen Rechner hoch. Endlich nicht mehr auf die Straßenbahn angewiesen sein! Keine langwierigen Wartereien auf dem Bahnhof mehr! Keine Bitten mehr um Abholen in der Nacht, wenn er zusammen mit Freunden abhing! Längst hatte er jede Menge Touren und Ziele ausgetüftelt. Zu den Baggerseen vor den Toren der Stadt, den Rhein entlangfahren, durch die Weinberge des Kaiserstuhls kurven. Der Sommer versprach wunderbar zu werden. Und endlich konnte er seiner heimlichen Leidenschaft nachkommen. Seit ihn seine Eltern als Kind zum ersten Mal auf einen Ausflug zur Hochburg mitgenommen hatten, war es um den damals Fünfjährigen geschehen. Die Ruinen der mächtigen Burg hinter Emmendingen hatten in ihm eine Mischung aus Abenteuerlust, Ritterromantik und leiser Scheu ausgelöst, die sich in den letzten Jahren noch verstärkt hatte. Er liebte es, in den alten Gemäuern herumzustreifen und die Kraft der jahrhundertealten Mauern zu spüren. Er stellte sich vor, im Burghof als siegreicher Ritter farbenfrohe Turniere zu bestreiten. Oder einfach als Burgherr von der höchsten Zinne des Bergfrieds aus am Abend den Sonnenuntergang über den Vogesen zu betrachten. Einmal damit angefangen, hatte Felix begonnen, sich für alles Mögliche aus der Geschichte und der Vergangenheit zu interessieren. Er verpasste keine Doku im Fernsehen, wenn es um das Leben früherer Zeiten ging. Sein halbes Zimmer war vollgestopft mit Büchern und Bildbänden über Burgen, Schlösser, Klöster und mittelalterliche Städte. Über seinem Schreibtisch hing die Reproduktion einer Stadtansicht von Freiburg aus dem 16. Jahrhundert. Der Monitor vor ihm zeigte den Kartenausschnitt um Freiburg herum. Er schaltete die Hinweise auf Sehenswürdigkeiten ein. Obwohl er schon einige Male dort war, würde die Hochburg sein erstes Ziel sein. Vielleicht konnte er noch am selben Tag zur Landecker Burg hinter Mundingen hochfahren, und nur wenige Kilometer weiter lockte die Ruine in Hecklingen. Und wenn alles gut ging, würde er einen Tagesausflug ins Elsass riskieren. Sein langjähriges Wunschziel, die Hochkönigsburg, war zwar fast 70 Kilometer von Freiburg entfernt. Doch als Ganztagestour sollte es zu schaffen sein, die bei gutem Wetter an den Ausläufern der Vogesen sichtbare Burg auf dem markanten Hügel zu besuchen. Felix’ größter Traum war allerdings selbst mit einem Fahrzeug nicht zu verwirklichen. Zu gerne hätte er sich einmal eines der alten Schwarzwaldklöster angeschaut. St. Trudpert, St. Märgen, St. Peter – alleine die Namen lösten in ihm ganze Bilderwelten vergangener Zeiten aus. Zeiten, als eine Handvoll mutiger Mönche in den damals unzugänglichen Schwarzwald aufbrachen, der Wildnis, den Tieren und den Geschichten über Ungeheuer trotzten und Stück für Stück über Jahrhunderte hinweg das Land besiedelten. Felix lehnte sich in seinem Stuhl zurück und ließ seine Gedanken schweifen. Seit 16 Jahren war kein Mensch mehr dort gewesen. 16 Jahre seit dem verheerenden Unglück hatte niemand mehr die Todeszone betreten, und es war nicht abzusehen, dass sich das in den kommenden Jahren ändern würde. Die Regierung schätzte die Strahlengefahr immer noch als extrem hoch ein. Der größte Teil des Schwarzwaldes war schon wenige Tage nach der Katastrophe abgeriegelt und mit einem bewachten Sperrzaun gesichert worden. Der massive Ausbau der Befestigungen, die an die deutsch-deutsche Zonengrenze aus dem 20. Jahrhundert erinnerte, ließ darauf schließen, dass die Regierung nicht damit rechnete, dass man das Gebiet in den nächsten Jahrzehnten wieder betreten, geschweige denn bewohnen konnte. Es musste hochspannend und aufregend sein zu erleben, was die Natur in der Zwischenzeit mit dem ehemals bei Touristen beliebten Gebiet gemacht hatte. Vielleicht war aus dem Schwarzwald inzwischen ein echter Nationalpark geworden, wie ihn wenige Jahre vor dem Unglück die damalige Landesregierung eingerichtet hatte. Keinerlei Eingriffe, keinerlei Regulierungen, keine Besucher. Genauso gut konnte es sein, dass die Strahlung Schäden hervorgerufen hatte, die die einst herrlichen Wälder und...