E-Book, Deutsch, Band 59, 108 Seiten
Reihe: Film-Konzepte
ISBN: 978-3-96707-427-7
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ulrich Seidl ist nicht nur ein scharfer Kritiker seiner Heimat. Das Werk des Regisseurs zeichnet sich vor allem durch eine einzigartige filmische Stilistik aus: Die meisten seiner Filme vermischen fiktionale Anteile und dokumentarische Techniken; unabhängig von ihrer vermeintlichen Künstlichkeit wirken die Filme realistisch und authentisch. Das bisweilen verstörende Verhalten der Protagonisten, das in Filmen wie "Hundstage", der 2001 den Großen Preis der Jury bei den Filmfestspielen von Venedig gewann, "Im Keller" (2014) oder "Safari" (2016) zum Ausdruck kommt, ermöglicht einen Blick in die dunkelsten Abgründe Österreichs und in die privaten Höllen der Menschen, die porträtiert werden.
Der Band gibt nicht nur eine Einführung in zentrale Aspekte des Seidl'schen Schaffens sowie der Rezeption seiner Filme, sondern befasst sich auch mit den Schlüsselelementen von Seidls Signatur als 'auteur': seiner Kritik an bürgerlichen Verhaltensnormen, seinem Interesse an fotoästhetischen Darstellungsweisen sowie seiner Bereitschaft, die Figuren in kuriosen bis hin zu peinlichen Situationen zu zeigen – alles um seiner Filme willen.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Theater- und Filmwissenschaft | Andere Darstellende Künste Filmwissenschaft, Fernsehen, Radio Einzelne Filmschauspieler, Filmregisseure, Drehbuchautoren
- Geisteswissenschaften Theater- und Filmwissenschaft | Andere Darstellende Künste Filmwissenschaft, Fernsehen, Radio Filmgeschichte
- Geisteswissenschaften Theater- und Filmwissenschaft | Andere Darstellende Künste Filmwissenschaft, Fernsehen, Radio Filmtheorie, Filmanalyse
Weitere Infos & Material
Corina Erk Faction, Tableaus, Voyeurismus
Die Filme Ulrich Seidls – eine Werksichtung
I. Fragmentarische Blicke auf das Werk eines umstrittenen Regisseurs
Als einer der bekanntesten österreichischen Regisseure ist Ulrich Seidl, der mitunter als eine der »zentralen Gestalten des europäischen Autorenfilms«1 bezeichnet wird, wohl zugleich auch ein Filmemacher, dessen Werk2 die heftigsten Kontroversen ausgelöst hat. In den nunmehr 40 Jahren seines Schaffens, von denen er über 20 Jahre mit der Drehbuchautorin und Regisseurin Veronika Franz, seiner Partnerin, zusammengearbeitet hat, mit der gemeinsam er 2003 eine eigene Filmproduktionsfirma gründete, hat Seidl Kinoproduktionen ebenso vorgelegt wie Arbeiten für das Fernsehen, Kurzfilme, Fotobücher mit Standbildern aus seinen Filmen oder auch zwei Theaterstücke (Vater unser, 2004, Volksbühne Berlin; Böse Buben / Fiese Männer, 2012, Münchner Kammerspiele). Dabei ist bereits in seinem Frühwerk aus den 1980er Jahren vieles von dem angelegt, was auch später in seiner Karriere den Stil Seidls ausmacht: starre Kameraeinstellungen mit genau komponierter Kadrierung, Blicke der Personen direkt in die Kamera, die wiederum auf das Gegenüber fixiert zu sein scheint, Personenporträts von Außenseiterfiguren als Grundkonstellation des Gezeigten, das sich dem Hässlichen der Gesellschaft und den Abgründen des Menschen widmet, nicht selten grundiert mit einem erheblichen Maß an Provokationsgestus. EINSVIERZIG markiert 1980 Seidls Erstling, ein Kurzfilm von 16 Minuten Länge, entstanden an der Wiener Filmakademie. Seidl zeigt darin Karl Wallner, einen kleinwüchsigen Mann mittleren Alters, der mit 14 Jahren aufgehört hat zu wachsen. So handelt es sich bei EINSVIERZIG – im Übrigen Seidls einzigem Schwarz-Weiß-Film – um das Porträt eines Kleinwüchsigen, der sich dem Publikum in Szenen aus seinem Alltagsleben präsentiert. Bereits dieser frühe Film brachte Seidl den im Zusammenhang mit seinem Werk seither immer wieder gehörten Vorwurf der Sozialpornografie ein. Man wird wohl nicht fehl darin gehen zu sagen, dass die schon in und mit EINSVIERZIG praktizierte Form der schonungslosen Darstellung der Menschen vor der Kamera zum Markenkern Seidls geworden ist, so dass EINSVIERZIG letztlich die »Rohform«3 des gesamten folgenden Werks genannt werden kann. 1982 folgte DER BALL (1982), ein 50-minütiger Dokumentarfilm, der in Horn, einer Kleinstadt in Niederösterreich, spielt, in der Seidl aufwuchs. Der Film zeigt Szenen des Schulballs der Gymnasiasten in der Faschingszeit in Form einer Provinzsatire. Bei DER BALL handelt es sich zugleich um Seidls letzten Film an der Filmakademie Wien, denn die angeblich rufschädigende Machart führte zur Demission des Jungregisseurs. Seidls erster Versuch, nach seinem Scheitern an der Filmakademie unabhängig Filme zu machen, blieb denn auch Fragment: LOOK 84 (1984), der keine Filmförderung aus öffentlichen Quellen erhielt und von dem lediglich 26 Minuten im Rohschnitt zu sehen sind, wobei rechtliche Gründe bis heute öffentliche Aufführungen verhindern, widmet sich am Beispiel von Sonja Kirchberger und dem Fotografen Peter Baumann Fotomodellen und der Verlogenheit des Werbegeschäfts – ein Thema, das Seidl später in MODELS (1998) wieder aufgegriffen hat. 1989 schließt KRIEG IN WIEN, eine Zusammenarbeit mit Michael Glawogger und zugleich dessen Abschlussarbeit an der Filmakademie, die Frühphase in Seidls Werk ab: Der Film zeigt Wiener Kleinbürger in ihren Wohnungen und betrunkene Obdachlose in den Straßen Wiens. In Form von Kontrastmontagen werden Ausschnitte aus den Weltnachrichten dokumentarischen Szenen aus dem Leben in Wien gegenübergestellt. 1990 verzeichnete Seidl mit seinem ersten Langfilm, GOOD NEWS: VON KOLPORTEUREN, TOTEN HUNDEN UND ANDEREN WIENERN, uraufgeführt auf dem Filmfestival Locarno, danach bei etlichen weiteren Festivals, darunter Chicago, Hof und Rotterdam, gezeigt und unter anderem mit dem Wiener Filmpreis ausgezeichnet, gleich einen ersten Erfolg. GOOD NEWS, der Seidl zum Durchbruch verhalf, zeigt den Tagesablauf von Zeitungsverkäufern auf den Straßen Wiens, Männern aus Ägypten, Indien, Pakistan und der Türkei, und kontrastiert das moderne Sklaventum dieser Sozialverlierer mit dem tristen Leben des Wiener Kleinbürgertums. Zugleich handelt es sich bei GOOD NEWS, fertiggestellt mit der Unterstützung Werner Herzogs, um ein Stadtporträt, um Stimmungsaufnahmen Wiens. In seiner Darstellung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der ausländischen Zeitungsverkäufer in Österreich wirkt GOOD NEWS geradezu journalistisch-reportageartig, wobei in diesem Porträt zugleich die Kunden eben jener Zeitungsverkäufer ins Visier genommen werden.4 Auch der nächste Seidl-Film, MIT VERLUST IST ZU RECHNEN (1992), uraufgeführt auf der Berlinale, beschäftigt sich mit dem Alltagsleben seiner Protagonisten und geht Beobachtungen in einer Grenzregion nach. MIT VERLUST IST ZU RECHNEN zeigt die Suche des Witwers Sepp Paur nach einer neuen Frau, und zwar in Tschechien, wo Paur auf die Witwe Paula Hutterová trifft, die allerdings weder ihre Unabhängigkeit aufgeben noch nach Deutschland umziehen will. Seidl fächert in diesem Film ein ganzes Themenspektrum auf: Verlust von Heimat, der eigenen Jugend und der Liebe, das Leben an der Ost-West-Grenze. 1994 liefert Seidl mit DIE LETZTEN MÄNNER, seinem ersten TV-Film, einen Quotenerfolg: Anhand des Lehrers Karl Schwingenschlögl, der sich eine Ehefrau aus Asien zulegen will und sich zu diesem Zweck mit anderen Männern austauscht, die bereits asiatische Frauen haben, rückt der Regisseur den Konnex aus Liebe/Sex und Neokolonialismus in den Mittelpunkt seines filmischen Interesses, werden die philippinischen Frauen von den österreichischen Männern doch via Agenturen quasi per Katalog bestellt. 1995 markiert Seidls dritter Langfilm, TIERISCHE LIEBE, einen Einschnitt in sein Werk, kann der Film doch getrost als erster Schocker Seidls bezeichnet werden, der bis heute, vor allem aufgrund der recht expliziten Sodomie-Szenen, zu den verstörendsten Seidl-Filmen zählt. TIERISCHE LIEBE, über den Werner Herzog sagte, man habe »niemals so tief in die Hölle gesehen«,5 wie bei diesem Film, zeigt vereinsamte Menschen und ihre tierischen Ansprechpartner, die mitunter ihre Bettgenossen sind. Fungiert die Liebe zu den Tieren hier als Ersatz für menschliche Liebe? Für TIERISCHE LIEBE wurde Seidl jedenfalls heftig kritisiert; die Vorwürfe lauteten: Sozialpornografie und Voyeurismus. Der Österreichische Rundfunk (ORF), der den Film mitproduziert hatte, verweigerte gar die Ausstrahlung. Und in der Tat: TIERISCHE LIEBE zeigt in drastischen Bildern das pervertierte Verhältnis der Menschen zu ihren Tieren und den Mangel an zwischenmenschlichen Beziehungen, ist insofern also ein Film über Menschen, nicht über Tiere, wobei er die Einsamkeit Ersterer nihilistisch darzustellen scheint. Nach seiner Haltung Menschen gegenüber gefragt, bleibt Seidl letztlich ambivalent. So lassen sich durchaus humanistisch grundierte Aussagen finden, wie etwa die Folgende: »Gerade so prägend wie die katholische Erziehung war die Sympathie zum Kommunismus. Wie gesagt war ich schon immer gegen Heuchelei, falsche Autoritäten und alles, was das Individuum unterdrückt. Das ist gepaart mit einer Vision für ein anderes, besseres Leben, für mehr Würde und Freiheit. Das ist mein stärkster Drang. In meiner Kritik ist diese Vision enthalten. Würde ich das Leben nicht lieben, würde ich mir das nicht antun: solche Filme zu machen.«6 Und auch von anderen wird Seidl und mit ihm sein Werk so interpretiert: »Die Suche nach wirklichen Gefühlen und die Aufmerksamkeit, die Ulrich Seidl dem bizarren, manchmal deformierten Ausdruck dieser Gefühle schenkt, machen diesen Regisseur zu einem großen Humanisten. Er nimmt den einzelnen Menschen, sein Leid und seine Demütigungen ernst, indem er ihn in all seiner Verletzlichkeit und Kreatürlichkeit unverstellt auf der Leinwand zeigt.«7 Doch lassen sich zu dieser Einschätzung auch Gegenstimmen finden, wie etwa eine Beurteilung von GOOD NEWS zeigt: »Trotz dem voyeuristischen Eindringen ins Private bleibt auch hier die gefühlsmäßige Distanz bewahrt – Seidl lässt kein Mitleid zu. Seinem Kino liegt kein humanistischer Antrieb zugrunde. Er solidarisiert sich nicht mit den Schwachen, in deren Niederungen er sich begibt. Er steht nicht auf der Gegenseite; sondern hinter der Kamera.«8 Und auch Seidl selbst, der den »Wahnsinn der Normalität«9 zeigen wolle, scheint angesichts desselben bisweilen resigniert zu haben: »Ich glaube, dass der Mensch nichts lernt. Aus Erfahrungen, aus der Geschichte. Er wird also nicht besser. Deprimierend im Grunde. Das Böse steckt in uns Menschen, und immer, wenn uns Macht gegeben wird – oder anders gesagt: immer, wenn uns durch die Machtverhältnisse Verantwortung abgenommen wird –, dann kommt das Böse raus.«10 Letztlich muss es wohl offen bleiben, ob Seidl, dieser »Voyeur am Wirklichen«,11 dessen Filme der Schauspieler Joseph Bierbichler »Katastrophenfilme«12 nennt, als Existenzialist zu bezeichnen ist.13 Deutlich weniger extrem als TIERISCHE LIEBE sind die folgenden Filme Seidls, die noch stark dem Dokumentarischen verpflichtet sind, wenngleich dies bei Seidl immer ein umstrittener Terminus...