E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Enright Die Schauspielerin
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-26184-9
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-641-26184-9
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein berührender Roman über die unerfüllte Liebe einer Tochter zu ihrer Mutter
Norah blickt zurück auf das Leben ihrer Mutter, der einst gefeierten Schauspielerin Katherine O'Dell: Von irischen Dorfbühnen hat sie es bis nach Hollywood geschafft. Doch mit zunehmendem Alter verblasste ihr Ruhm, sie betäubte sich mit Alkohol und Tabletten, bis es eines Tages zu einem bizarren Skandal kam: Ohne Vorwarnung schoss sie auf einen Filmproduzenten. Jeder Augenblick in Katherines Leben war große Geste, und Norah war ihr Publikum. Wer aber war diese Frau wirklich, die alles für die Kunst gab und wenig für ihre Tochter? Ein eindringlicher Mutter-Tochter-Roman, frappierend ehrlich, scharfzüngig und augenzwinkernd erzählt. »Eine hellsichtig-wütende Liebeserklärung an die Mutter.« Der Tagesspiegel
Ein berührender Roman über die unerfüllte Liebe einer Tochter zu ihrer MutterAnne Enrights Romane sind Bestseller: über 200.000 verkaufte Bücher in den deutschsprachigen Ländern»Ein brillantes Roman-Porträt.« WAZ»Lässt einen beim Lesen manchmal regelrecht aufjubeln.« Spiegel Online»Enright ist eine Spezialistin für schwierige Familienangelegenheiten.« SWR Bestenliste
Anne Enright, 1962 in Dublin geboren, zählt zu den bedeutendsten englischsprachigen Schriftstellerinnen der Gegenwart und wurde 2015 zur ersten Laureate for Irish Fiction ernannt. »Das Familientreffen« (2007) wurde unter anderem mit dem renommierten Booker-Preis ausgezeichnet, ist in gut dreißig Sprachen übersetzt und weltweit ein Bestseller. Für »Anatomie einer Affäre« (2011) erhielt sie die Andrew Carnegie Medal for Excellence in Fiction, für »Rosaleens Fest« (2015) den Irish Novel of the Year Prize. »Vogelkind«, ihr achter Roman, stand auf der Shortlist des Women's Prize for Fiction und errang den Writers' Prize for Fiction 2024.
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Vor ein paar Monaten erhielt ich eine Mail von einer Frau namens Holly Devane. Sie wollte mich zu meiner Mutter interviewen, die Sorte Anfrage, die ich früher abgelehnt hätte. Aber inzwischen war ich, was Interviews anging, ein bisschen wehmütig geworden; das letzte war schon eine Weile her, außerdem bedauerte ich mein – wie ich es empfand – langanhaltendes Versagen auf diesem speziellen Gebiet. Als Romanautorin, meine ich. Nicht, dass es irgendwen interessiert hätte. Es wurden trotzdem Rezensionen geschrieben, die Bücher verkauften sich mehr oder weniger. Es war nur ein kleiner Schmerz, und einer von der banalsten Sorte. Also lud ich Holly Devane zu uns nach Bray ein. Ich schickte ihr eine Wegbeschreibung, weil kein GPS zu uns führt, einer der vielen Vorteile dieses kleinen Küstenortes. Manche Kreuzungen und Sackgassen sind uralt und so versteckt, dass nur die Einheimischen sie kennen. Am Vormittag ihres Besuchs verschaffte ich mir einen kurzen Überblick über mein Leben und war zufrieden. Ich rückte Bilderrahmen gerade und fuhr mit einem Staubtuch über alle Zierleisten. Ich wappnete mich, mit anderen Worten, gegen die Anschuldigungen, die möglicherweise gegen mich erhoben werden würden. Oder auch nicht. Manchmal werfen sie einem nichts vor. Sie versuchen gar nicht erst, mir etwas zu entlocken oder mich aus etwas heraus – meinem Schneckenhaus, meiner Selbstzufriedenheit. Manchmal machen sie sich nicht die Mühe, ihr Gegenüber zu hinterfragen (was sicher viel Energie kostet, zumindest glaubte ich das früher), sie wollen einfach nur ein normales Gespräch führen, sich ein paar Notizen machen und wieder gehen. Und hinterher schreiben sie irgendwelche verqueren Monstrositäten, nur um einen auf Trab zu halten. Aber du weißt schon. Nicht immer. An einem stürmischen, kalten Frühlingstag tauchte Holly Devane vor meiner Tür auf. Ihr Auto stand an der Mauer zum Nachbargrundstück, weniger geparkt als einfach zurückgelassen. Auf mich wirkte sie wie ein Kind: dunkle Cabanjacke, Strickmütze, Schal, dünnes blondes Haar. Sie stehe, wie sie mir zwanzig Minuten später erklärte, »nicht so« auf Männer. Sie sei »echt nicht« dies, sondern »mehr so« das. Obwohl sie »manchmal echt« Lust auf Männer habe und, wie sie sagte, gelegentlich mit einem Mann ausgehe, spiele sich das nie auf die »also, heteronormative« Weise ab. Ich fragte mich, wie ein Gespräch über meine Mutter diese Wendung hatte nehmen können, und dann auch noch so schnell. Im Kamin brannte ein Feuer, das Kaffeepulver in der Kanne auf dem Tablett musste nur noch hinuntergedrückt werden, die Haferkekse daneben sahen aus, als hätte ich sie selbst gebacken. Holly hatte einen Stuhl zu sich herangezogen und eine kleine, flache Videokamera daraufgesetzt, oder vielleicht war es auch nur ihr Handy, um aus einem zutiefst unschmeichelhaften Winkel aufzunehmen, was immer ich sagen würde. Am Ende vergaß sie, das Gerät einzuschalten. Aber sie war toll, sie war höflich und clever und sprühte vor Begeisterung; aus ihr wäre, fand ich, eine großartige Englischlehrerin geworden. Außerdem hatte sie sich gut vorbereitet. Sie schrieb ihre Doktorarbeit über meine Mutter, was mein Herz einen kleinen Hüpfer machen ließ in der Hoffnung, Katherine O’Dell könnte damit gut bedient sein. Also betrachtete ich die junge Frau aufmerksam, während ich vorgab, sie nicht zu betrachten: ihren durchtrainierten, angespannten kleinen Körper, ihre blühende, der Dummheit so nahe Intelligenz. Ihre Jugend. Holly führte noch keinen Titel, doch sie hoffte sehr, ihre Doktorarbeit eines Tages in Buchform zu veröffentlichen. Als ich das Wort »Buch« hörte, schob ich ihr den Teller mit den Haferkeksen hin, aber sie lehnte ab. Sie stellte mir eine Frage und dann noch eine. »Ach, das«, sagte ich, »nun ja, das war bloß«, und merkte erst etwa zwanzig Minuten später (nach der Aussage über Heteronormativität), dass mit »Katherine O’Dell« natürlich »Holly Devane« gemeint war, genauer gesagt Holly Devanes Verweigerung des Heteronormativen, was immer das sein sollte; Adam und Eva im Garten Eden und die sich anschließenden vierzigtausend Jahre Schwachsinn. »Was für eine Mutter war sie?« »Na ja«, sagte ich. »Sie war meine Mutter.« Wie viele andere zuvor beschnüffelte das Kind mich nach Spuren mütterlicher Grausamkeit, nach Narzissmus und Vernachlässigung. Es war ein Leichtes, sie diesbezüglich zu enttäuschen. Ich verfügte über eine gewisse Übung darin, nicht nur gegenüber Journalisten – meine Mutter war jahrelang von einer bestimmten Sorte irischer Schwuler verehrt worden. Aber Hollys Ansatz war neu. Sie wollte wissen, wie meine Mutter ihre Weiblichkeit in Szene gesetzt habe, womit ihr sexuelles Auftreten gemeint war, ein Thema, über das ich nicht allzu lange nachdenken wollte. »Sie hat mit Männern geschlafen«, sagte ich. Auf einmal wusste ich nicht mehr, warum ich dieses Mädchen in mein Haus gelassen hatte. Da saß ich, wieder einmal, verstrickt in die Neugier eines fremden Menschen, und in diese Lage gebracht hatte mich nur meine Einsamkeit, besser gesagt die Einsamkeit meiner Mutter, dieses klaffende Gefühl von Grab. Meine Mutter war schon so lange tot, aber ich würde selbst heute noch alles dafür geben, sie aus der Kälte hereinzuholen. Meine Gedanken und der stechende Schmerz, den sie verursachten, lenkten mich von Holly Devane ab, die gerade erzählte, sie sehe in meiner Mutter kein Spiegelbild, sondern eine Schau-spielerin (affektiert zerteilte sie das Wort in zwei Silben). Sie werde meine Mutter in all ihrer radikalen Subjektivität darstellen, womit gemeint sei, dass sie sie entmystifizieren und als Wesen in der Welt darstellen wolle. Als eine Person, die handelt. »Und auf Leute schießt«, sagte ich. »Ja. Auch das«, sagte Holly, und dann schwieg sie kurz. Ich rechnete mit einer Frage zu den damaligen politischen Verhältnissen. Mitte der Siebzigerjahre hatte meine Mutter sich in New York und Boston mit Männern von der IRA umgeben – hauptsächlich, das sollte Holly Devane unbedingt wissen, aus heteronormativen Gründen. Mit Waffen oder mit Terrorismus hatte sie nichts am Hut, auch wenn ihr Verhalten in Dublin seinerzeit für einen gewissen Skandal gesorgt hatte. Oder vielleicht wäre »Unbehagen« das treffendere Wort. Irischstämmigen Amerikanern nostalgische Rebellenlieder vorzusingen, war zwar schön und gut, aber nach einem Knieschuss oder einer Bombenexplosion in einem Belfaster Krankenhaus aufzuwachen, hatte dann eben gar nichts Nostalgisches mehr. Für die meisten Leute war die Romantik damit recht schnell verpufft. Nicht so für meine Mutter, die an ein Vereintes Irland glaubte, um jeden Preis. Ich holte tief Luft, um es Holly Devane zu erklären, doch ich merkte, es war zu kompliziert. »Ich glaube, sie hat sich einfach nur für die Publicity einspannen lassen«, sagte ich. Holly blinzelte. Sie war zu jung, um sich an den Bürgerkrieg zu erinnern, und für Nordirland interessierte sie sich nicht. Sie interessierte sich nicht einmal für die IRA. Stattdessen nahm sie etwas unbeholfen Anlauf und hob zu der mittlerweile fast obligatorischen Frage an. »Eins würde ich gern wissen. Es tut mir leid, Sie das fragen zu müssen. Aber ich dachte mir, es wäre vielleicht … Sie wissen schon … angemessen. Halten Sie es für vorstellbar, dass sie als Kind missbraucht wurde?« »Nein«, sagte ich, »überhaupt nicht. Aber ich bin froh, dass Sie mich das gefragt haben.« Irgendwie wurde ich sie los. Herzlichkeit an der Tür. Versprechungen, die ich nicht einhalten würde. Der Impuls, sie zu schubsen, als sie mir auf dem Weg zum Gartentor den Rücken zukehrte, oder sie in letzter Minute zurückzurufen. Und vier Stunden später dann der Streit, weil du gesagt hast, ich solle das verdammte Buch doch selbst schreiben. Nach dem Essen waren wir in der Küche. Die untergehende Sonne leuchtete durch die Pflanzen auf dem Fensterbrett über der Spüle, Chili in einem gelben Blechtopf und Koriander aus dem Supermarkt. Zu einem bestimmten Zeitpunkt glühte die Scheibe dahinter wie eine silbrige Membran aus Staub und Dreck, sodass man vor lauter Schmutz nicht mehr nach draußen sehen konnte. Meine Laune war wirklich nicht besonders gut. »Warum schreibst du es nicht selbst?«, hast du gefragt. Und zwar – falls ich dich darauf hinweisen darf – in keinem netten Ton. Nicht mit der Engelsgeduld eines Mannes, der mit einer Schriftstellerin verheiratet ist. Nein. Dein Tonfall zeugte von bodenloser Gereiztheit, als könne sich meine Unfähigkeit, dieses Buch zu schreiben, durchaus mit meiner Unfähigkeit messen, den Geschirrspüler einzuräumen. Womit du in dem Moment beschäftigt warst. Ich aß den letzten Haferkeks und ließ mich über die verblüffende Jugendlichkeit von Holly Devane aus, woraufhin wir uns beide noch älter fühlten. Ich hatte den Geschirrspüler nur deswegen nicht eingeräumt, weil die Trauer um meine Mutter mir kurzzeitig jede Hausarbeit unmöglich machte, sodass du zum Märtyrer meiner Inkompetenz in dieser und anderen Fragen wurdest. Zu allem Überfluss musste die blöde Auflaufform eingeweicht werden, was dich unter den gegebenen Umständen (sich dem Alter nähern, allein einen Geschirrspüler einräumen) zusätzlich belastete. »Warum schreibst du es nicht einfach selbst?«, hast du gefragt. »Was denn?« »Ich meine ja nur.« »Was soll ich denn deiner Meinung nach schreiben?« Du hast beide Hände in die Höhe gehoben. Später bin ich mitten in der Nacht aufgewacht. Du hast nicht geschlafen. Ich habe dich schlucken hören, ein leises,...