Enright Anatomie einer Affäre
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-641-07264-3
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-641-07264-3
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es ist nicht Liebe auf den ersten Blick, als Gina den Familienvater Seán Vallely bei einem Gartenfest kennenlernt. Doch dann treffen sie sich zufällig wieder, trinken zu viel, landen im Bett - und verfallen einander. So beginnt eine verhängnisvolle Affäre, die jahrelang vor den Ehepartnern geheim gehalten wird. Anfangs eine Beziehung voller Leidenschaft und Glück, hält langsam das Schweigen Einzug, Gewissensbisse, Vorwürfe, Schuld - ist es Liebe? Und darf man für diese Liebe das Seelenheil seines Kindes opfern?
Anne Enright ist für die schonungslose Unerbittlichkeit bekannt, mit der sie Beziehungslügen seziert - da reicht eine Geste, ein Blick, und schon ist klar: Die Liebenden steuern in den Abgrund der Alltagsnormalität. Mit Anatomie einer Affäre ist der Irin ein würdiger Nachfolger ihres preisgekrönten Romans Das Familientreffen gelungen: schockierend offen, scharfsinnig und von einer psychologischen Präzision, die kein Entrinnen zulässt.
Anne Enright, 1962 in Dublin geboren, zählt zu den bedeutendsten englischsprachigen Schriftstellerinnen der Gegenwart und wurde 2015 zur ersten Laureate for Irish Fiction ernannt. »Das Familientreffen« (2007) wurde unter anderem mit dem renommierten Booker-Preis ausgezeichnet, ist in gut dreißig Sprachen übersetzt und weltweit ein Bestseller. Für »Anatomie einer Affäre« (2011) erhielt sie die Andrew Carnegie Medal for Excellence in Fiction, für »Rosaleens Fest« (2015) den Irish Novel of the Year Prize. »Vogelkind«, ihr achter Roman, stand auf der Shortlist des Women's Prize for Fiction und errang den Writers' Prize for Fiction 2024.
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There Will Be Peace in the Valley
Ich bin ihm im Garten meiner Schwester in Enniskerry begegnet. Dort sah ich ihn zum ersten Mal. Es hatte nichts Schicksalhaftes an sich, auch wenn ich das Licht des Spätsommers und die Aussicht hinzufüge. Ich stelle ihn ans untere Ende des Gartens meiner Schwester, nachmittags, zu dem Zeitpunkt, wenn der Tag sich zu neigen beginnt. Vielleicht um halb sechs. Es ist halb sechs an einem Sommersonntag in Wicklow, als ich Seán zum ersten Mal sehe. Er steht dort, wo das untere Ende des Gartens meiner Schwester ins Ungefähre übergeht. Gleich wird er sich umdrehen – aber das weiß er noch nicht. Er betrachtet die Aussicht, und ich betrachte ihn. Die Sonne hängt tief und wunderhübsch am Himmel. Er steht dort, wo der Berghang allmählich zur Küste hin abfällt, und hat das Licht im Rücken, es ist genau die Tageszeit, wenn sämtliche Farben ihre volle Strahlkraft entfalten.
Das ist nun schon einige Jahre her. Das Haus ist neu, und dies ist die Einweihungsparty meiner Schwester oder jedenfalls ihre erste Party, ein paar Monate nach dem Einzug. Als Erstes entfernten sie den Holzzaun, um einen Blick aufs Meer zu erhaschen, darum wirkt die Rückseite des Hauses wie eine Zahnlücke in der Reihe von Neubauten, den Ostwinden und neugierigen Kühen ausgesetzt; an diesem Nachmittag ein kleines Bühnenbild des Glücks.
Neue Nachbarn sind gekommen und alte Freunde und ich, mit ein paar Kisten Wein und dem Grill, den sie auf ihre Geschenkliste gesetzt und am Ende doch selbst gekauft hatten. Er steht auf der Terrasse, ein grünes Ding mit einem schwenkbaren Kübel als Deckel. Mein Schwager Shay – ich glaube, er trägt sogar eine Schürze – fuchtelt mit einer hölzernen Zange über Lammsteaks und Hühnerschenkeln und ploppt mit der freien, in die Luft gereckten Hand Dosenbier auf.
Fiona erwartet von mir, dass ich ihr helfe, weil ich ihre Schwester bin. Sie kommt mit einem Armvoll Teller an mir vorbei und wirft mir einen finsteren Blick zu. Dann fällt ihr ein, dass ich Gast bin, und sie bietet mir einen Chardonnay an.
»Ja«, sage ich. »Ja, danke, liebend gern«, und wir unterhalten uns wie Erwachsene. Das Glas, das sie füllt, hat die Größe eines Schwimmbeckens.
Wenn ich daran denke, könnte ich heulen. Es muss 2002 gewesen sein. Da war ich nun nach drei Wochen Australien zurückgekehrt und war verrückt – richtig verrückt – nach Chardonnay. Meine Nichte Megan muss vier gewesen sein, mein Neffe knapp zwei: entzückende kleine Hosenmätze, die mich anschauen, als warteten sie auf einen Witz. Auch von ihnen sind Freunde da. Überall rennen Kinder herum; schwer zu sagen, wie viele – ich vermute, dass sie die klonen, unten in der Gästetoilette. Immer geht eine Frau mit einem Knirps hinein und nestelt beim Herauskommen an zweien herum.
Ich sitze an der Glaswand zwischen Küche und Garten – es ist wirklich ein hinreißendes Haus – und beobachte das Leben meiner Schwester. Die Mütter drängen sich um den Tisch, auf dem das Essen für die Kinder steht, während die Männer ihre Drinks draußen im Freien schlürfen und himmelwärts spähen, als hielten sie Ausschau nach Regen. Ich komme mit einer Frau ins Gespräch, die neben einem Teller Schoko-Rice-Krispie-Törtchen sitzt und sich gedankenverloren durch sie hindurchfuttert. Bedeckt sind sie mit Minimarshmallows. Eben will sie sich ein Törtchen in den Mund schieben, da weicht sie plötzlich erstaunt zurück.
»Huch, pink!«, sagt sie.
Ich weiß nicht, worauf ich damals gerade wartete. Mein Freund Conor musste jemanden nach Hause gebracht oder abgeholt haben – ich kann mich mehr erinnern, weshalb er noch nicht zurück war. Bestimmt war er mit dem Wagen unterwegs. Gewöhnlich war er derjenige, der fuhr, damit ich etwas trinken konnte. Einer von Conors Vorzügen, muss ich sagen. Dieser Tage fahre ich selbst. Aber auch das ist ein Fortschritt.
Und ich weiß nicht, wieso ich mich an die Schoko-Rice-Krispie-Törtchen erinnere, außer dass mir »Huch, pink!« als das Witzigste vorkam, was ich je gehört hatte, und wir uns vor Lachen nicht mehr einkriegen konnten, ich und die namenlose Nachbarin meiner Schwester – besonders sie wurde von Heiterkeit so geschüttelt, dass nicht zu erkennen war, ob sie sich nun vor Ausgelassenheit oder vor Blinddarmschmerzen krümmte. Mittendrin schien sie von ihrem Stuhl zu rutschen. Sie rollte zur Seite, und ich sah sie lachend an. Dann startete sie ohne Vorwarnung plötzlich durch und stürmte durch die Glastür auf meinen Schwager zu.
Der Jetlag hatte zugeschlagen.
Ich weiß noch, wie eigenartig das war. Diese Frau, die geradewegs auf Shay zuraste, der seelenruhig weitergrillte; das zischende Fleisch, die Flammen; mein Grübeln: »Ist es schon Abend? Wie spät ist es eigentlich?« – während das Schoko-Rice-Krispie-Törtchen auf meinen Lippen starb. Die Frau bückte sich, als wollte sie Shay bei den Schienbeinen packen, doch als sie sich aufrichtete, hielt sie auf einmal ein lebhaftes kleines Kind in den Armen und rief: »Weg da, ist das klar? Weg mit dir!«
Der Junge blickte um sich und nahm den jähen Szenenwechsel mehr oder weniger gleichmütig hin. Drei, vielleicht vier Jahre alt. Sie setzte ihn auf dem Rasen ab und holte zu einer Ohrfeige aus. So schien es mir jedenfalls. Sie hob die Hand gegen ihn und dann plötzlich gegen sich selbst, als wollte sie eine Wespe vor ihrem Gesicht verscheuchen.
»Wie oft muss ich dir das noch sagen?«
Shay reckte den Arm, um eine Dose Bier aufzumachen, das Kind lief davon, und die Frau stand einfach da und fuhr sich mit ihrer unberechenbaren Hand durchs Haar.
Das war die eine Sache. Es gab noch andere. Da war Fiona, mit ihren hektisch geröteten Wangen und den Augen, die unversehens feucht wurden von dem ganzen Trallala des Weineinschenkens, von fröhlichem Gelächter und ihrem Dasein als wunderschöne Mutter Schrägstrich Gastgeberin in ihrem wunderschönen neuen Haus.
Und da war Conor. Mein Liebster. Der sich verspätet hatte.
Es ist 2002, und schon jetzt raucht keiner mehr von diesen Leuten. Ich sitze allein am Küchentisch und halte Ausschau nach jemandem, mit dem ich reden könnte. Die Männer im Garten wirken auch nicht interessanter als zum Zeitpunkt meiner Ankunft – in ihren kurzärmeligen Hemden und ihren Hosen, die »Wir sind Freizeithosen« schreien. Ich komme gerade aus Australien. Mir fallen die Typen ein, die man zur Mittagszeit am Hafen von Sydney entlanglaufen sieht: eine endlose Reihe joggender Männer, fit und gebräunt, Männer, bei denen man kehrtmachen könnte, um ihnen zu folgen, ohne sich bewusst zu sein, dass man ihnen folgt; so wie man sich eines dieser verdammten Schoko-Rice-Krispie-Törtchen greift und nicht merkt, dass man es isst, bis man das Marshmallow entdeckt.
»Huch, pink!«
Ich brauche dringend eine Zigarette. Ihre Kinder hätten noch nie eine zu Gesicht bekommen, hatte Fiona mir erzählt – Megan sei in Tränen ausgebrochen, als ein Elektriker sich im Haus eine ansteckte. Ich ziehe meine Handtasche von der Stuhllehne und schlendere zur Türschwelle, vorbei an Shay, der mir mit einem Stück Fleisch zuwinkt, vorbei an regengebleichten Dreirädern und fröhlichen Vorstädtern, hinunter zu der Stelle, wo, angebunden an ihren viereckigen Pfahl, Fionas kleine Eberesche steht und der Garten sich in einen Berghang verwandelt. Hier steht ein kleines Blockhaus für die Kinder. Es ist aus braunem Plastik: eigentlich ein bisschen eklig – die Balken sehen so künstlich aus, ebenso gut könnten sie aus Schokolade sein oder aus einer Art gummierter Kacke. Hinter diesem Ding lungere ich herum und bin so bemüht, respektabel dabei auszusehen – lehne mich gegen den Zaun, glätte meinen Rock, krame verstohlen in meiner Handtasche nach Fluppen –, dass ich ihn erst sehe, als die Zigarette bereits angezündet ist. So fällt mein erster Blick auf Seán (hier, in dieser Geschichte über Seán, die ich mir selbst erzähle) durch eine sich verdichtende Dunstwolke hindurch: sein Körper, die Figur, die er vor der Aussicht abgibt, verschleiert vom Rauch einer lang entbehrten Marlboro Light.
Seán.
Einen Augenblick lang ist er vollkommen er selbst. Gleich wird er sich umdrehen, aber das weiß er noch nicht. Er wird sich umdrehen und mich erblicken, so wie ich ihn erblicke, und danach wird viele Jahre lang nichts passieren. Es gäbe auch keinen Grund dafür.
Es fühlt sich wirklich wie Abend an. Das Licht ist wundervoll und grundverkehrt – es ist, als müsste ich den ganzen Planeten in meinem Kopf drehen, um in diesen Garten zu gelangen, in diesen Abschnitt des Nachmittags und zu diesem Mann, diesem Fremden, neben dem ich jetzt schlafe.
Eine Frau kommt hinzu und redet leise mit ihm. Er hört ihr über die Schulter hinweg zu, dann wendet er den Kopf noch weiter, um ein kleines Mädchen zu betrachten, das sich hinter den beiden herumdrückt.
»Mein Gott, Evie«, sagt er. Und seufzt – denn nicht das Kind irritiert ihn, sondern etwas anderes; etwas Größeres und Schmerzlicheres.
Die Frau geht zurück, um Evies verschmiertes Gesicht mit einer Papierserviette abzuwischen, die auf der klebrigen Haut zerfusselt. Seán beobachtet dies einige Sekunden lang. Und dann blickt er zu mir herüber.
Diese Dinge passieren ständig. Man begegnet dem Blick eines Fremden, sieht einen Moment zu lange hin, schaut dann weg.
Ich war gerade aus den Ferien zurück: eine Woche bei Conors Schwester in Sydney, dann nach Norden zu diesem sagenhaften Ort, wo wir Sporttauchen lernten. Meiner Erinnerung nach lernten wir dort auch, wie man nüchtern Sex hat – ein simpler, aber guter Trick. Es war, als würde man eine zweite Haut abstreifen. Vielleicht konnte ich deshalb Seáns Blick standhalten. Ich war gerade am...