E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-7325-9468-9
Verlag: Baumhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Michael Engler studierte in Düsseldorf Visuelle Kommunikation und arbeitete zunächst als Szenarist und Illustrator. Anschließend war er mehrere Jahre lang als Artdirector in Werbeagenturen tätig. Heute lebt er als freier Autor in Düsseldorf und schreibt Bilder-, Kinder- und Jugendbücher, Theaterstücke und Hörspiele.
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KAPITEL 1
Die Fahrt mit dem Überlandbus schien Lea in diesem Jahr extrem viel länger zu dauern als in den Jahren zuvor. Drehte der Fahrer etwa ihr zu Ehren ein paar Extrarunden durch Maisfelder und an endlosen Rapsfeldern vorbei? Schließlich kam bestimmt nicht jeden Tag eine Fremde in diese Gegend. Wobei sie ja durchaus keine richtige Fremde war. Aber sie sah aus wie eine. Und allein deshalb hatte der Fahrer sie schon beim Einsteigen angestarrt. Lea hatte mit den Augen gerollt und sich einen freien Platz gesucht. Es war Sommer. Der Himmel sollte blau sein, die Felder golden und die Seen erfrischend. Stattdessen klatschte seit über einer Stunde dichter Regen gegen die Frontscheibe des Busses. Und die schweren Wolken am Horizont versprachen noch sehr viel mehr davon. So eine Plörre. Lea fragte sich, warum sich die Scheibenwischer überhaupt bewegten. Draußen war doch ohnehin alles grau und grün und nass. Einfach öde. Es lohnte sich gar nicht rauszugucken. Morgen würde zu Hause der neue Jugendclub eingeweiht. Lea gab sich sehr viel Mühe, nicht daran zu denken. Bloß nicht. Nicht an ihre beste Freundin Sarah, die morgen ganz bestimmt mit Lisa zur Einweihungsparty gehen würde. Nicht daran, dass sie nun niemals würde sagen können, dass sie von Anfang an dabei gewesen war. Niemals! Das würde jetzt Lisa übernehmen. Und die würde es jedem jederzeit ungefragt erzählen. Sie wollte nicht an die Party denken, bei der Lisa sich garantiert wieder ganz prächtig in den Vordergrund tanzen würde. Und Lisa würde in den nächsten zwei Wochen immer wieder hingehen und sich einschleimen. Denn Lisa war nicht im Urlaub. Und auch Sarah war noch nicht weggefahren. Nur Lea war schon im Zwangsurlaub. Vierzehn Tage Ackerverschickung. Sie hatte ihre Mutter um eine Verschiebung von drei Tagen gebeten. Sie hatte gebettelt, mit Tränen in den Augen, sie wäre bereit gewesen, nahezu alles zu versprechen. Nur diese drei Tage, um wenigstens bei der Einweihung dabei zu sein. Aber ihre Mutter ließ sich nicht erweichen. Nicht mal, als Lea ihr erklärte, dass Sarah sonst bestimmt mit Lisa gehen würde. Ihre Mutter verstand nicht mal das Problem! Aufhören. Jetzt! Sie würde ab sofort nicht mehr an Lisa denken, bloß nicht, die war doch nur – Leas Kopf knallte gegen den Vordersitz. Der Fahrer machte eine Vollbremsung, die Fahrgäste rutschten aus ihren Sitzen, dann schlingerte und rutschte der Bus quietschend über die nasse Landstraße. Lea umklammerte mit beiden Händen den Vordersitz. Sie schmeckte Blut. Hatte sie sich auf die Lippe gebissen? Der Bus holperte wie ein Radiergummi über die Landstraße, dann kam er mit einem Ruck schwankend zum Stehen. »Verdammtes Arschloch!«, brüllte der Fahrer jetzt. Die Tür öffnete sich zischend, der Fahrer sprang auf, hielt sich am Rahmen fest und lehnte sich nach draußen. Er sah sich um. Suchte etwas im endlosen Grün. Sprang schließlich aus dem Bus. Die wenigen Fahrgäste rappelten sich auf und sahen sich fragend an. Manche guckten aus dem Fenster, andere gingen zur vorderen Tür. Sie tuschelten aufgeregt miteinander. Das wird bestimmt richtig spannend hier, wenn die wegen einer Vollbremsung schon dermaßen aus dem Häuschen sind, dachte Lea. Sie kroch unter den Sitz, um die Sachen aufzusammeln, die aus ihrer Tasche gefallen waren. Ihr Notizbuch, ein Lippenstift, bei dem sie sich fragte, was sie hier überhaupt damit machen sollte, ihr Smartphone, das hier im Nirgendwo natürlich keinen Empfang anzeigte. Sie nahm einen Stift und schrieb: Ich befinde mich zum ersten Mal in meinem Leben seit einer Stunde in einem Funkloch. Wenn Tante Marie und Onkel Benno immer noch kein funktionierendes WLAN haben, drehe ich durch. Warum glaubt meine Mutter, dass Ferien am Arsch der Welt eine gute Idee sind? Was soll ich hier? Mit wem soll ich reden? Die Bevölkerung hier ist mental ausbaufähig. Ich muss mich nur umschauen. Der Bus hat gerade gebremst, und alle sind vollkommen aufgeregt. Meine Güte, ein Bus hat gebremst. Hallo?! Der Busfahrer stieg schwer atmend wieder ein. »Da ist mir eben einer fast vor den Bus gerannt«, erklärte er den Fahrgästen. Einer sagte »Jau«, die anderen nickten schweigend. »Und ich glaube, der hatte nicht mal was an!«, fügte der Fahrer hinzu. Die Fahrgäste nickten noch einmal und setzten sich wieder. Es ist noch schlimmer, als ich dachte. Es sieht ganz danach aus, dass die Menschen hier aus Verzweiflung versuchen, sich nackt gegen Busse zu werfen. Das kann ja heiter werden. Eine Viertelstunde und etliche Maisfelder später rollte der Bus am Ortsschild von Veldhaus vorbei und kam hundert Meter danach schnaufend unter ein paar riesigen Eichen zum Stehen. Endlich hatte es aufgehört zu regnen, dafür tanzten jetzt kleine schwarze Wolken vor den Scheiben. Es dauerte einen Augenblick, bis Lea erkannte, dass es Gewitterfliegen waren. Aber das mussten Millionen sein; es wirkte wie wildes Schneetreiben – nur eben mit Fliegen. Da entdeckte Lea schon ihre Tante und ihren Onkel durch die tropfnassen Scheiben. Sie hatten sich seit dem letzten Sommer kein bisschen verändert. Vermutlich trugen sie sogar noch dieselben Klamotten. »Lea! Ich hätte dich beinahe nicht wiedererkannt!«, rief ihre Tante Marie und umarmte sie, während Onkel Benno die schwere Tasche aus dem Bus wuchtete. »Was sind das denn für Fliegen?«, fragte Lea, während sie mit beiden Händen wedelte, um sie wenigstens von ihrem Gesicht fernzuhalten. »Fransenflügler«, antwortete ihre Tante, die gerne die richtigen biologischen Bezeichnungen verwendete. »Seit ein paar Tagen scheinen die unser Dorf ganz besonders gernzuhaben«, erklärte sie lachend. Regentropfen lösten sich von den Blättern der Eiche und klatschten weich und kalt auf Leas Stirn. Sie zitterte und fühlte sich innerlich durchgefroren. Es war doch Sommer! »Kann ich gleich bei euch heiß duschen?«, fragte sie. »Natürlich kannst du das. Aber jetzt lass dich erst mal anschauen, Kleines«, sagte Onkel Benno und presste Lea an seine breite Brust. »Sag bloß nicht, dass ich groß geworden bin!«, rief sie lachend, dann bekam sie für einen Moment keine Luft mehr – meistens unterschätzte ihr Onkel seine eigene Kraft. Sein Hemd roch vertraut nach Schafstall und abgebranntem Kaminholz. »Ich soll euch von Mama grüßen!« Lea lächelte die beiden an. Ohne auf eine Reaktion zu warten, schob sie gleich die für sie dringende Frage hinterher: »Funktioniert euer WLAN eigentlich?« »Sicher«, sagte Onkel Benno. »In der Küche läuft das ganz prima. Manchmal jedenfalls.« »Du sollst dich doch sowieso erholen und nicht ständig in deinen Computer gucken«, fügte Tante Marie aufmunternd hinzu. »Das ist ein Scherz, oder?«, fragte Lea atemlos, plötzlich panisch. »Oder?« Ihr Onkel und ihre Tante sahen sie jedoch nur verständnislos an. Beim Abendessen saßen sie zu dritt am großen Tisch in der gemütlichen Küche. Lea hatte ein Handtuch um ihre nassen Haare gewickelt. Ihr war endlich wieder warm, und sie roch wohlig nach Milch und Honig. Das stand zumindest auf dem Duschgel in der Badewanne. Obwohl es noch recht früh war, mussten sie die Lampe über dem Tisch anschalten. Lea schaute aus dem Fenster. Draußen hingen die grafitgrauen Wolken so tief, dass es schien, als würde es gleich Nacht werden. Im nahe gelegenen Wald sah Lea kurz ein gelbes Augenpaar aufblitzen. Aber vielleicht hatte sie sich auch vertan, denn als sie noch mal hinsah, war es verschwunden. Onkel Benno schenkte Tee ein, und Tante Marie schnitt extradicke Scheiben vom frischen Brotlaib ab. »Nimm was von dem Schinken, der ist besonders gut gelungen«, forderte Benno seine Nichte auf. Lea zögerte. »Du bist doch nicht etwa Vegetarierin?«, fragte er. »Noch nicht«, antwortete sie, nahm etwas Salat aus der Schüssel und belegte dann ihr Brot dick mit Schinken. Sie lächelte Benno an: »Siehste?« »Ist vom Nachbarn, der Schinken«, sagte Tante Marie. »Die Tiere sind immer draußen auf der Wiese. Ist also sozusagen alles Bio.« Lea sah nach draußen in Richtung des Nachbargrundstücks. Da waren keine Schweine auf der Wiese. Da waren überhaupt keine Tiere. »Ich sehe keine Schweine.« »Jau«, murmelte Onkel Benno, und Tante Marie fragte schnell, was die Schule so machte. Zu schnell. »Wie immer.« Lea sah ihre Tante ernst an. »Warum sind da draußen keine Tiere?« »Weil es regnet«, sagte Onkel Benno. Und damit war das Thema für ihn abgeschlossen. »Was machen wir morgen?«, fragte Lea später, als sie ihrer Tante half, die Küche aufzuräumen. »Erhol dich doch erst mal«, gab Marie zurück. »Vielleicht hört der Regen ja auf, und wir können schwimmen gehen«, schlug Lea hoffnungsvoll vor. Marie sah aus dem Fenster und schüttelte den Kopf. »Glaub nicht, dass der Regen morgen aufhört.« »Regnet es denn schon den ganzen Tag?« Lea schaute ebenfalls nach draußen. »Seit Tagen, und das hört auch wohl so schnell nicht mehr auf«, erwiderte Marie. Auch das noch! Nachdem Lea festgestellt hatte, dass das WLAN tatsächlich nicht bis in ihr Zimmer reichte, stand für sie nun endgültig fest: Dies versprach der ödeste Urlaub seit Menschengedenken zu werden. Aber so leicht gab sie nicht auf. »Habt...