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E-Book

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Engler Brüche

Ein ostdeutsches Leben

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-8412-3609-8
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wolfgang Engler hat die ostdeutsche Seelenverfassung wie kein Zweiter erforscht. Nun erscheint das persönlichste Buch des großen ostdeutschen Soziologen, unverwechselbar im Ton, spielerisch, ohne an analytischer Schärfe zu verlieren.

Mit Blick auf die gegenwärtigen Erosionen der deutschen Gesellschaft und nach einer eigenen tiefen inneren Krise schreibt der Soziologe Wolfgang Engler sein persönlichstes Buch. Mit großer Offenheit und Radikalität legt er Zeugnis ab, wie es kaum jemand seiner Generation und Herkunft bislang in Deutschland getan hat. Orientierung sind dabei vor allem die Bücher französischer Autoren der letzten Jahre. Édouard Louis, Didier Eribon und Annie Ernaux - ihre Schilderungen über Klassen- und Lagerwechsel, soziale Verwerfungen und politische Einschnitte sind Engler Wegmarken, anhand derer er seinen eigenen Lebensweg und den der Gesellschaft, aus der er kam und in die er ging, erzählt.  



Wolfgang Engler, geboren 1952 in Dresden, Soziologe und langjähriger Dozent an der Schauspielhochschule »Ernst Busch« in Berlin, von 2005 bis 2017 dort Rektor. Bei Aufbau erschienen »Unerhörte Freiheit. Arbeit und Bildung in Zukunft«, »Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land«, »Die Ostdeutschen als Avantgarde« und »Bürger, ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft«. Zuletzt, zusammen mit Jana Hensel, »Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein«. Er lebt in Berlin.
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Ein Schlag ins Gesicht


Einmal, ich ging noch zur Schule, in die achte oder neunte Klasse, bestahl ich eine Mitschülerin. Sie hatte ihrer Banknachbarin ein aus dem Westen nach Ostberlin eingeschmuggeltes Heft der Jugendzeitschrift Bravo gezeigt, ich saß eine Reihe hinter ihr und beobachtete das. Neid packte mich, allein wegen der großformatigen Poster von Bands, die ich verehrte. In der großen Pause entnahm ich das Begehrte ihrem Schulranzen und verstaute es in meinem. Sie bemerkte den Diebstahl sofort nach ihrer Rückkehr. Um jeden Verdacht von mir abzulenken, murmelte ich den Namen eines Mitschülers, den ich obendrein zu meinen engeren Freunden zählte. Eine gleich doppelte Verfehlung des Jugendlichen, der ich war. Eine Taschenkontrolle unter Aufsicht des Lehrers hätte Klarheit geschaffen. Aber dazu kam es nicht. Schließlich handelte es sich bei der Zeitschrift um Konterbande aus dem Westen. So kam ich unentdeckt davon.

Etwa um dieselbe Zeit, ich war fünfzehn, sechzehn Jahre alt, begannen meine Raubzüge, 1967, 68, in den gerade neu eröffneten Kaufhallen. Zusammen mit drei anderen klaute ich Zigaretten, die wir uns, mehrheitlich Arbeiterkinder vom Prenzlauer Berg, von unserem eng bemessenen Taschengeld nicht leisten konnten. Das ging eine Weile gut, dann flogen wir auf. Die Polizei erschien, wir kamen aufs Revier, die Eltern wurden verständigt und holten uns ab, wobei es, dem damaligen Stand der Erziehungssitten entsprechend, einigermaßen ruppig zuging. Tags darauf tauschten wir in der Schule aus, was uns daheim an Ärger widerfahren war. Am meisten ärgerten wir uns über uns selbst, unsere Ungeschicklichkeit, und dass man uns nun eine Zeit lang die »Bezüge« kürzen würde; dumm gelaufen. Die häusliche Lektion tat ihre Wirkung, um verschärften Konsequenzen zu entgehen, ließen wir von weiteren Beutezügen ab.

Ich war mir beide Male der Tatsache wohl bewusst, eine soziale Norm zu übertreten, schon, als ich den Vorsatz dazu fasste, hatte ich ein mulmiges Gefühl, das sich jedoch nur im ersten Fall zu echten Gewissensbissen steigerte. Zigaretten klauen war damals so etwas wie ein Kavaliersdelikt, das taten viele in meinem Alter. Auch gehörte das Diebesgut ja niemandem konkret, keiner litt persönlich Schaden. Und so machte ich, wie die drei anderen auch, kein Geheimnis aus der Angelegenheit, ließ mich sogar bedauern.

Mein Griff in die Tasche der Klassenkameradin löste weit stärkere Gefühle in mir aus. Mein Opfer hatte ein Gesicht, war eine von uns, seit Schulbeginn. Indem ich Hand an etwas legte, das ihr gehörte, überschritt ich eine allseits bewachte Grenze und riskierte meinen Ruf im Klassenverband. Das konnte schlimme Folgen haben, dauerhafte. Aber etwas beunruhigte mich in noch höherem Grade. Um meine Tat zu vertuschen, belastete ich einen Freund, setzte seine Freundschaft aufs Spiel. Wie konnte das geschehen? Wer war ich in diesem Augenblick? Schließlich überfiel es mich wie eine Offenbarung: In mir steckte einer, dem man nicht trauen konnte, dem ich nicht trauen konnte. Ich erschrak vor mir selbst, memorierte meinen Verrat: »Ich glaube, es war J.« Ich konnte das nicht von mir abtun, mich damit aber auch nicht identifizieren. Ratlos spürte ich, wie sich ein Gefühl mit derselben Plötzlichkeit in mir ausbreitete, mit der mir die unsäglichen Worte über die Lippen gekommen waren. Ich vermute, es war Scham. Sie klingt noch heute nach, wenn ich daran denke. Der Belastete blieb mein Freund, für viele Jahre. Ich habe ihm das nie erzählt. Ich schämte mich zu sehr.

Es blieb nicht die einzige Episode dieser Art. Die Erinnerung verzeichnet zahlreiche Momente einer unerklärlichen Fremdheit mir selbst gegenüber. Wiederkehrend dachte, schrieb, handelte ich auf eine Weise, die meinem Selbstbild grundsätzlich widersprach. Der Mensch, der sich mir dann im Rückblick zeigt, ist mir nicht geheuer. Er möchte zu mir aufschließen, sich mit mir versöhnen. Aber ich stoße ihn von mir.

Viele Jahrzehnte nach jenem Verrat verbrachte ich während eines Aufenthalts in einer psychiatrischen Klinik einige Tage auf einer »geschützten« Station. Der Ausgang war fest verschlossen, ich befand mich unter Mitpatienten, die es seelisch teilweise härter getroffen hatte. Manche liefen rastlos umher, andere schrien wie unter schweren körperlichen Schmerzen, wieder andere waren völlig in sich gekehrt, wirkten wie versteinert. Um mir, zumindest im Inneren der Station, etwas Auslauf zu verschaffen, lief auch ich umher. Da kam einer aus dem Nebenzimmer auf mich zu, schlug mir im Vorübergehen urplötzlich mit der Faust ins Gesicht und stahl sich wie ein Dieb sogleich davon. Ich geriet kurz aus der Fassung, rief um Hilfe, Pfleger kamen, schafften es schließlich, mich zu beruhigen. Was länger anhielt als der körperliche Schmerz, war das Gefühl, in meiner Integrität verletzt zu sein.

Aber war ich überhaupt persönlich gemeint? Wohl kaum. Es war nicht sein erster Ausraster. Dennoch: Er hatte mich als Punchingball benutzt, im wahrsten Sinne des Wortes getroffen. Sank meine Selbstachtung? Mein Selbstwertgefühl litt schon zuvor. Stieg Scham in mir auf? Vermutlich nicht. Ich konnte sogleich über das Geschehene sprechen, kann es heute, sogar darüber schreiben. Kann man sich als Opfer einer solchen Tat überhaupt selbst »richtig« schämen? Stünde das nicht vielmehr dem Täter zu? »Meiner« hat sich später, in einem seiner ruhigeren Momente, bei mir entschuldigt.

Um Scham zu empfinden, muss man weder Täter noch Opfer sein. Es gibt die Scham des Augenzeugen, der etwas mit ansieht, das er um seines Seelenheils willen niemals hätte mit ansehen dürfen. Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux erlebte als Zwölfjährige, wie ihr Vater ihre Mutter mit einem Beil erschlagen wollte. Davon kam sie nie wieder los. »Von nun an war unser ganzes Leben schambesetzt. Das Pissoir im Hof, das gemeinsame Schlafzimmer […] die Ohrfeigen und Schimpfwörter meiner Mutter, die betrunkenen Gäste und die Familien, die bei uns anschreiben ließen. […] Es war normal, sich zu schämen, als wäre die Scham eine Konsequenz aus dem Beruf der Eltern, ihren Geldsorgen, ihrer Arbeitervergangenheit, unserer ganzen Art zu leben. Die Scham wurde für mich zu einer Seinsweise. Fast bemerkte ich sie gar nicht mehr, sie war Teil meines Körpers geworden.«1

Keine häusliche Szene, deren Zeuge ich war, reicht an Dramatik an die von Ernaux geschilderte heran. Allerdings erzählte mir meine Mutter, dass ihr Mann sie geschlagen hätte, in den Dresdner Jahren, als er sie mit zahlreichen Geliebten betrog und sie dagegen aufbegehrte. Einmal wäre sie mit dem Gesicht gegen einen Bettpfosten geprallt, worauf ihre Schläfe platzte und Blut floss. Das und seine »Weibergeschichten« verzieh sie ihrem Gatten nie. Einmal, das war schon in Berlin, wollte sie ausbrechen, verlor dann aber den Mut und blieb, und so wurden sie zusammen alt. Dafür, dass ihre Ehe nicht zerbrach, verdiente sie nach ihren eigenen Worten einen »Durchhalteorden«. Demgemäß nüchtern, pflichtgemäß, von Alltagsroutinen bestimmt, gestaltete sich ihr Zusammenleben. Einzig am Wochenende tauten sie bei einem Glas Wein etwas auf, wurden gesprächig und riefen frühere Zeiten wach, ihr Kennenlernen, gemeinsame Erlebnisse, den Krieg. Liebkosungen, Zärtlichkeiten erinnere ich nicht. Auch sah ich sie niemals eng umschlungen. Mit einer Ausnahme. Und gerade die offenbarte ihre Erziehung der Gefühle. Das war während meiner Lehrzeit. Ich kam spät nach Hause, wollte vor dem Zubettgehen noch etwas trinken und öffnete die Küchentür. Da sah ich sie, meine Mutter auf dem Schoß meines Vaters, beide umarmten sich innig und küssten sich. Eine leere Weinflasche auf dem Tisch verriet, dass sie einiges getrunken hatten und mich wohl auch deshalb nicht bemerkten. Mein bloßes Hinzutreten erstickte das späte Aufflackern der Leidenschaft im Nu. Kaum sah mich meine Mutter, löste sie sich aus der Umarmung und setzte sich auf einen Stuhl neben meinem Vater. Sie benahm sich, als wäre etwas Unanständiges geschehen.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass die meisten Eltern meiner Lehrkameraden wie schon zuvor die meiner Schulfreunde ähnlich verstört reagiert hätten, wären sie »erwischt« worden. Die emotionalen Standards unserer Ernährer waren gänzlich andere als die vieler heutiger Eltern. Das betraf auch den Umgang mit uns, ihren Kindern. Sie hatten uns in die Welt gesetzt, versorgt, großgezogen, nahmen Anteil an unserer Entwicklung, ...


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