E-Book, Deutsch, 496 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Mit einem Nachwort des Autors
E-Book, Deutsch, 496 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1022-0
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Los Angeles 1947: Auf einem verlassenen Grundstück wird die Leiche einer jungen Frau entdeckt – nackt und bestialisch zugerichtet. Der Mord der Schwarzen Dahlie macht Schlagzeilen und löst die größte Verbrecherjagd in der Geschichte Kaliforniens aus. Für Bucky Bleichert und Lee Blanchard vom Los Angeles Police Department wird die Suche nach dem Mörder zur Obsession.
Band 1 des berühmten L.A.-Quartetts.
Lesen Sie auch Die Rothaarige. Die Suche nach dem Mörder meiner Mutter - James Ellroys wichtigsten autobiographischen Text; ein Klassiker der Kriminalliteratur.
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PROLOG
Lebend bin ich ihr nie begegnet. Sie existiert für mich durch andere, bezeugt ihr Leben mittelbar in den Folgen, in die ihr Tod jene getrieben hat. Mich in die Vergangenheit zurückarbeitend, einzig um Tatsachen bemüht, erstand sie vor mir als ein trauriges kleines Mädchen und eine Hure, bestenfalls jemand, aus dem etwas hätte werden können – ein Etikett, das möglicherweise auch auf mich zutrifft. Ginge es nach meinen Wünschen, ich hätte ihr ein Ende in Anonymität zugebilligt, sie abgeschoben in den Abschlußbericht eines Ermittlers der Mordkommission, ein paar knappe, karge Worte, Durchschlag an die Staatsanwaltschaft und dann noch ein bißchen mehr Papierkram, der ihre letzte Fahrt zum Schindanger begleitet. Das einzige, was an diesem Wunsch nicht stimmen kann, ist, daß sie es selbst nicht so gewollt hätte. So brutal, wie die Fakten waren, hätte sie darauf bestanden, daß sie alle bekannt werden. Und weil ich ihr eine Menge schulde und der einzige bin, der die ganze Geschichte kennt, habe ich es übernommen, diese Erinnerungen zu schreiben. Aber vor der Dahlie war die Partnerschaft, und davor waren der Krieg und militärische Gängeleien und die Manöver bei der Central Division, die uns daran erinnern sollten, daß auch Polizisten Soldaten sind, selbst wenn wir weitaus weniger populär waren als diejenigen, die gegen die Deutschen und die Japse kämpften. Nach dem Tagesdienst war jeder Streifenmann verpflichtet, an Luftschutzübungen, Verdunklungsübungen und Brandräumungsübungen teilzunehmen, bei denen wir in Habachtstellung in der Los Angeles Street standen und den Angriff einer Messerschmitt ersehnten, damit wir uns weniger wie Narren fühlen müßten. Der Tagesappell verlangte Aufstellung in alphabetischer Reihenfolge, und kurz nach meinem Abschluß an der Polizeiakademie im August ’42 begegnete ich daher auch Lee. Ich kannte seinen Ruf, und unsere jeweiligen Kampfberichte wußte ich auswendig herzusagen: Lee Blanchard, 43-4-2 im Schwergewicht, ehemalige Dauerattraktion im Hollywood Legion Stadium; und ich: Bucky Bleichert, Halbschwergewicht, 36-0-0, ehemals auf Rang 10 in der Boxzeitschrift Ring geführt, wahrscheinlich weil Nat Fleischer von der Art und Weise belustigt war, wie ich Gegner mit meinen großen Raffzähnen höhnisch angrinste. Dennoch ließen die Statistiken einiges aus. Blanchard hatte einen knallharten Schlag, steckte sechs weg, um einen auszuteilen, der klassische Kopfjäger; ich tänzelte und konterte und schlug Leberhaken, stets die Deckung oben behaltend, aus Angst, daß das Wegstecken zu vieler Kopftreffer meinem Aussehen noch mehr schaden würde, als es bereits meinen Zähnen geschadet hatte. Stilistisch gesehen, waren Lee und ich wie Öl und Wasser, und jedesmal, wenn beim Appell unsere Schultern aneinanderstießen, mußte ich mich fragen: wer würde wohl gewinnen? Fast ein volles Jahr lang umkreisten wir einander. Wir sprachen nie über Boxen oder Polizeiarbeit und beschränkten unsere Unterhaltung auf ein paar Worte über das Wetter. Körperlich waren wir so gegensätzlich, wie es zwei große Männer nur sein konnten: Blanchard war ein Rotblonder, ein Meter achtzig groß, mit mächtigem Brustkorb und Schultern, stämmigen O-Beinen und beginnendem Bauchansatz; ich war blaß und dunkelhaarig, ein Meter neunzig lang und nichts als Knochen und Muskeln. Wer würde wohl gewinnen? Ich gab es schließlich auf, einen Sieger vorauszusagen. Doch andere Cops griffen die Frage auf, und während dieses ersten Jahres im Central bekam ich zig Meinungen zu hören: Blanchard durch vorzeitigen K. O.; Bleichert nach Punkten; Blanchard Abbruchsieger nach Verletzung – Verlierer durch Abbruch – alles, nur nicht Bleichert Sieger durch K. O. Sobald ich außer Sichtweite war, hörte ich Geflüster über unsere Taten außerhalb des Rings: Lee, der zum Los Angeles Police Department mit dem Versprechen rascher Beförderung gegangen war, weil er auf geschlossenen Saufgelagen, die von der Polizeiführung und ihren politischen Freunden veranstaltet wurden, geboxt hatte, der den Bankraub in der Boulevard-Citizens-Bank, damals im Jahre ’39, geknackt und sich dann in die Freundin eines der Bankräuber verliebt hatte, sich eine sichere Versetzung zur Kriminalabteilung vermasselte, indem er mit der Mieze zusammengezogen war – in klarer Verletzung der Dienstvorschriften über wilde Ehen –, und die ihn dann auch noch gebeten hatte, das Boxen aufzugeben. Die Gerüchte über Blanchard trafen mich wie kleine, angetäuschte linke Gerade, und ich fragte mich, was daran wahr sein mochte. Die Bruchstücke meiner eigenen Geschichte wirkten dagegen wie volle Körpertreffer, denn sie waren hundertprozentig reiner Stoff: Dwight Bleichert, der auf der Flucht vor übermächtigen Zeitumständen zur Polizei geht, bedroht vom Rausschmiß aus der Academy, als die Mitgliedschaft seines Vaters im Deutsch-Amerikanischen Bund bekannt wird, dazu genötigt, die japanischen Jungen, mit denen er aufgewachsen war, für die Alien Squad, die Ausländerpolizei, zu verpfeifen, um seine Anstellung beim L.A.P.D. zu sichern. Nicht gefragt bei Schaukämpfen auf Privatparties, weil er kein K. O.-Schläger war. Blanchard und Bleichert: ein Held und ein Spitzel. Wenn ich daran zurückdenke, wie Sam Murakami und Hideo Ashida mit Handschellen gefesselt unterwegs nach Manzanar waren, mochte es leicht erscheinen, beide, ihn und mich, auf einen Nenner zu bringen – jedenfalls zunächst. Dann traten wir beide Seite an Seite in Aktion, und meine anfänglichen Vorstellungen über Lee – und über mich selbst – zerstoben auf einen Schlag. Es war Anfang Juni ‘43. In der Woche davor hatten Matrosen am Lick Pier in Venice Streit mit Mexikanern angefangen, die die berühmten Zoot-Suits, Anzüge mit taillierten Jacken und Röhrenhosen, trugen. Das Gerücht ging um, daß einer der Blaujacken ein Auge verloren hätte. Jetzt kam es auch im Hinterland zu Scharmützeln: Mannschaften vom Marinestützpunkt Chavez Ravine gegen Pachucos in Alpine und Palo Verde. Die Zeitungen machten Andeutungen, daß die Zooters nicht nur Springmesser, sondern auch Nazi-Embleme mit sich führten. Und Hunderte von uniformierten Matrosen und Marineinfanteristen fielen in die Innenstadt von Los Angeles ein, bewaffnet mit Totschlägern und Baseballknüppeln. Man ging davon aus, daß eine etwa gleiche Anzahl von Pachucos sich vermutlich in der Nähe der Brew 102 Brewery in Boyle Heights, ausgerüstet mit vergleichbarer Bewaffnung, zusammenrottete. Jeder Streifenmann der Central Division wurde zum Bereitschaftsdienst abkommandiert. Man verpaßte ihnen Stahlhelme aus dem Ersten Weltkrieg und übergroße Schlagstöcke, die als Nigger Knocker bekannt waren. Im Morgengrauen wurden wir in Bereitschaftswagen, die von der Army ausgeliehen worden waren, zum Schlachtfeld gekarrt, und die einzige Order lautete: die Ordnung wiederherstellen! Unsere Dienstrevolver waren uns in der Einsatzzentrale abgenommen worden; die Führung wollte nicht, daß die 38er den Lackaffen, Kacklaffen, Zierbengeln, mexikanischen Gangstern mit Entenschwanzfrisuren in die Hände fielen. Als ich Ecke Evergreen und Wabash vom Wagen heruntersprang, mit nichts als einem dreipfündigen Knüppel mit umwickeltem Handgriff ausgerüstet, hatte ich zehnmal mehr Angst, als ich je im Ring ausgestanden hatte, und das nicht, weil das Chaos von allen Seiten über uns hereinbrach. Ich hatte Angst, weil die netten Jungs in Wirklichkeit die bösen Jungs waren. Die Seeleute traten überall entlang der Evergreen Fenster ein; Marineinfanteristen in Uniform zerschmissen systematisch Laternen, um sich möglichst große Dunkelheit für das zu schaffen, was sie vorhatten. Alle Eifersüchteleien zwischen Waffengattungen und Diensträngen waren vergessen. Soldaten und Kommißköppe stürzten Autos um, die vor einer Bodega geparkt waren, während Kadetten in kurzärmeligen weißen Hemden und weit ausgestellten weißen Hosen mit Knüppeln die Scheiße aus einer zahlenmäßig hoffnungslos unterlegenen Gruppe von Zooters auf dem Bürgersteig ein Haus weiter herausprügelten. Am Rand des Geschehens konnte ich mit ansehen, wie Trüppchen meiner Kollegen mit Schlägern der Küstenwache und Militärpolizisten fraternisierten. Ich weiß nicht, wie lange ich so benommen herumstand und mich fragte, was ich tun sollte. Schließlich schaute ich die Wabash entlang in Richtung First Street, sah dort kleine Häuser, Bäume und keine Pachucos, Cops oder blutrünstige G. I.s. Bevor ich wußte, was ich tat, rannte ich im Eiltempo darauf zu. Ich hätte weiterrennen können, bis ich umgefallen wäre, doch ein meckerndes Lachen aus einem Hauseingang brachte mich schlagartig dazu, stehenzubleiben. Ich ging auf die Stimme zu. In schrillen Tönen rief sie mir entgegen: »Du bist schon der zweite junge Copper, der sich aus dem Schlamassel verdünnisiert. Kann’s dir nicht verdenken! Schwer zu sagen, wem man eigentlich die Armbänder anlegen soll, wie?« Ich stand vor der Veranda und schaute zu dem alten Mann hoch. Er sagte weiter: »Im Radio sagen sie, die Taxifahrer machen Touren hoch zum U. S. O. oben in Hollywood und fahren die Matrosen dann hierher. Der KFI nennt es einen ›Marineeinsatz‹ und spielt alle halbe Stunde »Anchors Aweigh«. Die Straße runter habe ich Ledernacken gesehen. Glaubst du, daß das hier das ist, was man ein Landungsunternehmen nennt?« »Ich weiß auch nicht, was es ist, aber ich gehe zurück.« »Du bist nicht der einzige, der den Schwanz eingekniffen hat, weißt du. Auch ein anderer großer Kerl kam pronto hier vorbeigerannt.« Der Alte sah jetzt aus wie eine verschlagene listige Ausgabe meines eigenen Vaters. »Es gibt da ein paar Pachucos,...