E-Book, Deutsch, Band 3402, 172 Seiten
Reihe: Grusel Thriller
Elbracht Grusel-Thriller 02: Der Todesengel
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-95719-955-3
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 3402, 172 Seiten
Reihe: Grusel Thriller
ISBN: 978-3-95719-955-3
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Eine Gestalt hält 1945 in den Trümmern des zerbombten Kölns Ausschau nach Kindern, die der Krieg zu leichten Opfern gemacht hat. Fünfundsiebzig Jahre später geht es für Helene Gniffke, eine gewiefte, aber abgebrannte Maklerin, um alles oder nichts. Ihre neue Mandantin, eine ältere, vermögende Frau, scheint die allerletzte Chance zu sein, um den bevorstehenden Ruin abzuwenden. Helene braucht das Geld und übersieht dabei all die merkwürdigen Dinge, mit denen sich die alte Lady umgibt.
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Davon geht die Welt nicht unter
Gerda Grope verlor ihren von der Mutter feinmaschig und noch zu Friedenszeiten gestrickten Handschuh in jenem verzweifelten Moment, als ihr Vater und sie kurz vor der Tür zum riesigen Hochbunker auseinandergerissen wurden. Und mit dem Handschuh kam ihr augenblicklich auch jede Hoffnung und Zuversicht abhanden, den Vater jemals wiederzusehen, und ohne ihn, daran hatte sie keinen Zweifel, würde sie in der Menge der drängelnden Leiber untergehen, zerquetscht werden oder eines anderen grausigen Todes sterben. Das Dröhnen der Bomber schob sich mit mächtigem Bass durch das Schrillen der Sirenen, gemeinsam kreischten und brüllten sie ihren Abgesang. „Du wirst sterben!“, riefen sie und es gellte in ihrem Kopf, als wären es wirkliche Worte, die der Lärm nur für sie gebar. Ihre verschwitzte rechte Hand zitterte und übertrug das Beben in einer Welle auf den restlichen Körper. Gerda war links des Vaters gegangen, wie sie es immer tat. Nur dort gab es eine Hand für sie zu greifen. Der Vater hatte den rechten Arm verloren. Verloren, dachte sie hysterisch, so sagten die Leute immer dazu. Als ob sich ein Arm so leicht verlieren ließe wie ein Handschuh. Gerda schrie auf, dann erstickte hartes, tonloses Schluchzen den kläglichen Laut. Die Menschenleiber drückten sie dem Eingangstor zu, das wie ein gieriger Schlund offenstand und den Gestank von Trostlosigkeit und Angst ausstieß. Plötzlich war wieder mehr Raum um Gerda, der sie einen Hauchbreit tiefer atmen ließ. Eine imposante Frau bahnte sich den Weg an ihre Seite, und obwohl es eigentlich nicht möglich sein konnte, schien sie mühelos durch die Menge zu gleiten. Schob sie die Menschen beiseite oder wichen sie zurück? Gerda staunte und griff nach der Hand der Frau, bevor sie überhaupt darüber hätte nachdenken können. „Mein Vati“, flüsterte sie mit brechender Stimme und einem Beben, das sogar die Zähne wie im Schüttelfrost aufeinanderschlagen ließ. „Kumm, Leevje“, forderte die Frau sie freundlich auf, „wir finden deinen Papa später. Jetzt müssen wir erst mal rein in die Burg, bevor es Bomben regnet. Ich habe nämlich keinen Schirm dabei.“ Die dunkle Stimme der Frau setzte sich volltönend gegen jeglichen Umgebungslärm durch, ohne den Eindruck von Anstrengung zu erwecken. Gerda grinste schief im Rhythmus ihres schnappenden Luftholens und ließ sich in den Rachen des Bunkers ziehen. Sie sah den hasserfüllten Blick eines Bunkerwarts, der einem Jungen in Uniform den Zutritt verweigerte und ihn grob nach draußen stieß. „Solltest im Feld sein und das Vaterland verteidigen, Feigling. Von mir aus kannste da draußen verrecken, do Hungk!“ Der Bunkerwart schnaufte wütend, doch als er die Frau an Gerdas Seite sah, bekam sein Gesicht etwas Unterwürfiges. „Hier entlang, die Damen“, sagte er und gab einen winzigen Durchgang frei, den Gerda zuvor gar nicht bemerkt hatte. Er tippte sich an die Mütze und senkte den Blick. Gerdas Beschützerin – denn als solche betrachtete Gerda sie bereits, obwohl sie nichts über die Frau wusste und ihr das Ganze unheimlich war – nickte ihm spöttisch zu. Wieder sagte sie: „Kumm, Leevje“, und schob Gerda durch einen Gang in einen ruhigen Teil des Bunkers, in dem es schmale Kammern gab, die an Logen in einer Oper erinnerten. Hier suchten wohl diejenigen Zuflucht, die selbst noch mitten im Krieg genug Macht oder doch zumindest die Mittel für diese vermutlich kostspielige Unterbringung hatten. Die Frau ließ Gerda auf einer Bank Platz nehmen und so lange in ihrem Arm schluchzen, bis sie sich etwas beruhigt hatte. Abgesehen von Leevje, mit dem sie sie ansprach, hatte die Frau keinen erkennbaren Dialekt. Sie sprach nicht dieses Kölsch, mit dem sich Gerda so schwertat, das sie kaum verstand und dessen Zisch- und Rachenlaute sie entweder an Schlangen oder bissige Raubtiere denken ließen. Manchmal setzte ihr Gehirn diese beiden Schreckensbilder auch zu einer einzigen unheilvollen Bestie zusammen. „Ich heiße Griseldis von Wauwalack“, sagte die Frau, tätschelte Gerdas Schulter, zupfte dann an ihrem Kopftuch, als wollte sie eine aufwendige Frisur richten, und strich den Rock über ihren Knien glatt. „Wie ist denn dein Name, Leevje?“ „Gerda. Gerda Grope.“ Gerdas Stimme war nun wieder hörbar, was nicht nur daran lag, dass die Stimmen der Menschen zu leisem Murmeln verkommen waren, sondern weil sie endlich wieder richtig atmen konnte. Es roch in diesem seltsamen und vermutlich geheimen Separee zwar immer noch nach Bunker, aber auch nach anderem, besserem, vor allem nach Griseldis von Wauwalacks süßlichem Eau de Cologne und den sauberen Pelzbesätzen ihrer Kleidung. „Wir finden deinen Vater später, kleine Gerda Grope. Ganz bestimmt.“ Die Frau tätschelte Gerdas Wange. Ihre Lederhandschuhe hatte sie bislang nicht ausgezogen. „Es gibt eine Stelle am Bahnhof, einen Treffpunkt, an dem sich alle Verirrten und unfreiwillig Getrennten wiederfinden. Ich werde dich hinbringen. Mach dir keine Sorgen.“ Sie lachte tief und moduliert. Für Gerda klang es wie ein Lied oder vielmehr wie jenes Summen, das manchmal einem seelenvollen Schlager vorausging. „Wenn Sie es sagen, Frau von Wauwalack“, piepste Gerda, die zwischen Eingeschüchtertsein und wieder auferstehenden Lebensgeistern hin- und hergerissen war. Obwohl sie saß, schob sie automatisch einen Fuß hinter die Wade, als ob sie einen artigen Knicks absolvieren wollte. Wieder lachte die Frau auf einnehmende Weise, wie Gerda fand, obwohl es durchaus möglich sein mochte, dass sie in diesem Moment ein bisschen ausgelacht wurde. „Lassen wir die Förmlichkeiten, mein Lämmchen. Solange wir hier drin sind, nenn mich doch einfach Tantchen, dann hast du das Gefühl, wir würden einander schon eine Weile kennen, und die Furcht verfliegt wie von selbst. Was meinst du?“ Gerda nickte. Sie hätte nichts gegen eine Tante wie diese gehabt. Ihre eigene Tante, Tante Anna, die der Grund für ihren Vater und sie gewesen war, sich bis nach Köln durchzuschlagen, war schon vor ihrer Ankunft gestorben – erstickt, verbrannt, es gab keine Leiche. Nicht, dass sich Gerda deren Anblick gewünscht hätte. Nach einer Weile sahen die Leichen am Wegesrand ohnehin alle gleich aus. Nur das Schaudern ließ nicht nach, es erfasste Gerda immer ganz, sie konnte nicht dagegen abstumpfen, wie der Vater es riet. Zu ihrem Schutz, so sagte er, dürfe sie sich nicht jeden einzelnen Toten zu Herzen nehmen. „Tantchen“, flüsterte Gerda mit einem feinen Lächeln und wiederholte dann fester: „Tantchen!“ „Du hast aber niedliche Grübchen, kleine Gerda“, sagte Griseldis von Wauwalack und tupfte mit der samtweichen Lederkuppe rechts und links auf Gerdas Wangen und tat so, als ob sie die Grübchen eingefangen hätte und nun in ihre Manteltasche stecken wollte. Eigentlich war Gerda zu alt für derlei Späße, aber in diesem Moment lachte sie gern noch einmal wie ein kleines Kind. Vom ebenmäßigen, leicht flächigen Gesicht der Frau ging ein Leuchten aus, das in merkwürdigen Gegensatz zur dürftigen Notbeleuchtung stand. Es eroberte sich den Weg durch das Zwielicht, als ließe sich so etwas durch pure Willenskraft bewerkstelligen. Überhaupt erinnerte Gerda ihr neues Tantchen, oder vielmehr ihr Tantchen auf Zeit, denn es sollte ja nur so lange gelten, bis sie wieder beim Vater war, an jemanden aus der Welt des Kintopps, eine Schauspielerin. Wie hieß die denn noch gleich? Diese nordische Sängerin mit dem hart gerollten R, ach ja, Zarah Leander. Gerda bemerkte, dass sie ihre Gedanken wohl versehentlich laut ausgesprochen haben musste, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, überhaupt die Lippen bewegt zu haben. Doch die Tante lachte und gab sich geschmeichelt, also musste sie es wohl gehört haben. „Na, zumindest sind wir beide, die Zarah und ich, echte Fussköpp“, sagte sie und Gerda lernte, dass fussich das Kölsche Wort für rothaarig war. „Hast du schon einmal einen Film mit ihr gesehen?“, fragte Tantchen, als existierten weder dröhnende Bomber noch der grauenerregende Lärm von Detonationen. Es fühlte sich nicht unangenehmer an, als mit jemandem im Wartezimmer eines Zahnarztes höflich zu plaudern. „Ja, ich war schon ein paar Mal im Kino. Zuhause. In Danzig. Die große Liebe“, erklärte Gerda, die zwischendurch vergaß, dass sie ja Fremde waren. Auch fiel ihr nicht auf, dass durch ihre Worte unklar blieb, ob Danzig ihre große Liebe war oder der Film so geheißen hatte. Das Tantchen fragte indes interessiert nach, und ehe sich Gerda versah, hatte sie alles erzählt, von ihrer Flucht, der Lücke des unerklärlichen Tods der Mutter, und dem etwas leichter zu verstehenden Tod der Tante und wie sich nun abgesehen vom Vater keine Menschenseele auf der Welt mehr um sie scherte. „Außer deinem Vater hast du also keine lebenden Verwandten mehr?“, fragte das Tantchen mitleidig und Gerda schüttelte den Kopf. „Dann bleibe ich für immer dein Tantchen, so em Hätze, ja?“ Sie klopfte sich mit flacher Hand bekräftigend auf die Brust. „Auch wenn wir deinen Vater gefunden haben, einverstanden?“ Gerda nickte dankbar und schluckte schwer an der Wehmut der dieser Tage selten gewordenen Güte, die ihr so unvermittelt und verschwenderisch zuteilwurde. Hätze sollte ihr, so nahm sich Gerda vor, ab jetzt nicht mehr Hetze bedeuten, sondern zum Herzen werden. Dann gab es einen lauten Knall und die Wände des Bunkers wackelten. Kalk rieselte herab auf Griseldis von Wauwalack, der sich Gerda in den Schoß geworfen hatte. „Scht scht“, machte Tantchen...