Von einem, der mit seinen Kindern in die Ferne zog
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-641-07276-6
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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9 No Future Wenn ich darüber nachdenke, weshalb ich im Moment an einer kleinen T-Kreuzung in Torontos zentrumsnahem Norden stehe und unter den müden Augen eines ehemaligen Chiefs der First Nations bereits dem dritten Familien-Van in Folge die Vorfahrt einräume (wie es außer Eltern sonst nur Geisteskranke tun), komme ich nicht am Phänomen der jungen Frau mit großem Hund vorbei. Jeder weiß, was ich meine: städtische Mittzwanzigerinnen, nachlässig gepflegt, von schlurfendem Gang und vollendeter Selbstbezogenheit, die zu Anfang des Jahrtausends scheinbar spontan damit begannen, sich mit großen Mischlingsrüden zu vereinigen. Ich hielt das damals für eine Berliner Epidemie, weiß heute aber, dass tatsächlich die gesamte westliche Zivilisation heimgesucht wurde. Ein Kinderersatz, offenbar. Oder Partnerersatz. Oder beides. Die jungen Singlefrauen von einst sind heute nicht mehr ganz so jung, deren Hunde auch noch lange nicht tot und darüber hinaus durch Jahre artfremder Ernährung von nachhaltigen Verdauungsproblemen geplagt. Ganze Straßenzüge, ja Stadtteile haben sie auf dem Gewissen. Natürlich kümmert sie das nicht. Ein endlos scheinender Berliner Brunchsonntag des Jahres 2002 – wir sind kaum eine Woche zuvor von einer studentischen Wandertour durch Lappland zurückgekehrt (Bärenweg, viertägig). Meine Lebensabschnittspartnerin flicht auf dem Heimweg durch den herbstlich sonnigen Volkspark Friedrichshain wie beiläufig den Wunsch nach einem Hausrüden in die Konversation ein, weist diesen aber, noch bevor ich etwas erwidern kann, für sich mit der Begründung zurück, selbst mit einem neugeborenen Baby lasse sich leichter reisen und sogar wandern. Überdies äußert sie die Vermutung, es sei letztlich der 11. September, der »hinter dieser Hundetick von Berlinerinnen« stecke, insbesondere deren »gründsätzlicher Verunsicherung«, die dazu geführt habe, dass diese »coole Kätzchen«, wie sie sich ausdrückt, »vor Flugsreisen in Wahrheit genauso viel Angst haben wie von der Kinderkriegen«. »Scheiße, Mensch du«, fügt sie hinzu, »wenn morgen das ganze Welt untergeht, hilft so einer Hund auch nicht viel, oder was?« Unser Gespräch währt bis tief in die Nacht. Bei Kerzenschein am Küchentisch beschreibe ich ein schwarz-weißes Poster, das über viele Jahre in meinem Karlsruher Kinderzimmer hing: Hand in Hand standen ein Mädchen und ein Junge in einer Art Gartenanlage und starrten auf einen am Horizont aufsteigenden Atompilz, in dessen bauschigem Zentrum sich der Schriftzug No Future abzeichnete. Beim zweiten Glas Sumpfbeerenlikör erzählt Pia von einem bewölkten Frühlingstag, an dem sie auf ihrem Schulhof Luftballons verkauft hatte (»mit solcher Freundschaftszettel dran und der ganze Schwachsinn«) und am Abend dann – der Wind wehte gen Schweden – unerklärlicherweise mit einem schweren Sonnenbrand auf ihren bezaubernd hohen Wangen heimgekehrt war. Erst zwei Tage später erfuhren die Einwohner Finnlands von dem Reaktorunfall in Tschernobyl. Wir liegen schon im Bett, als auch das geteilte pubertäre Trauma des Aids-Ausbruches zur Sprache kommt. »Hatten wir aller Riesenschiss du, mit der ganze Amerikaner in der Helsinkier Herrenmannschaften und so«, berichtet Pia von ihrer Zeit als junge Nationalspielerin. Ich war damals praktisch zwar nicht betroffen, hatte mich theoretisch aber umso bedrohter gefühlt. Wie sich zeigen sollte, mussten in jenem Herbst noch Tausende weitere Pärchen des zentralen Berliner Ostens vergleichbare Gespräche geführt haben, wobei ich keineswegs verschweigen will, dass es sich im konkreten Fall als ausgesprochen hilfreich erwies, uns noch an besagtem Abend per finnischem Internetdokument von einem ortsunabhängig gewährten fünfzehnmonatigen Erziehungsurlaub bei vollem Lohnausgleich überzeugen zu können. Im Nachhinein wird gern von einer bewussten Entscheidung gesprochen. Perfektes Timing. Am Ende der langen Geraden unseres Schulwegs biegen sie jeden Tag um die Ecke, direkt auf uns zu. Die Alte mit dem Krückstock kennt unsere Zeiten mittlerweile genau. Sie weiß auch sonst praktisch alles über unser Familienleben: dass die Mama schon früh arbeiten geht, der Papa gegen Haustiere allergisch ist, dass Tyynes Lehrerin Ms. Mohammed heißt (und auch einen Hund hat), die Zwillinge in verschiedene Klassen gehen, dass wir am 19. April Geburtstag feiern werden … was knapp siebenjährige Mädchen eben erzählen, während sie einen kleinen weißen Pudel mit rosa Schleifchen im Haar streicheln und herzen. Nötigung ist das, nichts anderes. Wenn Tuuli davon wüsste, würde sie gewiss auch vermelden, dass ihr Vater, als er so alt war wie sie selbst, Schuld daran trug, dass sein damaliger Rüde eine an multipler Sklerose erkrankte Nachbarin angesprungen und umgeworfen hatte. Für mehr als zwölf Jahre wurde Frau Dammbach nach besagtem Vorfall von immer häufiger wechselnden Zivildienstleistenden die heimische Sackgasse hinauf- und hinuntergeschoben. Es gibt keine unverantwortlichen Hunde. Es gibt nur unverantwortliche Halter. Ich fühle mich heute noch schuldig. Tyyne winkt der Alten mit dem Pudel stets freudig zu, und auch der Schäferhundmischling von einem der Häuser links des Gehwegs wedelt im Vorgarten schon aufgeregt mit dem Schwanz. Auf den Hinterpfoten stehend, stützt sich das Tier mit den Vorderpfoten auf den hüfthohen Holzzaun des Gartens, laut bellend und zum Sprung über das Gatter bereit. Sind dann alle beisammen, kommt es zwischen dem Riesen und der Zwergin zu einem grotesken Schnüffeltanz, in dessen Verlauf die freudig erregte Pudeldame mittels ihrer langen Leine sowohl ihr kränkelndes Frauchen wie auch meine Kinder zu einem mühselig zu entwirrenden Knäuel zu verschnüren pflegt. Es dauert meist nur wenig Minuten, bis eine ausgemergelte Mittdreißigerin mit hennarotem Bürstenschnitt, in Bomberjacke und grüner Militärhose, rauchend aus der Haustür tritt und ihren Rüden an einer Hand wortlos zurück in den Vorgarten zerrt. Der 11. September mag ja an manchem schuld sein. Aber mit Angst hatte das bei ihr vermutlich nie etwas zu tun. Evolutionär rätselhaft bleibt, weshalb Wesen, die einen Gutteil ihrer ersten und damit kritischen Lebensjahre mit einer Rotznase leben müssen, nicht auch mit den motorischen Fähigkeiten ausgestattet werden, sich des angesammelten Schleims eigenverantwortlich zu entledigen. »Schnäuzen, Tuuli, feste! Ja, so ist es gut. Immer schön raus mit dem Mist.« »Noch nicht alles weg.« »Also noch einmal! Auf, alles geben jetzt! Feste, feste!« Hatten unsere Ahnen etwa keinen Schnupfen? Damals, in Afrika, das, wie es kanadische Kinder in der Schule beigebracht bekommen, die wahre Wiege der Menschheit ist? Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. In jedem Fall verhärtet sich nach dem dritten Taschentuch der Verdacht, Tuuli schinde hier an der Kreuzung nur Zeit, um – in stiller Abstimmung mit ihrer Schwester sowie der älteren der beiden Hundehexen – auch an diesem Tag einen Eklat zu provozieren. Aber heute nicht. Nicht mit mir! Geduckt, als gälte es, Scharfschützen zu entkommen, packe ich die Kinder an der Hand und renne über die Straße, die lange Gerade entlang. »Schneller, schneller«, brülle ich, und: »Achtung, Achtung! Heiß und fettig!« Von den väterlichen Belllauten in einer ihr unbekannten Sprache verunsichert, gibt die Alte den Weg frei. Selbst die Hunde stutzen für einen Moment. Es hat nicht viele Vorteile, im Ausland Deutscher zu sein. Aber es gibt welche. »Papa, darf ich dir was fragen?« »Sofern du weiterläufst und dich nicht umdrehst, darfst du mich alles fragen.« »Wann hat denn deiner Hundeallergie begonnen? Weil als Kind hast du keiner Allergien gehabt, hat die Oma gesagt.« »Stimmt. Da war ich bereits erwachsen. Das ist bei Allergien oft so.« »Kann dann der Allergien auch wieder weggehen?« »Durchaus möglich, für die kommenden Jahre aber eher unwahrscheinlich.« »Schade.« »Du, finde ich auch.« Es bricht einem das Herz. Denn auch wenn sie es selbst nicht begreifen mögen, geht es Kindern in diesem Alter ja nicht um das Bedürfnis nach einem Haustier. Wonach sie sich in Wahrheit erkundigen, ist ihr Erwünschtsein im Leben der Eltern. »Du, Papa, ich habe mir überlegt, dass ich dann doch keiner Hund will.« »Warum denn nicht, Tyyne?« »Weil am Anfang, wenn der Hund neu ist, sagt Mama, denkt man, das ist Spaß. Mit Gassi und so. Aber nach drei Wochen ist es dann, glaube ich, keiner große Spaß mehr. « »Der Hund ist aber immer noch da, für viele Jahre.« »Ja, deshalb will ich das lieber nicht mit der Hund, habe ich mir überlegt.« Die eine will einen Hund haben, der anderen ist es nicht so wichtig. Ein gängiges Muster unter Zwillingen, sind es doch gerade die kleinen Unterschiede, durch die wir Menschen zu unserer eigenen Identität finden. Wobei es aus Elternsicht natürlich besonders erfreulich ist, sofern Thesen, um deren Einnistung man sich durch Jahre gutes Zureden sowie gezielte Propaganda skypender Tanten und Freunde bemühte, vom schulreifen Sprössling nun als Ergebnisse eigenständiger Überlegungen empfunden werden. Auf etwas anderes vermag der fromme Wunsch nach einer Erziehung zum eigenständigen Denken, glaube ich, gar nicht abzuzielen. Irgendwo müssen die eigenen Gedanken schließlich herkommen. »Ich möchte aber auch einer Hund, so wie der Daniel einer hatte.« »Also einen mittelgroßen schwarzen mit glattem Fell.« »Ja, der war so schön!« »Lieb, meinst du?« »Ja, lieb.« Daniel, Aaron und Gauguin. Ich habe lange nicht mehr an sie gedacht. Dabei standen wir in Bloomington...