Jean Pauls optische Metaphorik der Unsterblichkeit
E-Book, Deutsch, 391 Seiten
ISBN: 978-3-8353-2016-1
Verlag: Wallstein Verlag
Format: PDF
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Blinde Protagonisten und Augenoperateure gehören bei Jean Paul zum geläufigen Romanpersonal. Sabine Eickenrodt widmet sich diesen Figuren vor dem Hintergrund der Unsterblichkeitsschriften im 18. Jahrhundert: Jean Paul stand sowohl physikotheologisch tradierten »Aussichten in die Ewigkeit« (Lavater) als auch einer moralphilosophischen Begründung der Unsterblichkeit der Seele (Kant) skeptisch gegenüber.
Ausgehend von der programmatischen Bestimmung der Poesie in der Vorschule der Ästhetik fragt die Autorin nach den poetologischen Konsequenzen von Jean Pauls sprachtheoretischen Prämissen. An der Mikrostruktur der Texte weist sie nach, daß Jean Pauls optische Metaphorik der Unsterblichkeit als modern zu gelten hat. Sein Bildfundus entstammt den populären, innovativen Wissensdiskursen des 18. Jahrhunderts: Augenheilkunde, Ballonfahrt und Chinamode entwarfen Horizonte von einer »anderen Welt«, die es in den Texten als das Undarstellbare mit dem Opaken zu verbinden galt. Die Arbeit analysiert das poetische Verfahren in ausgewählten Schriften und Romanen Jean Pauls von 1790 bis 1803 - mit einem Exkurs zum späten Selina-Fragment.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Inhalt;6
2;I. Clavis Pauliana: Einleitung;10
2.1;I.1. Voraussetzungen: Textauswahl und Fragestellung;13
2.2;I.2. Der Register-Artikel »Auge/Augen« im Nachlaß Jean Pauls;19
2.3;I.3. Witz, Metapher und Allegorie in der Vorschule der Ästhetik;22
2.4;I.4. Das zeitgenössische Bildreservoir Jean Pauls: Ophthalmologie, Sinologie und Aeropetomanie – Voraussetzungen und Thesis der Arbeit;31
3;II. Poetisches Starstechen: Optische ›Palingenesien‹ des Erzählens in der Unsichtbaren Loge;37
3.1;II.1. Starstecher und Starinhaber: Das Paradoxon des blinden Starstechens;43
3.2;II.2. Die »Erlebensunmöglichkeit« des Todes oder vom »Sinn des Sehens« – über Bonnet, Moritz und Kant;57
3.3;II.3. Mumien und künstliche Augen: Zum Titel der Unsichtbaren Loge und zu Kästners aufgeklärtem Unsterblichkeitsbeweis;70
3.4;II.4. »Ägyptisches Predigen der Sterblichkeit«: Barocke Spuren in der Unsichtbaren Loge;80
3.5;II.5. Augenschneiden und Starstechen: Das poetische Verfahren im frühen Roman-Fragment;89
3.6;II.6. Zerschnittene Augen: Die Blendung des Amandus und die Blindheit des Erzählers;108
3.7;II.7. Ein optischer Betrug:;125
3.8;Jean Pauls Zeitpoetik;125
4;III. Sinesische Sprachgitter: Schriftbilder der anderen Welt im Hesperus;137
4.1;III.1. Zweiwertigkeit des Sinesischen: Philosophiekritik und Semiotik;139
4.2;III.2. Selbstgespräch eines Autors: Hamann und das ›Manifest‹ einer sinesischen Poetologie;145
4.3;III.3. Blindes Denken: Atheismus und Sprachtheorie;150
4.4;III.4. Schleier und Sprachgitter: Metaphern einer anderen Welt;159
4.5;III.5. Ein »Buch der Wandlungen«: Namensvielfalt und Namenlosigkeit im »Hesperus«;168
4.6;III.6. Auge und Ei: Jean Pauls moderne Experimental-Poetik;179
4.7;III.7. Augenarzt des Vaters: Viktors Blindenheilung;182
4.8;III.8. Die »schöne Verfinsterung der Sonne«: Jean Pauls allegorisches Verfahren;188
5;IV. »Horizontale Himmelfahrt« Poetische ars volandi im Kampaner Tal und in Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch;195
5.1;IV.1. Satirische Weltfahrt: Jean Pauls Rezeption barocker Flugdichtung und der Ballon-Satire im 18. Jahrhundert;203
5.2;IV.2. »Globe de compression«: Experimentalkraft des bildlichen Witzes;212
5.3;IV.3. Ascension der Vernunft: Die »idealistischen Saifenblasen-Montgolfieren« der Kritischen Philosophie;215
5.4;IV.4. »Outside-Passenger«: Blanchard und Lavaters Aussichten in die Ewigkeit im Seebuch;224
5.5;IV.5. »Bergperipatetiker«: Das Modell des Höhenblicks;237
5.6;IV.6. Exkurs: Das »Gesez der Schwere«: Karoline von Günderrodes Jean-Paul-Rezeption. Das Gedicht Der Luftschiffer (1803);255
5.7;IV.7. »Luftige Promenaden« und blinde Orientierung: Zur Dislozierung des Auges im Seebuch;269
5.8;IV.8. Blindheit und Endzeit: Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht – ein Prätext des Seebuchs;281
5.9;IV.9. Augen und Kugeln: Die optische Metaphorik in Jean Pauls Unsterblichkeitsschrift Das Kampaner Tal;285
6;V. Sympathetische Ophthalmie Jean Pauls Rezeption der »Friendship in Death« im Titan und Selina-Fragment: Ausblick ins Spätwerk;316
6.1;V.1. Augenleiden und Jenseitsblicke: Die Freundinnen der Toten;317
6.2;V.2. Der blinde Spiegel Liane: Zur Selbstreferentialität des ›Körperzeichens‹;319
6.3;V.3. Hartnäckige »Ophthalmie an beiden Augen«: Liane, Selina und Diderots Lettre sur les Aveugles;320
6.4;V.4. Diamant und Auge: »Vereinigung von fortschwebender Phantasie und fortgrabender Philosophie« im Selina-Fragment;323
6.5;V.5. »Beweis des Gedächtnisses«: Das Vorbild Rousseau (La Nouvelle Héloïse);326
6.6;V.6. »Sonnen- und Seelenfinsternis«: Bilder des Traumgedächtnisses;329
7;VI. ›Sehen im Wort‹. Benjamins Umwertung von Kommerells Jean Paul: Epilog;335
8;Siglenverzeichnis;345
9;Bibliographie;347
9.1;Jean Paul;347
9.2;Quellen;348
9.3;Forschungsliteratur;361
9.4;Register der Werke Jean Pauls;380
9.5;Personenregister;382
9.6;Dank;391
V. Sympathetische Ophthalmie Jean Pauls Rezeption der »Friendship in Death« im Titan und Selina-Fragment: Ausblick ins Spätwerk (S. 315-316)
Jean Paul war mit der englischen pietistischen Tradition der Friendship in Death1 bei Elizabeth Singer Rowe, mit Edward Youngs Night Thoughts2 und auch mit Wielands Rowe-Rezeption Briefe von Verstorbenen an hinterlassene Freunde3 vertraut – mit einem literarischen Genre also, das vom Autor beerbt und nach 1800 sukzessive in eine Theorie des Gedächtnisses, der Vision und des Traums überführt wird.
Eine Untersuchung dieser Umwertungen im Gesamtwerk Jean Pauls hätte insbesondere in den Mutmassungen über einige Wunder des organischen Magnetismus (1813/14) anzusetzen, in denen die Frage des »Scheintods und Sterbens in Beziehung des Magnetismus« (II/2,914- 918) neu reflektiert wird.
Die im folgenden präsentierte Lektüre des Titan und des Selina-Fragments, zwischen denen fast ein Vierteljahrhundert liegt, ist deshalb als ›Probe aufs Exempel‹, als Ausblick ins Spätwerk zu verstehen. Ihre Legitimation zieht diese vergleichende Studie aus der Parallele, die Jean Paul selbst zwischen dem »verdeutscht[ en] Kampanertal« (I/6,1109) und Albanos ›Biographie‹ (I/3,146) hat sehen wollen.
Die vorliegenden Studien finden ihren Abschluß also dort, wo sie auch hätten beginnen können: bei dem Befund, daß die Jahrhundertdebatte über Unsterblichkeit nicht abzulösen ist von den Topoi der Freundschaft und Sympathie. Jean Pauls humoristische Romane sind in dieser Tradition zu lesen, in die er das humanum humoris als Signatur der literarischen Moderne einträgt.
V.1. Augenleiden und Jenseitsblicke: Die Freundinnen der Toten
Anders als in den heroischen Freundschaften zwischen den ›hohen Menschen‹, anders auch als in den sympathetischen Bindungen zwischen den Humoristen haben die toten Freundinnen – Karoline, die Freundin der Liane im Titan, oder Gione, die verstorbene Mutter und Freundin Selinas im gleichnamigen Fragment – eine unerklärliche Macht über jene hinterbliebenen ätherischen weiblichen Wesen, die ihnen bereits zu Lebzeiten nachzusterben suchen oder ihnen ähnlich werden.
Lianes Augenkrankheit im Titan trägt alle Symptome einer ›migraine ophthalmique‹ (vgl. I/3,154)6 und hängt aufs engste mit Selinas »Selbermagnetismus« (I/6,1191) und hellseherischer Kraft im – Fragment gebliebenen – Neuen Kampaner Thal (später Selina) zusammen. Der Autor beläßt diese Freundinnen der Toten ein für allemal im Banne der Verstorbenen und unterstellt sie zugleich einem Einfluß ihrer Mütter, der auch durch irdisch-pragmatische Gefährtinnen wie Lianes Rabette oder Selinas Nantilde nur unzureichend relativiert wird.