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E-Book, Deutsch, Band 49, 120 Seiten

Reihe: Schwabe reflexe

Eckert Wer und was ist Hamlet?

Erkundungen

E-Book, Deutsch, Band 49, 120 Seiten

Reihe: Schwabe reflexe

ISBN: 978-3-7965-3622-9
Verlag: Schwabe Basel
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Am Anfang dieses Essays stand die Faszination über Shakespeares, aber eben auch über Hamlets Omnipräsenz in unserem kulturellen Gedächtnis, stand das Staunen über einen nicht enden wollenden Diskurs. Hamlet ist zu einer Art Kulturheros avanciert, wobei die Fülle der diesbezüglichen Wahrnehmungen wie ein kollektiver Bewusstseinsstrom an uns vorüberzieht.
Die Shakespeare-Forschung ist in ihrer Vorliebe für extravagante Theorien noch keinem Abenteuer aus dem Weg gegangen. So auch nicht der unbeirrbaren Suche nach der Antwort auf die Frage, wer denn Hamlet war und ob ihm womöglich eine historische Figur als Vorbild diente. Das Buch geht den entsprechenden Deutungsansätzen nach und bilanziert den aktuellen Kenntnisstand.
Das Kapitel «Was ist Hamlet?» greift die unterschiedlichen Rollen Hamlets auf und resümiert sie rezeptionsgeschichtlich. Als Geisterseher, verhinderter Rächer, Melan­cho­­li­ker, protestantischer Akademiker, Montaigne-Leser, als Dramatiker aus Berechnung und schliesslich gar als Frau betritt er die Bühne und bezeugt so seine ungebrochen faszinierende Komplexität.
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Vorwort

Prolog
Von Komödianten und Skeptikern

 
Wer ist Hamlet?
Ein Schauspiel in drei Akten
Erster Akt: Ein dänischer Prinz
Zweiter Akt: Der Freund Robert Devereux, Earl of Essex
Dritter Akt: Der Sohn der Maria Stuart

 
Was ist Hamlet?
Blicke hinter die Bühne
Ein Geisterseher
Verhinderter Rächer
Montaigne-Leser
Melancholiker
Protestantischer Akademiker
Dramatiker aus Berechnung
Ein junger Mann
Eine Frau
Ein Fall für die Couch des Psychoanalytikers


Prolog
Von Komödianten und Skeptikern
Vor seinem Gespenste im Hamlet richten sich die Haare zu Berge,
sie mögen ein gläubiges oder ungläubiges Haupt bedecken. Gotthold Ephraim Lessing Von wegen Tragödie. Hamlet ist einfach zum Lachen. Kein viel­gescholtenes Regietheater unserer Tage braucht es zu dieser Erkenntnis, keine Dekonstruktion und was der Verwirrungen noch mehr sind in vermeintlich postdramatischen Zeiten. Wer es nicht glaubt, schlage nach bei Charles Dickens. In seinem zwischen 1860 und 1861 in Fortsetzung erschienenen Roman Große Erwartungen liefert er uns folgende Schilderung einer Hamlet-Aufführung, mit der eine Wanderbühne in der englischen Provinz zu reüssieren versucht: Bei unserer Ankunft in Dänemark fanden wir König und Königin dieses Landes in zwei Lehnsesseln auf einem Küchentisch thronend vor, wo sie Hof hielten. Der gesamte dänische Adel war anwesend, und er bestand aus einem edlen Knaben in den Waschlederstiefeln eines riesenhaften Vorfahren, einem ehrwürdigen Pair mit schmutzigem Gesicht, der recht spät im Leben aus dem Volk aufgestiegen zu sein schien, und der dänischen Ritterschaft mit einem Kamm im Haar und einem Paar weißseidener Beine und von insgesamt weiblichem Aussehen.1 Wenn dann noch der Darsteller des Titelhelden mit bürgerlichem Namen Wopsle heißt, vermag das ebenfalls kaum Gutes zu verheißen (zumindest nicht bei Dickens), oder genauer gesagt: Hier hat das Lächerliche einen trefflichen Namen. Obschon das Publikum ihm durchaus wohlwollend Talent zusprach, wie er da «mit finsterer Miene und verschränkten Armen» stand, nur hätten seine Locken und seine Stirn ein wenig echter wirken dürfen.2 An Kuriosa hatte es hier offenkundig keinen Mangel: So gab es beispielsweise einen hustenden Geist, der einen Spickzettel an seinem Stab befestigt hatte, um ja nicht den Faden zu verlieren. Die auffallend dralle Königin wiederum war für den Geschmack des Publikums von entschieden zu viel Messing umreift, weshalb sie «laut und deutlich als ‹Kesselpauke› bezeichnet» wurde.3 Auch andere Mitspieler wurden zur Zielscheibe solcher humoristischen Einlagen, vor allem aber Hamlet selbst. Seine monologisch vorgetragenen Fragen verfehlten ihren tragischen Ernst aufs Zuverlässigste. Dies schon deshalb, weil das Publikum sich von ihnen immer wieder angesprochen fühlte und heftig über die rhetorischen Einwürfe zu debattieren begann. Die Lachsalven, mit denen Hamlet stets begrüßt wurde, waren im Grunde noch das Freundlichste an Publikums­reaktion. Die schwersten Prüfungen hatte Mr. Wopsle während der Friedhofsszene zu ertragen. Den Saal indes amüsierte dies alles königlich, schließlich hatte er auch vortrefflich mitgespielt. Nur war auf diese Weise die Tragödie in Nichts aufgelöst, wenn nicht gerade darin die prekäre Botschaft verborgen lag. Erstaunlich allerdings, wie wenig dieses Debakel den dänischen Prinzen Mr. Wopsle rührte, denn der gab hinterher zu bedenken, seine Deutung sei vielleicht «ein wenig zu klassisch und gedankenschwer für das hiesige Publikum» gewesen.4 Überhaupt hat das 19. Jahrhundert gern über Hamlet gelacht und die Tragödie komisch verdreht, travestiert, parodiert und persifliert. Unnötig, all die Produkte dieser Art hier aufzulisten, die vor allem ein Ziel kannten: das Tragische im Lächerlichen versinken zu lassen. Kein Wunder, wenn da sogar ein berufener Sprach- und Literaturwissenschaftler wie Karl Moritz Rapp in seinen Studien über das englische Theater von 1862 zu bedenken gab, Hamlet sei «beinahe die Parodie der antiken Tragödie (Orestie), und das humoristische Element macht sich so breit, dass es auf der Grenze des Trauerspiels eher zum tragischen Schauspiel rechnet».5 Nun war jenes humoristische Element von Anfang an das Markenzeichen Shake­speares, der in die Tragödie allzu gerne komödiantisch verquere Szenen einbrechen ließ. Auf die richtige Mischung kam es an, und die gab stets das Leben selbst vor – und gewiss auch das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums. Aber noch im Unernst tat sich ein Rest von Tragik auf, der ja in allem Komischen als versteckter Kern und bitteres Ferment enthalten ist. Wer wollte das etwa angesichts eines Oblomow leugnen, dem Iwan Gontscharow eine fürwahr hamletisch anmutende Szene schrieb, eine recht kurze zwar, aber dafür von umso tieferem symbolischen Gehalt. Auch in dieser Szene tritt das Leben als Farce auf und sitzt dennoch in der tragischen Falle fest. Für Hamlet lautet bekanntlich die Frage ‹Sein oder Nichtsein›, für Oblomow hingegen ‹Jetzt oder nie› – was nicht weniger existentiell zu verstehen ist. «Sollte er vorwärtsschreiten oder zurückbleiben? Diese Oblomow’sche Frage», lässt uns Gontscharow wissen, «war für ihn tiefer noch als die Hamletfrage. Vorwärtsschreiten bedeutete so viel, als plötzlich den bequemen Chalet nicht nur von den Schultern, sondern auch von der Seele, vom Geist streifen; zugleich mit dem Staub und den Spinngeweben an den Wänden auch die Spinngewebe von den Augen kehren und sehend werden!»6 Im Grunde weiß ja auch Shakespeares Hamlet keine rechte Antwort, um dann stolpernd durch das Drama zu irren und am Ende durch die billige Intrige eines anderen zu Fall zu kommen. Oblomow ergeht es nicht viel besser, nur hat das Schicksal für ihn einen langwierigeren Niedergang reserviert – doch vorerst fällt er nur ins weiche Fauteuil: «Jetzt oder nie? Sein oder Nichtsein! Oblomow erhob sich vom Sessel, fand aber nicht den Ruck mit dem Fuß in den Pantoffel und setzte sich wieder.»7 Ob dies zugleich die Urszene des vielbelachten ‹Pantoffelhelden› ist, sei dahingestellt. Interessanter erscheint ohnehin ein hier völlig unvermuteter Bezug. Denn dieser Oblomow offenbart, wie all jene Tragikomiker, die sich der wahlverwandtschaftlichen Beziehung zum Dänenprinzen rühmen, auch einen Bezug zu Friedrich Nietzsches Bemerkung über den tragischen Helden. Denn was Nietzsche über das Irren jenes Hamlet sagt, lässt sich – das ist kaum zu leugnen – auch über seine satirischen Nachahmer sagen: Sie irren gleichermaßen. Hat nicht der späte Nietzsche so etwas wie eine verleugnete Farce in der auf Untergang abonnierten Tragödie entdeckt? In einer kurz vor Abfassung des Zarathustra entstandenen Sammlung von Sprüchen notierte er unter dem Titel «Böse Weisheit» den für seine spätere Haltung bezeichnenden Satz: «‹Der Held ist heiter› – das entgieng bisher den Tragödiendichtern.»8 Nicht jedoch den Komödienschriftstellern seiner eigenen Zeit, so bliebe zu ergänzen, obschon wir uns gar nicht so sicher sein können, ob Nietzsche dieselbe Heiterkeit meinte wie diese, wie ja überhaupt stets Vorsicht geboten ist, ihn allzu wörtlich zu nehmen. In der Hamlet-Rezeption jedenfalls wird sich zur selben Zeit und bis ins 20. Jahrhundert hinein eine völlig gewandelte Deutung zu Wort melden, um uns einen alles andere als melancholischen Helden vorzustellen. Und hier beginnt zugleich sein eigentlicher Aufstieg zum Kulturheros. Für eine solche Lesart bot Shakespeares Text ebenso viele Anhaltspunkte wie für jene des mit seiner Aufgabe überforderten Jünglings, die Goethe so folgenreich seinen Zeitgenossen einzureden versucht hatte. Mit den ersten Aufführungen in den 1770er Jahren war dem Hamlet eine unaufhaltsame Karriere in Deutschland beschieden. Was das Publikum zu sehen bekam, war allerdings nicht originaler Shakespeare, sondern waren mehr oder weniger rigide Bearbeitungen. Auch Goethe hielt eine solche für unabdingbar, was man in seinem 1795/96 erschienenen Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre nachlesen kann. Es hatte also schon die Weimarer Klassik ihr Regietheater. Der Theatererfolg gab Goethe allemal Recht. Der Hamlet-Aufführung seines Theaterenthusiasten Wilhelm gab er gar die Prophezeiung mit auf den Weg, diese bedeute «eine neue Epoche fürs deutsche Theater».9 Keine Frage, wem dieses Lob galt, und ebenso ohne Frage hatte Goethe keinen geringen Einfluss auf die Hamlet-Rezeption – dies eben auch durch seine Wertung, was Shakespeare habe schildern wollen: «eine große Tat auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen ist».10 Weder könne Hamlet die Last tragen noch abwerfen – «jede Pflicht ist ihm heilig, diese zu schwer».11 Der Verballhornung wurde, nebenbei bemerkt, durch dieses Diktum erst recht Tür und Tor geöffnet. Und es sollte nicht beim vermeintlich überforderten Hamlet bleiben, denn ein Jahrhundert nach Goethe verfiel der Dichter T. S. Eliot auf das Votum, dass auch der Dramatiker gescheitert sei. Die Tragödie und in Sonderheit ihre zentrale Figur seien doch im Grunde misslungen. Als Schauspiel sei das Stück ein künstlerischer Fehlschlag, lautete die gewagte These, denn es sei «voll von einem Stoff, den der Verfasser nicht ans Licht zu ziehen, zu betrachten oder in Kunst umzusetzen vermochte».12 Und was zog Eliot für uns ans Licht? Shakespeare habe eigentlich zeigen wollen, wie Hamlet durch die Abscheu vor seiner Mutter vergiftet und so vom Handeln abgehalten werde. Die Blutschande seiner Mutter stellt für den Helden gewiss kein geringes Problem dar, seine Rede lässt darüber keinen Zweifel, aber wo bleibt bei Eliot der Brudermörder Claudius, wo der Racheauftrag, der ja ausdrücklich die Mutter ausschließt? Wo lässt uns das Stück erkennen, dass...


Nora Eckert wurde 1954 in Nürnberg geboren und lebt seit 1974 in Berlin. Sie schrieb für verschiedene Zeitungen (tageszeitung, Tagesspiegel) und Zeitschriften (Theater der Zeit, Opernwelt) und ist Autorin mehrerer Buchpublikationen. Zuletzt erschien in der Reihe Schwabe reflexe Wegschauen geht nicht. Georg Büchner auf den Bühnen des 20. Jahrhunderts (2012).


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