E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-7517-0957-6
Verlag: Baumhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Sean Easley hat in der Grundschule damit begonnen, Geschichten zu schreiben, immer auf der Suche nach Abenteuern. Später arbeitete er jahrelang mit Kindern und Teenagern und hörte sich ihre Geschichten an. Zwischendurch machte er einen Master in Bildungswissenschaften. Heute ist er Schriftsteller und lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Texas, wo er sich immer noch weigert, Cowboystiefel zu tragen.
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1
Hier, dort und überall
Bestimmt sterbe ich in diesem blöden Spind. Ich starre auf die Lichtschlitze in der Metalltür und könnte mir selbst in den Hintern treten, weil ich wieder einmal feststecke. Noch dazu am letzten Tag vor den Winterferien. Wenn alle zurück aus dem Urlaub kommen, sind sie garantiert überrascht von der zusammengeschrumpelten Mumie im Schranksarg, in deren Hosentasche noch immer eine leere Packung Smarties steckt. Wir spielen ›Sardine in der Dose‹. Einer versteckt sich, die anderen suchen. Wer ihn entdeckt, hockt sich dazu und muss nun auch gefunden werden. Am Anfang des Spiels kam mir der Metallschrank wie das perfekte Versteck vor, aber jetzt warte ich schon über eine Stunde, dass die anderen Lehrerkinder mich finden. Und ich bin immer noch der einzige Dosenfisch. Das war’s also. Sie haben mich vergessen. Vor Frustration bollere ich den Hinterkopf gegen die Innenseite meines Spinds. Mit dem Finger fahre ich die Umrisse des Baums nach, den ich als Zeichnung an die Tür geklebt habe. Fast kann ich das Rascheln der Blätter hören, genau wie neuerdings in meinen Träumen. Der gleiche Baum prangt auf dem Kettenanhänger um meinen Hals. Das kleine Holzstück in Münzform hat Dad gehört. Vermutlich kann es mich nicht aus den Klauen eines zugeschnappten Schranks retten, trotzdem sorgt es dafür, dass ich mich besser fühle. Die Münze ist das Einzige, was Dad mir hinterlassen hat, als er verschwand. Solange ich den Anhänger trage, passiert mir hoffentlich nicht dasselbe. Schritte. Da naht meine glorreiche Rettung. Wer immer dort draußen durch den leeren Sozialkundeflur kommt, wird mich bestimmt aus dieser fiesen Falle befreien, in die ich freiwillig getappt bin. »Hallo?« Mein Hals ist so trocken, dass meine Stimme bricht. Die Schritte verstummen. Ich kann durch die Schlitze in der Tür nicht viel sehen, aber stelle mir vor, wie meine Rettung mit schimmernden Flügeln und Herzchen-Zepter den Flur entlanggleitet. »Cameron?«, ertönt eine vertraute Stimme, die meiner Grandma gehört … oder genauer gesagt meiner ›Oma‹, denn ihre Familie stammt aus Deutschland. Bestimmt haben ihre schrägen Glücksamulette sie zu mir geführt. »Holst du mich bitte hier raus?« Sie geht vor dem Spind in die Hocke, sodass ich sie durch die Schlitze sehen kann. Keine Flügel, kein Zepter – einfach nur Oma, die für mich und meine Zwillingsschwester sozusagen Mom und Dad in einer Person ist, seit wir denken können. »Wie lange bist du schon dadrin?«, fragt sie mit ihrem gedehnten texanischen Akzent. Eine Ewigkeit. »Weiß ich nicht«, sage ich, weil ich kein Drama daraus machen will. »Kannst du mich rausholen?« »Cammy …«, sagt sie, was der babyhafteste Spitzname aller Zeiten sein dürfte. »Ich glaube, die Tür hat drinnen einen Riegel.« War ja klar. Ich taste herum und finde den Schnappverschluss aus Metall. Die Tür öffnet sich wie durch Zauberhand. Meine Beine kribbeln, als ich hinausstolpere und mich gegen Oma lehne. Man könnte es eine Umarmung nennen, aber so was tue ich natürlich nicht. Bald werde ich dreizehn, also bin ich definitiv zu alt, um meine Oma im Schulflur zu knuddeln. »Tut mir leid«, sage ich, ohne genau zu wissen, warum. »Geht es dir gut?« Sie trägt ihre typische Blümchenbluse und eine beigefarbene Hose. Ich nicke. Auf keinen Fall will ich darüber reden, dass die anderen Kinder mich mal wieder mitten im Versteckspiel sitzen gelassen haben. »Ich muss leider noch in der Schule bleiben«, sagt sie. »Heute ist ein bisschen mehr zu tun.« Eine glatte Lüge, denn Oma arbeitet in Teilzeit. Sie hatte keine volle Stelle als Lehrerin mehr, seit Dad verschwunden ist. Also gibt es keinen Grund, warum sie länger als alle anderen in der Schule bleiben sollte. Und der Blick, den sie mir zuwirft, lässt in meinem Kopf die Alarmsirenen losschrillen. Heute wollte sie mit dem Arzt reden, der meine Schwester behandelt. Also hat sich etwas verschlimmert – wieder einmal. »Was hältst du davon, nach Hause zu gehen und deiner Schwester Abendbrot zu machen?«, fragt sie und wirft mir ein erschöpftes Lächeln zu. »Bei mir wird es spät.« Auf dem Weg nach Hause mache ich einen Zwischenstopp beim Kiosk und kaufe mir ein Eis mit Orangengeschmack. Im Dezember mein Gehirn tiefzufrieren gibt mir irgendwie das Gefühl, die Kontrolle über mein Leben zu haben. Meine Schwester Cass zieht mich gerne damit auf. »Niemand isst Eis am Stiel im Winter«, sagt sie jedes Mal. Aber da irrt sie sich eben. Genau wie sie sich bei der Sache mit Dad irrt. Denn er hat uns nicht sitzen gelassen. Wie Oma immer sagt: Jemand hat ihn gestohlen. Ich spiele mit der bemalten kleinen Holzscheibe, die an meinem Hals baumelt. Meine Münze ähnelt der meiner Schwester zum Verwechseln, bis auf einen Unterschied: Meine ist golden und schimmert im Licht, während die von Cass eine graue Holzfarbe hat. Ihre Kette hat früher Mom gehört. Oma sagt, der Anhänger hat sich grau gefärbt, weil unsere Mutter tot ist. Die einzig logische Folgerung wäre also, dass meiner schimmert, weil Dad noch lebt und irgendwo da draußen ist. Mag sein, dass Cass nicht daran glaubt, aber ich schon. Und eines Tages beweise ich es ihr. Ich werde Dad finden, ihn nach Hause bringen, und dann ist alles wieder so, wie es sein sollte. Ich weiß nur nicht wie. Noch nicht. Ich wäge einen Moment lang ab, ob ich mich an den Picknicktisch bei der Tankstelle setzen soll, um in Ruhe mein Eis zu essen. Aber aus einer von den Dokus, die Cass so gerne schaut, weiß ich, dass zu langes Sitzen zu Blutgerinnseln in den Venen führen kann. Auf meiner Liste unerfreulicher Todesarten gehört Thrombose zu den langweiligsten. Also marschiere ich stattdessen weiter, quer über den Parkplatz hinter dem Kiosk und mustere im Gehen das Einkaufszentrum, das auf dem Weg zu meinem Wohnblock steht. Etwas daran sieht heute anders aus als sonst. Das Gebäude ist der einzige moderne Neubau in unserer Gegend. Eigentlich sollten dort Läden einziehen, aber seit der Fertigstellung vor zwei Jahren hat sich in den gut zwanzig Schaufenstern nichts gerührt. Kein einziger Laden wollte hier aufmachen. Das Gebäude ähnelt einer Geisterstadt mit gespenstisch herumwehenden Plastiktüten. Doch heute hängt ein brandneues Schild an einer Tür und fesselt sofort meine Aufmerksamkeit. Die großen, elegant verschnörkelten Buchstaben schimmern und strahlen trotz des bedeckten Himmels. HOTEL DER WÜNSCHE
HIER, DORT UND ÜBERALL Ein gigantischer Baum prangt hinter den Buchstaben auf der Glastür, sodass die Türflügel ihn in der Mitte zerteilen. Das Schild wirkt geradezu blendend und gleichzeitig so verführerisch, dass ich wie hypnotisiert daraufstarre. In dieser Gegend sind die meisten Schaufenster mit billigen, schiefen Buchstaben beklebt, und an den Türen hängen ›Geöffnet‹-Schilder aus Plastik. Aber hier leuchten die Worte wie Glitzerkonfetti. Und der Baum dahinter sieht so vertraut aus. Ich kenne den Umriss. Er klebt als Zeichnung in meinem Spind und ziert die Münze um meinen Hals. Ich habe meine Finger unzählige Male über dieses Symbol gleiten lassen. Und seit meinem zwölften Geburtstag hat es sich auch in meine Träume eingeschlichen. Als sollte das Auftauchen des Baums eine besondere Bedeutung für mich haben. Ich laufe zu der Tür und linse durch das Glas, aber kann drinnen nichts erkennen. Wahrscheinlich hat das Hotel noch nicht eröffnet. Ich schirme meine Augen ab, presse mein Gesicht gegen die Scheibe, und … Wumms! Die Tür rammt mit voller Wucht gegen meine Nase. Glas und Metall scheppern, genau wie mein vom Eis gefrorenes Gehirn. Ich stolpere zurück, lasse das Orangeneis fallen und lande mit dem Hintern auf dem Bürgersteig. Es fühlt sich an, als wäre mir das Nasenbein in den Schädel gerammt worden. Garantiert habe ich einen Hirnschaden (Nr. 34 auf meiner Liste fieser Todesarten). Ein Mann steckt den Kopf durch die Türöffnung, während ich meine Nase abtaste und hoffe, dass sie nicht anfängt zu bluten. Ich kämpfe gegen die Tränen an, aber das ist ungefähr so Erfolg versprechend, wie ein Lego-Schiff ohne Anleitung zusammenzubauen. Der hochgewachsene Mann lacht und sagt etwas in einer fremden Sprache. Dann hält er mir eine Hand entgegen, um mir aufzuhelfen. Er hat eine Glatze und trägt ein langes Gewand mit einem grellen Muster aus gelb-grünen Formen, die an ein Puzzle erinnern. Meine Nase, die nun vermutlich wie bei einem Boxer aussieht, reicht ihm gerade bis zur Brust. Zwei weitere Leute kommen hinter ihm aus der Tür: ein bärtiger Mann in einem weißen Leinenanzug und eine Frau mit Kopftuch. Die Stimme der Frau klingt, als würde sie sich entschuldigen, weil der Typ mich aus den Latschen gehauen hat, aber ich verstehe die Sprache nicht. Der Mann im Leinenanzug geht ein paar Schritte auf den Parkplatz und starrt zum texanischen Himmel empor. Ich drehe mich zurück zur Tür und erhasche einen kurzen Blick auf etwas … Unfassbares. Ein dicker, weinroter Teppich erstreckt sich durch ein großes Foyer und eine gewundene Prunktreppe hinauf. Warmes Licht strahlt aus altertümlichen, wie von Thomas Edison entworfenen Glühlampen, in verschnörkelten Halterungen. Lange Kristallketten an einem glitzernden Kronleuchter malen Regenbogenfarben auf den Boden und tauchen den gewaltigen Saal in einen rauchig warmen Schimmer. Die Decke ist so hoch, dass ich sie nicht sehen kann. Und mir kommt es vor, als würde ich...