E-Book, Deutsch, 312 Seiten
Dürr Erzberger
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-86284-495-1
Verlag: Christoph Links Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der gehasste Versöhner. Biografie eines Weimarer Politikers
E-Book, Deutsch, 312 Seiten
ISBN: 978-3-86284-495-1
Verlag: Christoph Links Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Nach Otto von Bismarck das nächste gestaltungsmächtige politische Individuum, zuerst des späten Kaiserreichs, dann der frühesten Republik.«
Robert Leicht, Die Zeit
Benjamin Dürr, Jahrgang 1988, ist Politikwissenschaftler, Völkerrechtler und Publizist und beschäftigt sich mit Fragen zu Krieg und Frieden. Er arbeitete für die niederländische Regierung und den Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege. Als Journalist berichtete er u. a. für den Spiegel und den Nachrichtensender Al Jazeera English aus zahlreichen Ländern. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet. Er wuchs unweit von Erzbergers Geburtsort auf der Schwäbischen Alb auf.
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PROLOG
Schwer hing die Hitze über der Stadt. Die Menschen versammelten sich schweigend in den Straßen. Mit Sonderzügen waren sie aus dem ganzen Land in das oberschwäbische Städtchen Biberach angereist, um Matthias Erzberger an diesem Mittwoch, dem 31. August 1921, die letzte Ehre zu erweisen. Am Tag zuvor hatten sich in der Stadtpfarrkirche bis zum späten Abend Tausende Menschen am Sarg vorbeigeschoben, der wie bei der Beerdigung eines Papstes vor dem Hochaltar aufgebahrt war, geschmückt mit Lorbeerbäumen und bewacht von einer Ehrengarde mit schwarzen Schärpen und Lanzen.
Nun, als die Sonne am höchsten stand, wurde der Eichensarg aus der Kirche getragen und auf einen Leichenwagen gehoben. Davor bauten sich alle Vereine der Stadt mit ihren Fahnen auf, die Post- und Eisenbahnbeamten, die Stadtkapelle, der Militärverein, die Bürgermiliz, der Arbeiterverein. Um Punkt ein Uhr setzten sich die Zugpferde des Leichenwagens in Bewegung. Das Cortège führte vorbei am Gasthaus »Zum Waldhorn«, wo sich die Menschen, wie in anderen Häusern entlang der Strecke, hinter den Fenstern im ersten Stock und auf den Dächern drängten, um das Schauspiel verfolgen zu können. Die Straßenränder waren schwarz von Tausenden in Trauertrachten. Die Männer schwitzten unter dem dicken Stoff, Frauen schützten sich mit Schirmen gegen die Sonne.
Hinter dem Sarg her rollte die Kutsche mit Frau Erzberger und der sechsjährigen Tochter. Dahinter schritten der Rottenburger Weihbischof Johannes Baptista Sproll und Reichskanzler Joseph Wirth, der seinen schwarzen Zylinder in den Händen trug. Dahinter der Präsident des Reichstags, Paul Löbe. Anschließend Politiker und Parlamentarier, Beamte, Parteifreunde, Offiziere und schließlich Zehntausende Bürger.1
Für viele gehörte Erzberger zu den größten Politikern des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Inmitten des totalen Kriegs hatte er versucht, Frieden zu erreichen und die Kämpfe mit Verhandlungen zu beenden. 1918 unterzeichnete er einen Waffenstillstand und ein Jahr später sorgte er für die Annahme des Versailler Vertrags, durch den Deutschland Frieden schloss. Sein Leben lang hatte Erzberger für die politische Mitbestimmung des Volks gekämpft und nach dem Krieg dem neuen demokratischen Staat ein modernes und gerechtes Steuersystem gegeben.
Tragischerweise legte er mit seinen größten Triumphen auch die Saat für seine härtesten Rückschläge. Der Waffenstillstand, der Versailler Vertrag und die Steuerreform entfesselten einen Hass auf Erzberger, der zu seinem Ausscheiden aus der Politik und schließlich zu seiner Ermordung führte. Auftragsmörder einer rechtsextremen Geheimorganisation erschossen ihn am 26. August 1921 bei einem Spaziergang im Schwarzwald.
Die Schüsse auf Erzberger erschütterten das Land, weil sie nicht nur Ausdruck des Hasses auf einen polarisierenden Politiker waren, sondern auch als Angriff auf die Republik empfunden wurden. Erzberger stand für die Demokratie, für Frieden mit den Feinden und ein welt- und zukunftsgewandtes Deutschland in einer Zeit, in der nationalistische Gefühle auflebten und sich viele lieber zurückzogen. Ein Anschlag auf ihn war ein Anschlag auf das Neue.2
Am Tag von Erzbergers Beerdigung bildeten sich deshalb überall im Deutschen Reich Menschenmassen, die gegen den Mord und für die Republik demonstrierten. Während in Biberach der Trauerzug mit dem Sarg zum Friedhof kroch, begannen in Berlin die Angestellten in den Fabriken die Arbeit niederzulegen. Eine halbe Million Menschen zog durch die Straßen der Hauptstadt und füllte am Nachmittag den Schlossplatz, den Lustgarten und die Innenstadt. In Hamburg brach der Bus- und Straßenbahnverkehr zusammen, weil sich mehr als 40 000 Menschen im Regen und mit schwarz-rot-goldenen und roten Fahnen zum Heiligengeistfeld aufmachten. In Hannover versammelten sich 100 000, in Wuppertal 50 000, in Mannheim und Karlsruhe jeweils 30 000, in Gera 20 000.3 Seine Unterstützer sahen in Erzberger einen Märtyrer, der für seine Ideale gefallen war.4 Er entstammte einer einfachen Familie aus Buttenhausen, einem Dorf auf der Schwäbischen Alb, und hatte seine Heimat in den ersten Jahrzehnten seines Lebens kaum verlassen. Als er 1903 nach Berlin kam, war er nicht nur einer der jüngsten Reichstagsabgeordneten, sondern auch einer der wenigen ohne Adelstitel, Militärdekoration, Landbesitz oder Industriellenverwandtschaft. Er besaß keine Kontakte, keinen Hochschulabschluss und keine Umgangsformen für die Salons. Er musste sich Geld bei anderen leihen und lebte in Mietwohnungen. Sein schwäbischer Dialekt ließ ihn – besonders in den Gesprächen mit dem Papst, mit Kaisern und mit Königen – stets etwas provinziell wirken. Zwar bewegte er sich in den kosmopolitischen Kreisen Berlins, Berns und Wiens, gehörte aber schon wegen seines Auftretens nie richtig dazu.
Beisetzung Erzbergers in Biberach. Erste Reihe links Reichskanzler Joseph Wirth, Mitte Weihbischof Johannes Baptista Sproll; in der zweiten Reihe Reichstagspräsident Paul Löbe (3. v. re.), 31. August 1921 Der Trauerzug durch Biberach, 31. August 1921Überdies war seine Erscheinung eher klobig. Erzberger war ein stämmiger Mann ohne Hals, über dessen birnenförmigen Leib sich die Westen der Anzüge spannten. Die kleinen, runden Brillengläser ließen seine Augen noch kleiner und sein Gesicht noch kugelförmiger erscheinen. Sein Äußeres machte ihn für Karikaturisten zu einem einfachen Ziel und für Großbürger zur Personifikation der unteren Schichten, für die sie wenig mehr als Verachtung übrighatten. Der exzentrische Publizist Harry Graf Kessler beschrieb einmal gehässig Erzbergers platte Stiefel, »seine drolligen Hosen, die über Korkzieherfalten in einem Vollmondhintern mündeten, seine breiten, untersetzten Bauernschultern, die ungelenken Bewegungen« und die prallen Wangen.5
Im persönlichen Umgang traten Erzbergers Zugänglichkeit und Umgänglichkeit hervor. Er war gern unter Menschen, genoss lebhafte Auseinandersetzungen und hatte die Neigung, viel zu reden. Ein Hang zu Übertreibung und Indiskretion war ihm dabei nicht fremd. Bei einem Mittagessen im Berliner Nobelrestaurant »Hiller« saß Erzberger während des Ersten Weltkriegs einmal neben Margarethe Ludendorff, der Frau des Ersten Generalquartiermeisters Erich Ludendorff, und berichtete ihr ausführlich, wie er den Chef des Generalstabs der Obersten Heeresleitung, Erich von Falkenhayn, gestürzt habe. Noch als sie bereits vom Tisch aufgestanden waren, plauderte er in einem Fluss weiter und prahlte, er sei gerade dabei, im Geheimen in Russland eine Revolution anzuzetteln. Frau Ludendorff berichtete später, sie habe nie einen interessanteren Mann als Erzberger getroffen.6
Erzberger war ein umtriebiger, nimmermüder Macher, der tagsüber seinen politischen Geschäften nachging und nachts in seinem Arbeitszimmer Artikel, Denkschriften und Bücher verfasste, in denen er kaum ein Thema unberührt ließ. Immer wieder bewies er dabei ein Gespür für die großen Themen seiner Zeit. Er beschäftigte sich mit den sozialen Fragen und Verwerfungen, die durch die Industrialisierung entstanden; mit dem Kolonialismus, als das Deutsche Reich seinen Platz auf der Weltbühne suchte; mit einer Friedensordnung, als die Welt in Trümmern lag.
1918 entwarf Erzberger eine Verfassung für einen Völkerbund in vierzig Artikeln, die die Lösung von Konflikten nicht mehr durch Krieg, sondern durch ein internationales Schiedsgericht vorsah.7 Er setzte sich für ein Recht der Völker auf Selbstbestimmung ein und trug so einen beachtlichen Teil zur Unabhängigkeit Litauens bei, das nach den Eroberungen im Osten vom Deutschen Reich besetzt worden war. Dass er bei der Staatsgründung den thronlosen württembergischen Herzog Wilhelm von Urach, einen Schwaben, als König von Litauen ins Spiel brachte, zeugte von Erzbergers typischer Mischung aus Einfallsreichtum und Spinnerei. Wilhelm hatte bereits begonnen, Litauisch zu lernen, war von der Taryba – dem litauischen Staatsrat – als König bestätigt worden und hatte den mittelalterlichen Namen Mindaugas II. angenommen. Am Ende scheiterte seine Thronbesteigung allerdings im letzten Moment am deutschen Kaiser und der am Kriegsende aufkommenden Deutschland-kritischen Stimmung in Litauen.8
Erzbergers Persönlichkeit und seine Ideen spalteten das Land. In dem Maße, wie er bei seinen Anhängern Bewunderung hervorrief, erzeugte er bei seinen Gegnern Ablehnung und abgrundtiefen Hass. Nationalisten und Rechtsradikale führten Pressekampagnen gegen ihn, verübten Anschläge und feierten schließlich seine Ermordung. In Detmold spielte eine Kapelle auf der Grotenburg im Teutoburger Wald einen »Jubeltusch«.9 In München planten Nationalsozialisten einen Angriff auf eine Gedenkfeier.10 Und im Festsaal des...