Die Geschichte der Europäischen Union
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-7917-6255-5
Verlag: Pustet, F
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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KAPITEL II
Rache für Suez
Der Weg zu den Römischen Verträgen (1950–1957)
Die Erbauer Europas erleben ein Wechselbad der Gefühle. Zunächst lanciert Frankreich das ehrgeizigste Europa-Projekt der Geschichte – nur um es gleich wieder zu begraben. Danach sieht es erst einmal übel aus für Europa, doch wieder hat jemand eine zündende Idee, diesmal ein Geige spielender Niederländer. Aber dann droht die Sowjetunion mit Atombomben, ein britischer Premierminister verliert die Nerven, ein deutscher Bundeskanzler behält einen kühlen Kopf, und ein französischer Ministerpräsident fasst sich ein Herz. Im Übrigen bekommt Walter Hallstein – seinen Namen muss man sich noch merken – gesagt, dass er aufhören soll, von Bananen zu reden. Dann werden wichtige Verträge unterzeichnet – in Wahrheit sind es aber nur leere Blätter. Seoul. Im Morgengrauen des 25. Juni 1950 bricht die Hölle los. Nordkoreanische Panzer überrollen an diesem Sonntag die 250 Kilometer lange Grenze nach Süden. Weder die Armee Südkoreas noch die US-Streitkräfte sind auf einen solchen Angriff vorbereitet. Schon einen Tag später greifen die Invasionstruppen Seoul an, zwei Tage danach gibt die südkoreanische Armee die Hauptstadt auf. Nach zwei Woche halten die Truppen des kommunistischen Diktators Kim Il-Sung fast die gesamte Halbinsel besetzt. Ein vollständiger kommunistischer Triumph scheint nur noch eine Frage von Tagen zu sein. Bonn. Das ist der Dritte Weltkrieg! Menschen in aller Welt sind sich sicher – ganz besonders aber die Bürger der jungen Bundesrepublik. Die Parallelen zwischen dem geteilten Deutschland und der koreanischen Halbinsel mit einem kommunistischen Norden und einem kapitalistischen Süden liegen auf der Hand. Hunderttausende beginnen deshalb, Lebensmittel zu horten. Eine Journalistin beobachtet in Bonn, dass viele Menschen ihre Koffer packen und – sofern sie ein Auto besitzen – Benzinkanister kaufen, um im Kriegsfall nach Belgien, Luxemburg oder in die Niederlande ausweichen zu können. „Korea, Korea, der Krieg kommt immer näher!“, singen die Kinder. Menschen, die in Hochhäusern leben, machen sich Sorgen, dass sie ein bevorzugtes Angriffsziel sein könnten. Marienerscheinungen nehmen zu. SED-Chef Walter Ulbricht prophezeit in Ostberlin, die Regierung in Bonn werde bald ebenso wie jene in Seoul „vom Willen des Volkes hinweggefegt“ und Leute wie Adenauer würden „vor ein Volksgericht gestellt“. Adenauers persönlicher Referent Herbert Blankenhorn bittet die alliierten Hohen Kommissare daraufhin um 200 Pistolen, um notfalls das Palais Schaumburg verteidigen zu können. Der Kanzler selbst ist in düsterer Stimmung: „Ich will Ihnen sagen, was ich tue, wenn die Russen kommen: Dann vergifte ich mich.“ Washington. Auch die Regierung von Präsident Truman ist in höchstem Maße alarmiert. Aus ihrer Sicht hat sich die Lage des Westens in den vorhergehenden Monaten dramatisch verschlechtert: Am 29. August 1949 haben die Sowjets ihre erste Atombombe gezündet – damit ist das Atommonopol der USA verloren. Und am 1. Oktober hat Mao Tse-tung die Volksrepublik China ausgerufen, so dass nun auch das asiatische Riesenreich kommunistisch geworden ist. Ein Memorandum des Nationalen Sicherheitsrates hält fest: „Es geht um Sein oder Nichtsein nicht allein der USA, sondern der gesamten Zivilisation.“ Der nächste Kriegsschauplatz könnte Europa sein – und das hieße als allererstes Deutschland. Doch auch dort sieht es für den freien Westen nicht gut aus: Die Sowjetunion hat in ihren osteuropäischen Satellitenstaaten 22 Divisionen stationiert, weitere 100 stehen in Reserve. Die 1949 gegründete NATO hat dieser Streitmacht gerade einmal zehn Divisionen in der Bundesrepublik entgegenzusetzen. Für die US-Regierung ist klar: Ohne deutsche Beteiligung ist die Rheinlinie nicht zu verteidigen. Nur eine Woche nach Beginn des Koreakriegs hält der amerikanische Außenminister Dean Acheson bereits fest: „Die Regierung der Vereinigten Staaten ist entschlossen, Deutschland so schnell wie möglich in eine enge und feste Verbindung mit dem Westen zu bringen und Verhältnisse zu schaffen, unter denen das Potenzial Westdeutschlands endgültig dem Potenzial des Westens hinzugefügt werden kann.“ Am 13. Juli 1950 wirft der amerikanische Hochkommissar in Bonn, John McCloy, vor einer handverlesenen Runde von CDU-Politikern die Frage auf: „Meine Herren, sind Sie bereit, wieder aufzurüsten, und wenn ja, unter welchen Bedingungen?“ Die Antwort: Ja, wir sind es – aber unter der Bedingung völliger Gleichberechtigung. Paris. In Frankreich lassen die amerikanischen Überlegungen einer deutschen Wiederbewaffnung die Alarmglocken schrillen. Eine neue Wehrmacht – das ist der Alptraum eines jeden Franzosen. Die Frage ist: Was kann Frankreich noch tun? Wieder wendet sich die Regierung an Jean Monnet, und wieder hat er eine Idee: Die deutschen Soldaten sollen europäische Soldaten sein! Sie sollen europäische Uniformen tragen und unter europäischem Kommando stehen! Um das zu ermöglichen, sollen die europäischen Länder ihre Streitkräfte vereinigen. Diese Europa-Armee soll einem gemeinsamen politischen Überbau unterstellt werden, einer „einzigen supranationalen Autorität“. Der Name dieses überaus ehrgeizigen Projekts: Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Es ist der ganz große Wurf. Würde er realisiert, hätte die europäische Einigung wohl ein Stadium erreicht, in dem der Prozess unumkehrbar wäre. 24. Oktober 1950. Der französische Ministerpräsident René Pleven – ein alter Freund und ehemaliger Assistent von Monnet – schlägt der Nationalversammlung „die Schaffung einer europäischen Armee“ vor, „die mit den politischen Institutionen des geeinten Europas verbunden ist“. Ein radikaler Vorstoß. Pleven weiter: „Eine Armee des geeinten Europas, gebildet aus Männern der verschiedenen europäischen Nationen, soll, soweit dies irgend möglich ist, eine vollständige Verschmelzung der Mannschaften und der Ausrüstung herbeiführen, die unter einer einheitlichen politischen und militärischen europäischen Autorität zusammengefasst werden.“ Bonn. Die französische Regierung rechnet damit, dass Adenauer auch diesen Vorstoß – ebenso wie kurz zuvor den Schuman-Plan – begeistert begrüßen wird. Doch dem ist nicht so. Zwar findet er die Idee einer europäischen Armee prinzipiell gut, doch die französische Regierung hat Monnets ursprünglichen Vorschlag verwässert. So ist von europäischen Uniformen nicht mehr die Rede. Außerdem sollen die Streitkräfte in den französischen Kolonien nicht in die Europa-Armee integriert werden – Frankreich behielte also doch noch eine nationale Armee, was für Deutschland nicht gelten würde. Es wird also mit zweierlei Maß gemessen, während Adenauers Hauptziel gerade die Gleichstellung Deutschlands ist. Unter diesen Umständen ist der Pleven-Plan für ihn „nichts anderes als ein unverschämter Versuch, die französische Hegemonie in Europa wiederherzustellen“. Staatssekretär Walter Hallstein erhält von Adenauer den Auftrag, Außenminister Schuman „von den großen Besorgnissen und der Enttäuschung des Kanzlers zu verständigen“. London. Bei einem Essen diskutiert Churchill mit Monnet über dessen Idee einer europäischen Armee. Der alte Briten-Krieger hält nicht viel davon. Ein französischer Offizier, der Griechen, Italiener, Deutsche, Türken und Holländer kommandiert? Das könne schon bei den einfachsten Befehlen nur zu äußerster Verwirrung führen. Eine Armee benötige einen esprit de corps, einen Korpsgeist, und der sei ohne Tradition und Nationalgefühl nicht zu haben, doziert Churchill. Bei dem, was Monnet vorschwebe, könne nur eines herauskommen: „Ein matschiger Mischmasch.“ Paris. Am 17. Juni 1951 wird in Frankreich gewählt: Die Partei des großen Europafreunds Robert Schuman, die christdemokratische Mouvement républicain populaire (MRP), erleidet dabei eine vernichtende Niederlage. Sie verliert die Hälfte ihrer Wähler und ein Drittel ihrer Mandate. Einen Überraschungserfolg landet dagegen der erstmals angetretene Rassemblement du peuple français (RPF), eine von Charles de Gaulle begründete Sammlungspartei für seine Anhänger. Der Nationalheld de Gaulle betrachtet die Bemühungen um eine europäische Einigung als Ausdruck von Schwäche und lehnt sie radikal ab. Zwar kommt seine Partei noch nicht an die Regierung, doch künftig stehen die Befürworter einer europäischen Integration in der Nationalversammlung unter dem Druck einer gaullistisch-kommunistischen...