E-Book, Deutsch, 204 Seiten, Paperback, Format (B × H): 155 mm x 230 mm
Drechsel Gemeindeseelsorge
2. Auflage 2017
ISBN: 978-3-374-04950-9
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 204 Seiten, Paperback, Format (B × H): 155 mm x 230 mm
ISBN: 978-3-374-04950-9
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gemeindeseelsorge ist ein zentrales Thema kirchlicher Arbeit. Zugleich aber wird sie kaum wahrgenommen. Sowohl in der Seelsorgetheorie wie auch im Bewusstseins der konkreten Gemeindepraxis fristet sie eher eine Art Aschenbrödel-Dasein. Anliegen dieses Buches ist es, hier eine Lücke zu schließen und erstmals einen Gesamtentwurf zur Seelsorge in der Gemeinde im Blick auf Theorie und Praxis vorzulegen.
Von der Frage nach den Gründen der bisherigen Nichtbeachtung her wird ein Verstehensmodell für die Gemeindeseelsorge entworfen und in seinen Konsequenzen für eine Praxis entfaltet, die so eine neue Würdigung erfahren kann. So ist dieses Buch nicht nur für die Seelsorgetheorie, sondern auch für alle Interessierten aus der Gemeindepraxis von besonderem Interesse.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
1 SEELSORGE IN DER GEMEINDE – EINE ANNÄHERUNG
Blicken wir also auf das, was im kirchlichen Sprachgebrauch unter »Gemeindeseelsorge« verstanden wird.1 Dazu kann vorab festgehalten werden: Es handelt sich hier um ein ausgesprochen breites Feld von vielfältigen Begegnungsformen. Diese sind nur schwer kompatibel mit dem, was man sich im Allgemeinen unter Seelsorge vorstellt, ja sie stellen sich dazu gewissermaßen quer. So sind z. B. die klassischen Formen einer im weitesten Sinne als »beratend« verstandenen Seelsorge mit einem klaren Kontrakt und strukturiertem Setting, bei dem der Seelsorgepartner etwas anschauen, bearbeiten, klären will, in der Gemeinde eher selten. Demgegenüber ist der größte Teil der faktischen Vollzüge durch das Gemeindeleben mitten im Alltag vorgegeben – im Blick auf sein (all-)tägliches Geschehen, aber auch im Blick auf die sich innerhalb derselben immer wieder zeigenden Irritationen und Grenzen dieses Alltäglichen. Grundsätzlich lässt sich dabei unterscheiden zwischen nicht geplanten seelsorglichen Begegnungen und solchen, in denen der Seelsorger, die Seelsorgerin bewusst Menschen in seiner Gemeinde sucht und aufsucht, und ihnen mit einer seelsorglichen Haltung begegnet. Das beinhaltet im Einzelnen: 1. Ein großer Teil dessen, was im gemeindlichen Kontext zur Seelsorge gerechnet wird, hat den grundlegenden Charakter des Zufälligen, wie er in den Begriffen »Seelsorge am Gartenzaun« oder »Seelsorge bei Gelegenheit« zum Ausdruck kommt. Dies lässt sich mit dem Zitat einer Pfarrerin zusammenfassen: »So richtige Seelsorge in meinem Amtszimmer, bei der jemand mit mir einen Termin ausgemacht hat, das kommt kaum vor. Meine Seelsorge findet vor allem auf der Straße oder am Rande von Veranstaltungen statt.« Bereits auf dieser Ebene können zwei Perspektiven unterschieden werden: 1.1 Als Erstes ist die unendliche Vielzahl an Möglichkeiten zu benennen, bei denen der Pfarrer oder die in ihrer seelsorglichen Funktion bekannte Ehrenamtliche auf jemanden zugeht, ihn grüßt und fragt, wie es ihm geht. Dabei kann die Frage nach der augenblicklichen Befindlichkeit allgemein gehalten sein oder sich auch auf spezifische Situationen beziehen, die aufgrund einer gemeinsamen Vorgeschichte schon bekannt sind. Dies kann am Rande von Veranstaltungen, auf der Straße oder auch in Situationen geschehen, in denen die Seelsorgerin quasi privat unterwegs ist, wie z. B. beim Einkaufen. Die mehr oder weniger zufällige Begegnung bestimmt den Ort des Gesprächsangebots bzw. Gesprächs. Inhaltlich können sich – wenn die Frage »Wie geht es Ihnen?« ernst gemeint ist und das Gegenüber das auch so wahrnimmt – sehr unterschiedliche Situationen ergeben. Der größte Teil solcher Gespräche dürfte auf einer allgemeinen und eher unverbindlichen Ebene bleiben, z. B. wie es so geht und was gerade ansteht. Ein wesentlicher Teil der übrigen Begegnung dürfte mit den alltäglichen Irritationen des Alltags zu tun haben, z. B. »mein Mann hat so viel zu tun, dass die ganzen Sorgen um die Kinder bei mir bleiben«, oder »seit unser Sohn in der Pubertät ist, bringt er richtig schlechte Noten mit heim«. Allerdings kann und muss immer auch damit gerechnet werden, dass auf die Frage »Wie geht es Ihnen?« mitten im Alltag Gesprächssituationen entstehen, die die Seelsorgerin aus dem eigenen Alltag herausreißen und von ihr als »hammerhart« empfunden werden: »Ach, Sie wissen es noch nicht: Meine Frau und ich haben uns letzte Woche getrennt«, oder »meine Mutter ist ganz plötzlich gestorben«. Situationen, die dann, in der Wahrnehmung der realen und »zufälligen« Bedingungen des Settings (wie z. B. auf der Straße oder beim Verabschieden nach einer Sitzung) plötzlich eine hohe Anforderung an den Seelsorger bezüglich eigener Betroffenheit und einer entsprechenden Gesprächskompetenz stellen. 1.2 Eine Steigerung erfährt dieses Überraschungsmoment in Alltagsbegegnungen, in welchen der (haupt- oder ehrenamtliche) Seelsorger über seine gemeindliche Funktion (sein Amt) identifiziert und in dieser Funktion angesprochen, ja manchmal richtiggehend überfallen wird – ohne Rücksicht auf die augenblickliche Befindlichkeit und das konkrete persönliche Interesse. Sei es beim privaten Spaziergang, sei es in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Freibad oder über den Gartenzaun: Immer können eher »banale« Bedürfnisse nach Kommunikation und Plaudern eine Rolle spielen, nicht selten steht aber auch das Interesse im Vordergrund, etwas Ungeklärtes oder Belastendes endlich einmal zum Thema zu machen, »an den Mann zu bringen«, häufig in einer eher diffusen Form (»Haben Sie mal fünf Minuten Zeit für mich?«). Gerade bei solchen Gelegenheiten können wirklich gravierende und heftige Lebensthemen derart plötzlich präsent sein (»unser Sohn hat sich gestern das Leben genommen«), dass sie den Alltag des Seelsorgers zerbrechen, ihm zuerst einmal die Luft nehmen, und ihm dann eine ausgesprochen hohe situative und seelsorgliche Kompetenz abverlangen. All diese seelsorglichen Begegnungen (seien sie auf der Ebene alltäglicher Unterhaltung angesiedelt, seien sie Irritationen oder als gewaltsam erfahrene Einbrüche in dieses Alltägliche) müssen als Elemente des Alltags des Gemeindeseelsorgers, der Gemeindeseelsorgerin angesehen werden: Sie sind nicht planbar, sie sind keine expliziten Elemente der Organisierbarkeit des Pfarramtes, wie sie in Form eines Terminkalenders ihren exemplarischen Ausdruck findet. Sie müssen als Ausdruck der ganz normalen »Zwischensituationen« angesehen werden, als Ausdruck der Gleichzeitigkeit von Leben und Arbeiten in der Gemeinde. »Seelsorge bei Gelegenheit« geschieht im Alltäglich-Gewohnten; sie ist eine Form der Widerfahrnis auf Grund von Präsenz, Offenheit und Interesse, sowie der Erkennbarkeit als Pfarrer, Seelsorgerin. In ihrer Bedeutung lassen sie sich aber nicht auf die kurze Begegnung reduzieren. Es ist immer damit zu rechnen, dass man sich im Kontext der Gemeinde wiedertrifft. Und dieses Wiedertreffen wird durch das geprägt sein, was in der »Seelsorge bei Gelegenheit« geschehen ist. Gerade die Nicht-Kompatibilität dieser Form der Seelsorge mit den üblichen Organisationsmodi der Gemeindearbeit – verbunden mit einer gewissermaßen selbstverständlichen »Normalität« – dürfte ein nicht zu unterschätzendes Element ihrer Nicht-Beachtung sein.2 Im Sinne der kaum thematisierten Selbstverständlichkeiten des pastoralen Alltags unterfüttert sie die im nächsten Abschnitt noch genauer zu betrachtende Grundsatzfrage, ob es sich hier im Blick auf die Situationsbezogenheit wie auch auf die größtenteils alltäglichen Inhalte eigentlich um »richtige Seelsorge« handelt. Dazu ein Beispiel aus der Praxis: Im Kontext seiner kleinstädtischen Gemeinde begegnet Pfarrer N. beim Einkaufen im nahe gelegenen Supermarkt regelmäßig einem Mann aus der Nachbarschaft. Zu diesem bestehen sonst keine kirchlichen Kontakte. Meist plaudern sie ein wenig. Eines Tages fällt dem Pfarrer auf, dass die selbstverständliche Kontinuität dieser Begegnungen unterbrochen ist. Mehrfach hat er besagten Mann nicht mehr getroffen. Er will sich gerade aufmachen, einmal nachzufragen, was denn sei, da erreicht ihn ein Anruf der Ehefrau dieses Mannes, dass dieser ganz plötzlich verstorben sei. Die Frau bittet Pfarrer N. eindringlich, die Beerdigung doch persönlich zu übernehmen: »Wissen Sie, das war ein besonderer Wunsch meines Mannes, das hat er ein paar Mal gesagt: Wenn ich mal sterbe, dann möchte ich von Pfarrer N. beerdigt werden, denn das ist einer, mit dem hab ich immer über alles reden können, was mir wichtig war.« Und erst aus der Perspektive dieses Satzes wird Pfarrer N. im Rückblick bewusst, dass sich in ihren Begegnungen und in der Kontinuität ihrer Gespräche beim Einkaufen anscheinend mehr ereignet hat, als er selbst wahrgenommen hatte. Etwas, das für diesen Mann anscheinend so wichtig war, dass es für ihn selbst über seinen Tod hinaus Bedeutung hatte: »Mit dem habe ich immer über alles reden können, was mir wichtig war.« 2. Gegenüber all diesen unendlich vielfältigen, ungeplanten Begegnungen im Kontext der unmittelbaren Gemeindepraxis (mit der Bandbreite von alltäglich-banal bis höchstdramatisch) gibt es natürlich auch Formen der Seelsorge, die als geplante und bewusst initiierte Elemente der Gemeindepraxis durchaus im offiziellen Terminkalender ihren Ort haben können. Sieht man dabei einmal von den bereits benannten, sicher nicht den Normalfall des Gemeindelebens repräsentierenden, terminlich fixierten Besuchen in der Sprechstunde des Pfarrers, der Pfarrerin ab,3 so handelt es sich hier vor allem um seelsorgliche Begegnungen in der Geh-Struktur, die ihren exemplarischen Ausdruck in den verschiedenen Formen des Hausbesuchs finden. Diese können nach den Anlässen unterschieden werden, denen sie geschuldet sind: Von einem allgemeinen Hausbesuch im Sinne von »Ich möchte Sie einmal (näher) kennenlernen«, über die Besuche »aus Anlass einer spezifischen persönlichen oder familiären Situation« (wie z. B. Krankenbesuch, Besuch in Krisensituationen, Kasualbesuch) bis hin zum Geburtstagsbesuch, bei dem es zuerst einmal um Gratulation und Überbringen der Segenswünsche der Gemeinde geht. Bereits an dieser Stelle kann festgehalten werden, dass auch diese bewusst initiierten Seelsorgebesuche nicht selten mit einer gewissen Ambivalenz behaftet sind: Aus der Perspektive des gemeindebezogenen Terminkalenders wirken solche Besuche nicht selten als Hemmnis, wenn nicht gar als kontraindiziert. Sofern...