E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Draesner Schwitters
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-25509-1
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-641-25509-1
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie fängt man eine Zukunft an, die eigentlich schon aufgehört hat? Mit einem Streifen Meer zwischen sich und seiner Heimat, seiner Sprache, sich selbst? Kurt Schwitters ist 49, als ihn die Nationalsozialisten zur Flucht aus Hannover zwingen. Sein Erfolg, Werk, Besitz, die Eltern und seine Frau Helma bleiben zurück. Die Kunst weicht der Kunst des Überlebens. In Norwegen, London und endlich dem Lake District beginnt Schwitters‘ zweites Leben in fremder Sprache. Wantee, die neue Frau an seiner Seite, hält ihn auf Kurs und seinen Kopf über Wasser, selbst als der Wortkünstler verstummt. Im Merzbau hat Schwitters einen anderen Weg gefunden, um Himmel und Heiterkeit, das Funkeln der Wiesen und die Durchsichtigkeit der Luft einzufangen. Mit irrwitziger Disziplin, bis zur Erschöpfung. Wer ihn dabei beobachtet, begreift: Kunst bildet die Welt nicht nach. Sie übersetzt sie in Formen, die uns berühren.
In ihrem Roman folgt Ulrike Draesner dem Schriftsteller und bildenden Künstler Kurt Schwitters ins Exil. Es sprechen Kurt, seine Frau, sein Sohn, seine Geliebte. In einer virtuosen Mischung aus Fakten und Fiktion entsteht das Panorama einer Zeit, in der angesichts einer brennenden Welt neu um Freiheit und Kultur gerungen wird. Ein tiefgründiger, dabei humorvoller Roman über die Kraft der Kunst, darüber, wie sie entsteht und was sie vermag.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1 12. Oktober 1936, Waldhausenstraße 5, Hannover
Dass ein sechster Freund gesagt hätte, Ich sollte gesagt haben, Was ich nicht gesagt habe, So sage ich hier getrost an alle Freunde, Ich hätte gesagt, Ich hätte nichts gesagt. Kurt Schwitters, Wenn mir einer sagte Also doch, das Geräusch kommt näher. Eben noch lag die Straße still in der Vormittagssonne. Erneut unterbricht er die Arbeit und blickt in den Spiegel am Fensterrahmen. Ein grauer Lastwagen. Scheint etwas zu suchen, so langsam wie der fährt. Kein Firmenname, keine Aufschrift. Jeder macht Werbung, manche nicht. Er hat Logos für die Firma Pelikan entworfen, für die Stadt Hannover. Er weiß, wovon er spricht. »Ich putz mal den Bären«, ruft er nach hinten in den Flur. Er steht in der Haustür, den Eisbärenkopf unterm Arm. Zögert. Im Haus hört ihn niemand, Helma ist einkaufen. Draußen hört man ihn hoffentlich umso besser. Putzen will er nichts. Der Bär ist ein Vorwand, bizarr genug, um abzulenken. Das Motorengeräusch ist verstummt. Vom Eingang führen drei Stufen hinunter auf den Steinplattenweg. Vergebens versucht er, durch den buschigen Flieder die Straße entlangzuspähen. Gegenüber fegt die alte Görschen das Trottoir, dabei sieht sie ihrerseits wie ein Besen aus, stangendürr, weißer Borstenkranz obenauf. Wäre selbst in dem kleinen Döhren, gelegen vor dem nichtgroßen Hannover, in jüngster Zeit nicht so viel umgezogen worden, wäre es weniger staubig. Am Gartentürchen pustet Kurt dem Kopf pflichtschuldig über den elfenbeinfarbenen Pelz. Der Wagen hat gehalten, ein paar Häuser weiter links. Vier Männer in Arbeitsoveralls klettern aus der Kabine. Ein fünfter, im Anzug, klingelt. Der trägt keine Möbel, der trägt die Verantwortung. Der sagt: Sie ziehen heute aus. Wussten Sie das nicht? »Herrlicher Tag«, ruft Kurt der Görschin zu. Die Oktoberluft schwimmt von Farben. Das Licht ist dunstig. Sehr dunstig. Man sieht Silhouetten, sieht Schatten. Gesichter verschwimmen. Sie verstecken sich. Im Sommer 1933 haben sowohl die Stadt Hannover als auch Pelikan ihn entlassen. Man bedauere diesen Akt sehr, sagte man, und erlaubte dabei dem eigenen Gesicht fortzuschwimmen. Seine Arbeit sei hervorragend. Aber er müsse verstehen. Er verstand: In der großen Villa Pelikan machte man gute Stimmung nach oben. Sicher war sicher, und schade war tot. Nun las, sägte, hämmerte und schrieb er auch vormittags auf der Plattform, die er sich in die hintere Ecke des MERZbaus gezimmert hatte. Den Spiegel am Fenster hatte er so gedreht, dass er, wenn er an seiner Arbeit saß, die Straße sehen konnte, ohne gesehen zu werden. Überrascht werden wollte er nicht. Der Bau wuchs nur mehr nach innen. Wuchsen so nicht auch Gehirne? Das war ein Wunsch. Gehirn fehlte in diesem Land überall. Säulen und Nischen in einer Höhle in einer weiteren Höhle auf dem Rücken einer Höhle. Grotte: bald. Collage: ja, dreidimensional. Eine Skulptur, die man betreten konnte. Dynamisch, komisch, fies. Seit bald zwei Jahrzehnten arbeitete er daran. Der Bau war seine Heimstatt, sein Heiligtum, gemacht aus allem, was Mann-Mensch-MERZ in die Finger fiel. Seine irrste Idee. Seine brillanteste. Seine schönste. Statt zu fegen, starrte nun auch die Görschin die Straße hinab. Kurt drehte den Eisbären um, so dass der Scheitel nach unten zeigte, und tat, als inspizierte er das Halsloch. Seine Hand passte mühelos durch den harten Ring mit dem abgegriffenen Fellbesatz. Der Bär hatte keine Zunge mehr. Die Zähne waren glatt und kühl. Ehe man sich versah, steckte man fest. In einem Mund, aus dem nichts mehr drang. Rasch zog er die Finger aus dem Loch. Der Anzugmann war verschwunden. Die Arbeiter hatten die grauen Ladetüren geöffnet. Seit Wochen ließ Helma die Englischlehrerin heraushängen, als mache ausgerechnet das ihn williger, in die USA zu emigrieren. »Nach Amerika wollte ich schon als Kind«, sagte sie. Ihrer Meinung nach hatte er Shininglaunen, also Künstleranwandlungen, nun gut, Krisen, Zweifel, Abbau- und Aufbauphasen, und zu seinem Glück auch eine Frau, die ihm den Kopf geraderückte, nämlich sie. Dazu schenkte sie ihm eine Dose Schuhcreme, Lederfett-Extraglanz. Von dem runden Metalldeckel grinste ein Pferdekopf mit Menschengesicht und Sternchenaureole, in der in hübschester Schulschrift Shining! stand. »Shining reist«, sagte sie, »Shining ist international.« »Onkel Schwitters!« Die Görschenenkelin rannte über die Straße auf ihn zu. Kurt stellte den Kopf in das Gras am Zaun. Im Laderaum des Lkw hingen Gurte von Haken, Decken lagen bereit. Wer so vorfuhr, rechnete mit Werten. Oder sprach man schon von Beute? Kastanien hielt die Kleine ihm hin, Streichhölzer ohne Zündköpfchen. Die Blüten der Dahlien am Zaun waren so groß wie ihr Kopf. Die Blumen schienen aus Lippen gemacht. Er selbst schien aus Illusionen gemacht: Lichtfäden, Spinnenfäden, buntes Laub – so schön, hier zuhause zu sein. Zwei Griffe in die Hosentaschen, ein Messer, der Drillbohrer. Er ging in die Hocke, die Kleine machte es ihm nach. Kurt bohrte die erste Kastanie an. Das Mädchen war vier, vielleicht fünf. Die nassen Locken fielen ihr ins Gesicht. »Ich war schon schwimmen«, sagte sie. »Wir haben Herbst. Ist das nicht zu kalt?« »Oma geht jeden Tag.« Über die Hildesheimer summte der Verkehr. Alte Bäume, dahinter der See. Nigel-nagel-maschsee-hitlerneu. Der Führer erschuf die Welt. Da war ein See eine Kleinigkeit. Naziwunder, volksgesunder Erholungsgau. Zwei Jahre lang hatte man gebaggert, geschaufelt, Staub aufgewühlt. Jetzt war das Loch befüllt. Man ertüchtigte sich. Wunderglaube, Heilgehirn. »Hart«, sagte die Lütte, »hart wie ne Wolke.« Meinte sie den Eisbärenkopf? Sie hüpfte davon. Drei Kastanientiere nahm sie mit, das vierte, für dessen Vorderbeine die Hölzchen nicht gereicht hatten, schenkte sie ihm. »Heil Hitler, danke«, rief die Görschin herüber. »Ich warte auf meine Frau«, rief er zurück. Er log möglichst selten. Auf einen unhörbaren Pfiff hin verschwanden die Arbeiter durch das schmiedeeiserne, hohe Gartentor der Tossionis. Denn bei den Tossionis, vor dem ältesten und prächtigsten Bürgerschlösschen der Straße, hatte der Wagen gehalten. Türmchen mit Kupferdach, Fachwerk, Erker, Karyatiden, ein Traum im Stil der vergangenen Zeit. Kurts Eltern hatten hart gearbeitet und auf die gleiche Weise das 19. Jahrhundert weitergeträumt. Kurt war 14 gewesen, als die Döhrener Villa fertig wurde. Er liebte das Haus. Unter Kollegen wurde er für seine Ortstreue verlacht: Genie im Gehrock, Muttersöhnchen, Spießer, Frauenmann. Dabei war es nur das: Wie viele, die im Geheimen in Anarchie lebten, schätzte er nichts mehr als äußere Ordnung. Sie gab ihm Halt. Dank ihrer konnte er alles andere loslassen. Vor der Front des seit 35 Jahren vermoosenden, von Jasmin, Flieder und einem Kurt widerlichen, von Helma indes geliebten Forsythienbusch umwucherten Eingangs der Nummer 5 fiel heller Sonnenschein auf die vormittagsstille Straße. Vormittagsstill. So hätte es sein sollen. Im rückwärtigen Teil des Grundstückes warfen hohe Buchen und Eichen einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Steingang, der zum Wassergraben zwischen dem Garten und dem stadteigenen Wald hinunterführte, dann auf einen kleinen runden Platz mit französischem Bistrotisch und Stühlen aus weiß lackiertem Metall, wo H&H, Henny und Helma, Mutter und Frau, eingefasst von Rhabarberstauden zur einen Seite und hochwachsenden Fingerhüten und Stockrosen zur anderen, im Sommer gern saßen und nähten. So war es: Einige 20 Schritte weiter nach Osten lief in Fortsetzung der jüngst aufgemauerten Garage, in der statt eines Wagens Gartenutensilien und Kurts Baukram verstaut wurden, eine zweimannhohe, in feinblättrigem Efeu stehende Steinmauer. Sie begrenzte das Gelände. In ihrem Efeu war ein weiterer Spiegel versteckt. Die Mauer endete wie hier üblich einen Meter vor dem Wassergraben, so dass sich ein ungefährlich breiter Trampelpfad ergab. Auf ihm waren früher lediglich die Kinder zwischen den Gärten hin und her gehuscht. So hätte es bleiben sollen. Hinter der Mauer ragte der lächerlich blitzende, weil frisch vergoldete Wetterhahn der Hasenvilla auf, die bei den Schwitters so hieß, seit Familie Löffel sie bewohnte. So war es: Mit den Löffels kommunizierte man extra-stramm. Und so: Auf der gegenüberliegenden Seite bildete ein unspektakulärer Drahtzaun die Grenze zur Nummer 3, eine offene Flanke ausgerechnet dort, wo das 20. Jahrhundert in Gestalt des MERZbaus begann. Zur Linken hatte Helma einen Kräutergarten angelegt, den ein Hufeisen von Salbei und Zwergwacholder umschloss. Hufeisen waren Kurt wichtig. Glückszeichen waren Kurt wichtig. Katzen, Pfennige und Öre zählten dazu. Auf das glückliche Pflanzenhufeisen zeigte die Spitze einer mehr als zwei Kilo schweren Eisenpyramide, die, gehalten von einem am Balkon im ersten Stock befestigten, neuartigen, kaum sichtbaren Plastikdraht, frei über dem Beet zu schweben schien. »Kommt die nicht irgendwann runter«, sagte Helma. »Genau«, sagte er. Hier wurde an Damokles gedacht. Der hatte es sich auch überlegt: teilnehmen oder fliehen? Was man eben so »überlegen« nannte. Freiwillig war anders. An dem Boskop, der von den Vorbesitzern her auf dem Schwitterschen Grundstück stand und eine verblüffend schiefe Höhe erreicht hatte, hing noch Ernsts Schaukel. Das Brett, an...